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Da geht er hin, der Sohn - und nun? Wird es jetzt langweilig im leeren Nest?

© dpa-tmn

„Empty-Nest-Syndrom“: Wenn die Kinder ausziehen

Die Beziehung zwischen den Generationen war noch nie so gut wie heutzutage. Was es für Eltern noch schwerer macht, wenn die Kinder ihre eigenen Wege gehen. Ein Essay.

Der junge Mann hat seinen Eltern gerade mitgeteilt, dass er ausziehen möchte. Und nun sieht Florent-Claude einen „flüchtigen, aber eindeutigen Ausdruck der Erleichterung“ über das Gesicht seiner Mutter huschen. Noch Jahrzehnte später erinnert sich der Held von Michel Houellebecqs Roman „Serotonin“ an die „unverhohlene Freude“ seiner Eltern bei der Ankündigung dieser Veränderung.

„Ihr erster Gedanke war, dass sie endlich wieder zu zweit sein würden.“ Die Lieblosigkeit seiner Erzeuger, die ihr einziges Kind so freudig ziehen lassen, verstört den jungen Mann. Auch Leserinnen und Leser mag sie irritieren. Die meisten Eltern fühlen schließlich ganz anders, wenn ihre Kinder ausziehen.

Wie eine 52-Jährige, die mir bei Recherchen für mein Buch zum Thema schlicht und ergreifend sagt: „Ich war richtig traurig, als meine Tochter mir mitteilte, dass sie demnächst ausziehen wollte.“ Das Leben mit dem Kind, nach dessen Geburt sich ihr ganzes Leben umkrempelte, war für sie da längst zur Normalität geworden.

Als moderne Mutter, die alles darangesetzt hat, ihre Kinder zur Selbständigkeit zu erziehen, kommentiert sie ihre eigene emotionale Befindlichkeit angesichts dieser Ankündigung der Tochter: „Darüber war ich selbst erstaunt: Ich musste mit einem Gefühl umgehen, das ich so gar nicht haben wollte.“ Der Verstand rebellierte gegen die Emotionen.

Der Auszug des eigenen Kinds kann Trauer auslösen

Richtig krank vor Kummer wird allein durch den Auszug der Kinder keine(r). Und darum sei das sogenannte „Empty-Nest-Syndrom“ auch keine eigene Diagnose, sagt die Ludwighafener Psychotherapeutin Christiane Wempe, die selbst zum Thema Auszug der Kinder aus dem Elternhaus geforscht hat.

Sie möchte die Übergänge nicht dramatisieren, auch wenn sie Menschen aus der Bahn werfen können – aber nur für eine begrenzte Zeit. „Der Auszug eines Kindes, der ja zu den ganz normalen Übergängen im Lebenslauf gehört, wird von psychisch gesunden Menschen verkraftet“, sagt sie und kritisiert, dass es die Tendenz gebe, „normale Etappen des Lebens zu pathologisieren“.

Nicht alles darf überdramatisiert werden

Was diese Normalität dieser Etappe betrifft, so kann praktisch jeder Erwachsene auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. „Ausgezogen ist man schließlich selbst auch“, sagt Wempe. Und das möglicherweise dereinst viel früher, als es heute die eigenen Kinder tun.

Denn viele Angehörige der 68er- und Babyboomer-Generation wollten vor allem eines: So schnell wie möglich weg aus dem als spießig und engstirnig empfundenen Elternhaus, in dem ständig über Politik gestritten wurde und die Freundin oder der Freund nicht im Jugendzimmer übernachten durfte.

Heutzutage ziehen Kinder später von Zuhause aus

Zwischen 1972 und 2016 hat sich das offensichtlich gründlich geändert: Der Anteil der Menschen Mitte 20, die noch bei ihren Eltern wohnen, hat sich in diesem Zeitraum jedenfalls fast verdoppelt. Er stieg von 20 auf fast 40 Prozent.

Und Daten des Statistischen Bundesamts zeigen, dass der Trend in den 1990er Jahren nicht zum Stillstand kam: Erwachsene Kinder ziehen heute drei bis vier Jahre später zu Hause aus als im Jahr 1990. Im Durchschnitt packten sie 2017 mit 23,7 Jahren ihre Sachen, wobei die jungen Frauen mit 22,9 schneller waren als die jungen Männer mit 24,4 Jahren.

Ersetzen „Schneepflug“-Eltern die „Helikopter“-Eltern?

Tatsächlich ist das Verhältnis der Generationen heute so harmonisch wie kaum jemals zuvor: Mütter und Töchter tauschen Klamotten, Väter und Söhne stehen gemeinsam in der Küche und kochen, viele Schülerinnen und Schüler werden von ihren Eltern zu den Fridays-for-Future-Demos begleitet, einige sogar in die Einführungsvorlesung an der Uni.

Kommen nach den „Helikopter“-Eltern inzwischen die „Schneepflug-Eltern“, die auch ihren erwachsenen Kindern alle Wege zu ebnen versuchen? Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann, Mitautor mehrerer Shell-Jugendstudien, spricht ganz generell von „Konsens statt Auflehnung“.

