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Alles dreht sich ums Auto, in der Stadt, und in den riesigen Parkplatzsilos auf dem VW-Gelände.

© Reuters

Eindrücke aus der Autostadt: Nur wegen VW gibt es Wolfsburg

Am Mittellandkanal haben sich Bürger und Politiker auf die Skandale bei Volkswagen eingestellt. Krisen gehören dort zum Lebensgefühl. Das sagt der Bürgermeister. Und stellt sich auf Zeiten mit viel weniger Geld ein.

Bevor Werner Reimer sich mit Fremden verabredet, stellt er in aller Regel folgendes klar: Nur ein Teil von ihm komme dafür in Frage. Der nördlich des Mittellandkanals tätige oder der im Süden. Beides zusammen gehe nicht. So hält er es seit Jahren. Man kann entweder den Politiker Reimer treffen, der für die CDU im Wolfsburger Kommunalparlament sitzt. Oder Reimer, den Vorsitzenden des MTV Vorsfelde, des größten Sportvereins der Stadt. Vollkommen ausgeschlossen indes sei es, den Volkswagen-Angestellten Reimer zu sprechen. Das hat er sich einmal geschworen.

Politiker im Spagat

„Ich muss anderen immer sagen“, sagt Reimer, „heute bin ich das, und morgen dies“. Heute der Parlamentarier, der dem Sportausschuss vorsitzt und damit Einfluss auf das Wohl und Wehe der Wolfsburger Vereine hat, morgen der Mann, der selber einen dieser Sportvereine leitet – und jeden Tag aufs Neue seinen Lebensunterhalt in der VW-Logistikabteilung verdient, was ihm die beiden Feierabendämter überhaupt erst ermöglicht. Für ihn selbst bleibt nur der Spagat übrig.

Werner Reimer, Jahrgang 1959, geboren und wohnhaft Wolfsburg, in Lohn und Brot bei VW, hinterm Steuer eines grauen Golf sitzend, wirkt wie das vollkommene Abbild seiner Stadt.Wenn es Städte gibt, die in ihren Bewohnern sichtbar werden, wenn man das große Ganze in einem einzelnen Menschen ablesen kann, dann ist Reimer so einer. Er und seine Heimatstadt sind Zwillinge. Beide sind nicht denkbar ohne das Werk, dem sie ihr Auskommen verdanken. Und beide wissen, dass es Momente gibt, in denen das nicht nur ein Segen ist.

Es ist ein sonniger Frühlingsabend, der Vereinschef parkt den Wagen vor dem Vereinsgelände im Nordosten. Er schaut beim Fußballtraining vorbei, wirft einen Blick ins Fitnessstudio, in den Yoga-Raum, nickt den Frauen am Empfangstresen zu: Reimers MTV Vorsfelde, gegründet 1862 im örtlichen Schützenhaus, zu einer Zeit, als eineinhalbtausend Menschen hier lebten und das benachbarte Wolfsburg noch keine Stadt, sondern ein Renaissanceschloss war mit Gütern drumherum. Der Mittellandkanal, eineinhalb Kilometer südlich von hier, war auch noch nicht gebaut.

Drei Leben überlagern sich

Der MTV hat mehr als 5000 Mitglieder, 27 Sparten hält er vor. Reimer selbst hat vor mehr als 20 Jahren als einfaches Mitglied in einer davon angefangen, im „Jedermannsport“. Meistens haben sie da Volleyball gespielt, immer freitags, und am Sonntag Hallenfußball.

Zur selben Zeit hat er sich auch entschlossen, in die CDU einzutreten. Damals fing es an. An diesem Abend ist Reimer wieder der Vereinschef, am Vorabend war er der Politiker und saß in einer Ausschusssitzung. Den Tag dazwischen hat er auf der Arbeit verbracht. Damit also, den Wohlstand des VW-Konzerns zu mehren, den der wiederum zum Teil an die Stadt Wolfsburg abgibt – als Gewerbesteuer, die sich anschließend in vieles verwandelt, zum Beispiel auch in Geld für die Sportförderung. Etwas davon bekommt auch Reimers Verein.

