zum Hauptinhalt
Das neue Raketenabwehrsystem TLVS soll mehr kosten, als die Bundesregierung ursprünglich eingeplant hat.

© bernhardhuber.com

Exklusiv

Eine neue Raketenabwehr für Deutschland?: Die Hersteller fordern eine Entscheidung

Seit Jahren denkt die Bundesregierung darüber nach, das Raketenabwehrsystem auszutauschen. Jetzt drängen die Hersteller auf eine Entscheidung. Es geht um Milliarden.

Die Entscheidung, ob Deutschland ein neues Raketenabwehrsystem bekommt, rückt näher. Derzeit nutzt die Bundesrepublik das System „Patriot“ des US-Rüstungskonzerns Raytheon. Doch die Anzeichen mehren sich, dass die Bundesregierung künftig stattdessen auf eine europäisch-amerikanische Zusammenarbeit setzt. Derzeit prüft das Beschaffungsamt der Bundeswehr das dritte Angebot der Bietergemeinschaft der Airbus-Tochter MBDA und Lockheed Martin für ein neues sogenanntes Taktisches Luftverteidigungssystem (TLVS). Nun pochen die Firmen auf baldige Klarheit.

„Es ist Zeit für eine Entscheidung“, sagte Thomas Gottschild, Geschäftsführer von MBDA Deutschland, dem Tagesspiegel. „Wenn wir weiter warten, ist eine Verschiebung quasi mit einem Abbruch gleichzusetzen.“ Millionen an öffentlichen Investitionen wären damit umsonst gewesen. Ziel sei ein Vertragsabschluss im zweiten Quartal nächsten Jahres, sagt Gottschild. „Wegen der anstehenden Wahlen würden bei einer weiteren Verzögerung viele Fragezeichen im Fortgang entstehen.“ Beruhigt wäre er wohl erst, wenn das Projekt sich im kommenden Haushalt des Bundes wiederfinden würde.

Tatsächlich zieht sich die Debatte über ein neues Raketenabwehrsystem schon seit Jahren. Die Angebotserstellung läuft seit fünf Jahren; 100 Millionen Euro hat MBDA Deutschland bislang in dieses Thema investiert. Die Entwicklung der hier verwendeten Technologien, das sogenannte Medium Extended Air Defense System (MEADS), hat Deutschland, Italien und die USA laut Gottschild rund vier Milliarden Euro gekostet. Regierungskreisen zufolge dürften sich die Kosten am Ende sogar auf acht Milliarden summieren. Es ist damit schon jetzt eines der teuersten Rüstungsprojekte der vergangenen Jahre. Der Bundesrechnungshof hatte diese Kostenexplosion schon im Frühjahr 2019 kritisiert.

Das Bundesverteidigungsministerium lobt das neue System

Gleichzeitig wird das TLVS in Militärkreisen hochgelobt. Es sei ein System des digitalen Zeitalters, heißt es; von einem „Fähigkeitssprung gegenüber heutigen marktverfügbaren Systemen“ ist im Bundesverteidigungsministerium die Rede. Es sei schneller einsatzbereit, biete besseren Schutz und sei auch mit anderen Abwehrsystem kombinierbar, so die Argumente der Befürworter.

Hinzu kommt eine industriepolitische Komponente. Neben dem Vorteil, nicht von US-Technik abhängig zu sein, hebt Gottschild die Bedeutung für die deutsche Wirtschaft hervor: „Über 80 Partnerunternehmen sind am Programm beteiligt, der Großteil in Deutschland – überwiegend mittelständische Unternehmen, die im Bereich Vernetzung, Cyber-Security, Radar, Luft- und Raumfahrttechnik arbeiten.“ Insgesamt würden rund 6000 Menschen an dem System arbeiten. Gerade mit Blick auf die neuesten russischen Waffensysteme spricht Gottschild zudem von „neuen Bedrohungen“, für die nur TLVS einen adäquaten Schutz biete. „Es dient dem Schutz der Zivilbevölkerung und von Soldaten im Einsatz“, sagt Gottschild. „Darüber hinaus übernimmt Deutschland Verantwortung für Sicherheit und Verteidigung unserer Nachbarn.“

Raytheon will lieber das alte System erweitern

Doch die Konkurrenz gibt sich noch nicht geschlagen. Raytheon wirbt dafür, das Patriot-System zu erweitern und an neue Bedrohungslagen anzupassen. „Wir sind überzeugt, dass das Next Generation Patriot weitaus weniger kosten wird als das Angebot von MBDA und Lockheed Martin“, teilt der US-Konzern dem Tagesspiegel mit. Man sei zuversichtlich, dass die deutschen Patriots schrittweise modernisiert werden können, ohne das System als Ganzes ersetzen zu müssen. Was die Technologie angeht, setzt Raytheon auf die sogenannten „Lower Tier Air and Missile Defense Sensors (LTAMDS)“, die die USA im kommenden Jahr testen wird. Die Bundeswehr wird Teile davon in ihr Patriot-System integrieren können.

Deutschland arbeitet seit vielen Jahren mit dem Patriot-System, ebenso wie zahlreiche andere Nato-Staaten auch. Auch wenn MBDA betont, dass TLVS damit kompatibel ist, sieht Raytheon hier doch einen Punkt auf seiner Seite. Und auch industriepolitisch sehen sich die Amerikaner nicht im Nachteil. „Mehr als 65 Prozent einer zukünftigen, Patriot-basierten Architektur für ein taktisches Luftverteidigungssystem wären deutscher Herkunft“, heißt es auf Nachfrage. Das würde „tausende Arbeitsplätze in über 100 deutschen Unternehmen“ schaffen.

Im Bundesverteidigungsministerium bittet man um Geduld. Denn Patriot steht noch bis 2030 zur Verfügung. Zudem hat die Bundeswehr in den vergangenen Monaten genug Raketen und Upgrades geordert, so dass kein akuter Handlungsbedarf besteht. „Nur im Falle des Abbruchs des laufenden Vergabeverfahrens kämen alternative Bieter in Betracht“, betont man mit Blick auf das MBDA- und Lockheed-Angebot allerdings. Dessen Auswertung liege voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres vor. Thorsten Mumme

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false