Eltern freuen sich über selbstständige Kinder

Das erschwere die Ablösung. Der Philosoph Dieter Thomä von der Universität St. Gallen erklärt, dass zwischen Eltern und Kindern schon früh „ eine Art Ferne“ bestehe, „das beginnt nicht erst, wenn sie weg sind.“. Thomä ist Autor des Buchs „Eltern. Kleine Philosophie einer riskanten Lebensform“, Vater von zwei erwachsenen Kindern und meint das positiv: Schon die Kleinsten strebten schließlich danach, etwas ganz allein zu können.

„Und wir Eltern freuen uns darüber, wenn sie selbständig werden, auch wenn wir noch alle Hände voll mit ihnen zu tun haben. Das alles hat schließlich ein natürliches Ziel.“ Thomäs Standpunkt ist denkbar klar: „Mit Eltern, die sich im Empty-Nest-Syndrom suhlen, habe ich kein allzu großes Mitleid“, sagt er.

Trauer, Wehmut und Stolz

„Das Verlustgefühl ist zwar psychologisch nachzuvollziehen, aber es ist falsch. Es ist ein Missverständnis dessen, was Erziehung und Elternschaft ausmacht.“ Mütter und Väter, deren Kinder flügge werden, verbindet, dass sie einen „zentralen lebenszyklischen Ablösungs- und Loslösungsprozess“ durchleben.

So nennt es die Schweizer Psychologin und Lebenslaufforscherin Pasqualina Perrig-Chiello. Die nüchterne fachwissenschaftliche Formulierung mag für viele tröstlich sein, zeigt sie doch, dass die gemischten Gefühle, die Trauer und die Wehmut, die Eltern bei allem Stolz auf ihre selbständigen Kinder bei deren Auszug befallen können, nichts Besonderes oder gar Pathologisches sind.

Alleinerziehende Elternteile fühlen sich häufiger besonders einsam

Viele Erwachsene in den mittleren Lebensjahren erleben mehrere „lebenszyklische Ablösungsprozesse“ gleichzeitig: Möglicherweise werden in der Zeit, in der die Kinder zu Hause ausziehen, die eigenen Eltern pflegebedürftig, oder man muss mit deren Tod zurechtkommen und mit der Tatsache, nun keine Generation mehr „über sich“ zu haben.

Für Eltern, die ihre Kinder erst spät bekommen haben, fällt deren Auszug womöglich mit dem Eintritt in den Ruhestand zusammen: Sie selbst verbringen nun mehr Zeit zu Hause, während die Kinder dort in Zukunft Gast sein werden. Wer alleinerziehend war, fühlt sich nun vielleicht besonders einsam. Elternpaare müssen sich in der Zweisamkeit neu finden.

Oft fällt der Auszug der Kinder in ereignisreiche Phasen

Frauen kommen möglicherweise genau jetzt in die Wechseljahre. Auch wenn längst nicht alle unter den Folgen der hormonellen Umstellung leiden, sind sie doch mit dem Ende ihrer Fruchtbarkeit konfrontiert. Sie wissen, dass sie keine weiteren Kinder mehr bekommen werden.

Da geht es den Vogeleltern, deren leeres Nest als Metapher für die Phase des Lebens herhalten muss, in der Menschenkinder zu Hause ausziehen, anders: Sie bauen im nächsten Jahr neu und bekommen erneut Nachwuchs. Psychologen und Mediziner in den USA entlehnten in den 1960er und 70er Jahren das Bild aus der Vogelwelt trotzdem zur Beschreibung eines Stadiums von Menschenfamilien.

Plötzlich ist das Haus so leer

Es sollte einen Mangel verdeutlichen. Der Weg zur Diagnose war also nicht weit, und so kam das „Empty-Nest-Syndrom“ in die Welt. Als Syndrom bezeichnen Mediziner ein Bündel von Symptomen, die oft gemeinsam auftreten und auf eine Krankheit hinauslaufen.

Das Empty-Nest-Syndrom definierte die Psychologin Dolores Cabic Borland als „maladaptive Antwort auf den nachelterlichen Übergang, die durch Reaktionen auf Verlust stimuliert wird“. Der Begriff hat seit Beginn der 1970er Jahre die US-amerikanische Medizin- und Psychologie-Szene schnell erobert, obwohl wenige empirische Studien erst später folgten.

Auch Erich Fromm beschäftigte die Eltern-Kind-Beziehung

Böse Zungen behaupten, dass er nicht ohne kommerzielle Hintergedanken so populär wurde. Schließlich kommt er aus einer Zeit, in der Tranquilizer aus der pharmakologischen Gruppe der Benzodiazepine und moderne Antidepressiva ihren Siegeszug antraten.