Das war Reimers Spagat in den vergangenen 24 Stunden. Ein Bein hier oben im Nordosten auf dem Vereinsgelände, eines in der Porschestraße 49, in den Sitzungsräumen des Rathauses, eine Viertelstunde Fußweg südlich des Kanals gelegen. Unterbrochen vom Erwerbsarbeitstakt, vom Wechselschritt hinein ins Werk. Rathauskollegen sagen, das gelinge Reimer sehr gut.

Er selbst weiß es besser. Er weiß, dass er wenig Einfluss darauf hat, für wen andere ihn gerade halten. „Wenn mir jemand gegenübersteht, dann bestimmt der allein, als was der mich sieht“, sagt Reimer. Im Zweifel ist das dann wohl oft der ganze Mensch, die Summe seiner Einzelteile – und nicht nur eines davon. Zumal Reimer in Situationen kommt, in denen sich seine drei Leben ganz zwangsläufig überlagern.

Aus der Satzung des MTV: „Zweck des Vereins ist es, Sport zu betreiben, ihn in seiner Gesamtheit zu fördern und auszubreiten. Er erstrebt durch Leibesübungen und Jugendpflege die sittliche und körperliche Ertüchtigung seiner Mitglieder. Er ist politisch und konfessionell neutral.“ Aus einer Festschrift zum 150. MTV-Jubiläum, Reimer schreibt dort: „Neben dem Ehrenamt gibt es noch zwei besonders wichtige Partner, die für die Entwicklung unseres MTV seit vielen Jahrzehnten größte Bedeutung haben. So möchte ich an dieser Stelle der Stadt Wolfsburg und der Volkswagen AG danken. Beide haben unseren Weg in bester Weise begleitet.“

VW überlässt dem Verein Autos

Das ging nicht anders, manchmal muss man die Dinge aussprechen, trotz selbst auferlegter Neutralität und Schweigegelübde.

Manchmal auch nicht. Reimers wird sehr einsilbig, als er danach gefragt wird, wie die Begleitung durch VW im Verein denn genau aussehe. Es gebe Unterstützung, ja, in einem wirklich kleinen Maßstab. Das sei ja auch kein Geheimnis in der Stadt. Aber wie sieht diese Unterstützung denn nun genau aus? Wieder vergeht eine Weile, bis er schließlich sagt: Der Konzern überlasse dem Verein einige Autos.

70.000 Menschen beschäftigt VW in Wolfsburg. Sie verdienen meist gut, und bis zum vergangenen September konnte man das auch über den Konzern sagen. Dann wurde der Diesel-Abgas-Skandal offenbar, von dem bis heute wohl niemand weiß, welche finanziellen Konsequenzen er haben wird. Auch Reimer nicht. An Gewinnschwankungen bei VW sei die 120.000-Einwohner-Stadt Wolfsburg gewöhnt, auch an Skandale. Sie haben sogar Namen. In den 1990er Jahren gab es die „Lopez-Affäre“ um einen VW-Vorstand, der von General Motors zu Volkswagen kam und von dort geheime Unterlagen mitgenommen haben soll. Im Jahrzehnt darauf kam der „Betriebsrats-Lustreisen-Skandal“ ans Licht, nun kommt die „Abgas-Affäre“ dazu.

Die meisten Steuern kommen von VW

All das kennt man in Wolfsburg. Im Moment aber, sagt Reimer, könne keiner sagen, ob es jemals wieder so werde, wie es einmal war. Im Jahr 2014 nahm Wolfsburg 275 Millionen Euro Gewerbesteuer ein, im Jahr 2012 sogar mehr als 400 Millionen. Das waren damals fast 70 Prozent aller städtischen Einnahmen, den größten Teil davon zahlte VW. Rekordwerte sind das, kaum eine deutsche Stadt nimmt pro Einwohner so viel Gewerbesteuern ein wie Wolfsburg. Und kaum eine gibt auch so viel aus. Auch in diesem Jahr wird das so sein.

Im März wurde in Wolfsburg der städtische Haushalt beschlossen. Auf der Ausgabenseite stehen 448 Millionen Euro, das sind noch einmal 18 Millionen mehr als im vergangenen Jahr. Und das trotz der VW-Krise. Falls Reimer sich darüber freut, dass beim Haushaltsposten Sportförderung nichts gekürzt werden wird, dann zeigt er es gerade nicht. Als Mitglied der CDU-Fraktion im Rathaus hat er jedoch gegen diesen Haushaltsbeschluss gestimmt.

Es gibt noch einen vierten Werner Reimer, denjenigen, der einmal Mathematik studiert hat. Der sagt jetzt: „Ich habe eine etwas konservative Grundhaltung bei Finanzen.“ 448 Millionen also. Monate später als üblich beschlossen, eben wegen der Unsicherheit bei der Gewerbesteuer. Kalkuliert wird mit einem „Fehlbedarf“, die Stadt nimmt also weniger ein, als sie ausgeben wird. Dafür werden Rücklagen in Anspruch genommen.

In der offiziellen Rathaus-Mitteilung steht: „wichtige Investitionen in die Zukunft“ seien damit beschlossen worden. „Die Zukunft ist ein magischer Ort“, sagt Svante Evenburg. „Ein Ort, an dem Politiker Entscheidungen nicht hinsichtlich nahender Kommunalwahlen treffen, sondern weil sie vernünftig sind.“ Evenburg sitzt auch im Stadtrat, er führt die zweiköpfige Fraktion der Piraten-Partei.

Wolfsburg gibt es wegen VW

Es war Mitte März und das Kommunalparlament gerade dabei, den Haushalt zu beschließen. Evenburg würde dagegen stimmen, er hielt eine Art Abrechnungsrede auf den SPD-Oberbürgermeister, der anfangs eine Erhöhung der Gewerbesteuer in Betracht gezogen hatte, dann aber davon abgerückt war. Erhöht wird nun die Grundsteuer, die Bürger also werden stärker belastet in dieser Zukunft und nicht die Unternehmen. Sie sollen das kompensieren, wozu VW in absehbarer Zeit wohl nicht mehr in der Lage sein wird.

Man könnte das als einen klugen Schritt sehen, Wolfsburg aus der finanziellen Abhängigkeit von einer einzigen Firma herauszuführen. In Evenburgs Augen ist das jedoch Augenwischerei. Natürlich sei jeder Schritt, der die Stadt freier mache von VW, erst einmal ein guter Schritt - so lange er gerecht und vernünftig ist. Doch am Grundsätzlichen ändere das wenig. Dafür sei VW hier einfach zu groß. „Man verkennt den Grund, warum es diese Stadt überhaupt gibt“, sagt er. Die Stadt ist wegen des Volkswagen-Werkes überhaupt erst gegründet worden, und sie existiere bis heute allein deswegen.

Auch die höhere Grundsteuer, die die Bürger fortan zahlen müssen, will von ihnen erst einmal verdient sein. Wo wohl? Evenburg sitzt in einem Burger-Restaurant an der Porschestraße, in Rathausnähe. Die Porschestraße ist Wolfsburgs Einkaufsbummelmeile. Evenburg sagt, und weist dabei nach Norden, in die Richtung jenseits des Kanals, dorthin, wo das VW-Werk steht: „Ich sag' immer, im Endeffekt ist das hier eine Goldgräberstadt, das da drüben ist die Mine. Wenn die irgendwann erschöpft ist, wird das hier `ne Geisterstadt.“

Die Stadt ist in der Wagenburg

Einige Tage nach dem Bekanntwerden der VW-Affäre hatte Wolfsburg – so wie andere Konzernstandorte in Deutschland auch – eine Haushaltssperre verfügt. Es waren ebenso die Tage eines neuerwachten Selbstbewusstseins einer Kommune gegenüber einem Konzern, dem sie überhaupt erst ihre Existenz verdankt. So stellte beispielsweise der SPD-Fraktionschef Forderungen. Der Bauausschuss tagte. Einer der Tagesordnungspunkte war ein großes Wohnungsneubauprojekt von Volkswagen Immobilien, einer Tochterfirma des Autokonzerns. 1250 Wohnungen sollen entstehen, und ginge es nach VW, sollte keine davon weniger als zehn Euro Kaltmiete pro Monat und Quadratmeter kosten. Dem SPD-Mann passte das nicht. Er wollte neben dem teuren auch billigeren, sozialen Wohnungsbau. Entweder VW setze dies um, oder seine SPD werde den Plänen nicht zustimmen.