Hilfreicher als Pillen sind für die „verlassenen“ Eltern dabei wahrscheinlich Gedanken aus Erich Fromms Longseller „Die Kunst des Liebens“. In dem Buch geht es nämlich keineswegs nur um Paarbeziehungen. Der Autor beschreibt auch die enge Bindung, die zwischen einem Erwachsenen und einem Baby entsteht und die im besten Fall dazu führt, dass das Kind beginnt, das Leben zu lieben.

Das Wesen der Mutterliebe

Wo Fromm von den Müttern spricht, setzen wir heute an vielen Stellen den modernen Zeit gemäß das Wort Eltern ein. „Es scheint, dass das Bewundernswerte an der Mutterliebe nicht in ihrer Liebe zum Säugling, sondern in der Liebe zum heranwachsenden Kind liegt.“ Die Liebe zum Baby habe zumindest teilweise etwas „Instinktives“, so der Psychoanalytiker.

Zugleich finde man in ihr „auch das Element der narzisstischen Liebe“: Die „Vernarrtheit“ gründe bisweilen auch auf dem Wunsch nach Macht und Besitz. „Das eigentliche Wesen der Mutterliebe liegt darin, für das Heranwachsen des Kindes zu sorgen, und das bedeutet, auch für die Trennung von Mutter und Kind.“

Das Gegenteil einer Paarbeziehung

Das ist ein grundlegender Unterschied zur Liebe in einer Paarbeziehung. Denn dort hat es eine andere Funktion, „vernarrt“ zu sein. Es stellt Nähe her, die zuvor nicht da war: „In der erotischen Liebe vereinigen sich zwei Menschen, die bisher getrennt waren; in der Mutterliebe dagegen werden zwei Menschen, die vorher eins waren, getrennt.“

Und das müssen Eltern nicht nur zähneknirschend akzeptieren, sondern wirklich wollen. Erich Fromm gesteht zu, dass es nicht einfach ist: „Die Mutterliebe für das heranwachsende Kind, die Liebe, die nichts für sich selbst will, ist vielleicht die schwierigste Form der Liebe, die es überhaupt gibt.“

Männer zeigen Traurigkeit oft weniger

Und das ist sie heute für Mütter wie Väter. Schon Christiane Wempes Studie aus dem Jahr 1997 zeigte in dieser Hinsicht keine großen Unterschiede. Dass Männer weniger unter dem Auszug der Kinder leiden, wie vielfach angenommen wird, kann sie nicht bestätigen. Zwar gaben bei oberflächlichen Befragungen mehr Väter an, der Auszug habe für sie keine große Bedeutung, der Nachwuchs sei schließlich „nicht aus der Welt“.

Doch in ausführlichen Interviews kamen die Gefühle der Väter deutlich zum Ausdruck. „Männer zeigen ihre Traurigkeit nur oft weniger“, gibt die Psychotherapeutin zu bedenken. „Viele Männer werden von ihren Gefühlen überrascht“, sagt auch die Schweizer Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello.

Auch Kinder haben mit Ablösung zu kämpfen

Man sollte aber angesichts des Gefühlssturms, der Väter und Mütter beutelt, nicht vergessen, dass auch die jüngere Generation mit der Ablösung zu kämpfen hat. Viele junge Leute lassen zu Hause ein „Empty Nest“ zurück und kommen zugleich selbst in eines: Sie müssen sich in einem leeren Zimmer, einer kleinen Wohnung, in einer neuen Stadt, in der ihnen noch die Freunde fehlen, ganz auf sich gestellt erst einmal einleben.

Andere sammeln auf Reisen faszinierende Erfahrungen – und müssen doch auf den größeren Erfahrungsschatz und in einigen Fällen auch auf eine Finanzspritze der Eltern zurückgreifen, wenn sie in eine brenzlige Situation geraten. Nicht wenige ziehen auch gern als „Bumerang“-Kinder wieder für eine Zeit zu Hause ein.

Eltern behalten ihre wichtige Funktion

Die Ablösung von den Eltern ist eine Entwicklungsaufgabe. Doch dieser Prozess ist auch mit Ängsten verbunden. Was zuverlässig bleiben wird, ist der Platz der Eltern und der Kinder in der Abfolge der Generationen. Für die Eltern gehört zum bitteren Beigeschmack des Ablösungsprozesses ihrer Kinder das Bewusstsein, selbst bald zu den Alten zu gehören, obwohl man sich selbst noch als fit und mitten im Leben stehend empfindet.

Zum Glück für die Kinder, die nun flügge sind, aber noch die eine oder andere Unterstützung gebrauchen können. Und die spätestens dann mehr davon erbitten, wenn sie selbst Kinder haben. „Es ist die Leistung der Eltern, zwischen den Kindern und dem Tod zu stehen“, sagt der Berliner Philosoph, Buchautor und Vater Wilhelm Schmid.

Auch ohne Schulbrote zu schmieren und den Schlaf ihrer Kinder zu bewachen, behalten Eltern eine wichtige Funktion. Dass eine gute Beziehung nicht an ein gemeinsames Dach über dem Kopf gebunden ist, wissen wir ohnehin längst.

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