„Muss man sich mal vorstellen“, sagt Evenburg. „Der Fraktionschef der größten Partei hier, der vielleicht am besten mit VW verdrahteten Partei, macht der Firma so eine Ansage. Und der arbeitet auch noch selber bei VW.“ Die Grünen übrigens waren angesichts der SPD-Forderung etwas skeptisch. Aber bei den Grünen hier gibt es auch welche, die mit dem Porsche zum Rathaus kommen. „Ist eben alles ein bisschen anders hier“, sagt Evenburg.Mittlerweile sei die Stimmung aber wieder einer Art Wagenburg-Mentalität gewichen. „Die Leute haben sich in der Krise eingerichtet“, sagt Evenburg, „man nimmt sie schulterzuckend zur Kenntnis“. Dann würden sie sich wieder mit der sehr durchwachsenen Leistung des Bundesligafußballklubs VfL beschäftigen, „das ist mittlerweile das größere Thema hier“.

Mercedes-Busse fahren ohne Stern

Wolfsburg ist die Stadt, in der Mercedes-Busse der Verkehrsbetriebe ohne Mercedes-Stern herumfahren. Vom Rathaus, durch das Evenburg manchmal Besucher führt, weiß er: Als man drüben bei VW gemerkt habe, wie hoch es gebaut werden sollte, habe man dort auf das eigene Verwaltungshochhaus noch ein paar Etagen mehr als geplant draufgesetzt. Damit die Verhältnisse wieder stimmen, was auch völlig in Ordnung sei. Ehrenbürger in Wolfsburg ist man bisher vor allem dann geworden, weil man einer der VW-Chefs oder Bürgermeister war.

Was sagt der Bürgermeister zum Haushalt? Oder der Finanzdezernent, der anfangs einer Gewerbesteuererhöhung - der ersten in Wolfsburg seit 1980 - das Wort redete, auf Veranstaltungen in den Ortsteilen dafür warb, und nun den anderslautenden Haushaltsbeschluss umzusetzen hat? Stimmt die Unterstellung des Piraten-Mannes Evenburg, die Kommunalwahlen im kommenden September hätten bei den Stadtfinanzen in diesem Jahr die entscheidende Rolle gespielt? Der Finanzdezernent „ist schlecht greifbar“, richtet ein Rathaussprecher aus.

Der Bürgermeister Klaus Mohrs aber geht ans Telefon. Mohrs stellt fest: „Es ist ein Sparhaushalt.“ Dass Wolfsburg „am Ende mehr ausgibt“ als im Jahr zuvor, „liegt an den enormen Ausgaben für Flüchtlinge“. Gegen die Erhöhung der Gewerbesteuer habe er sich schließlich entschieden, nachdem er die Bedenken kleiner Wolfsburger Unternehmen angehört hat. Unternehmen, die quasi samt und sonders von VW, von den Aufträgen des Konzerns oder der Konsumlaune seiner Arbeiter und Angestellten abhängig sind und eine ungewisse Zukunft vor sich haben. Im Grunde gibt es in Wolfsburg nur eine Firma, auf die das nicht zutrifft. Die Matratzenfabrik Diamona.

Im Herbst stehen Kommunalwahlen an

Dann gibt Mohrs dem Piraten Evenburg Recht. „Wir haben in diesem Jahr Kommunalwahlen, und ich habe viel Verständnis dafür, dass die Politik nicht mit einem ausschließlichen Sparhaushalt da hineingehen will.“ Für das nächste Jahr werde das dann aber Konsequenzen haben. Ein halbes Jahr ist vergangen, seitdem der VW-Betrug bekannt geworden ist. Ein neues Gefühl scheint eingezogen zu sein in der Stadt, es ist dem Schrecken gewichen, von dem der Bürgermeister damals noch berichtet hatte. „Es wirft einen nicht sofort um“, hatte Mohrs gesagt, „Krisen gehören hier zum Lebensgefühl. Aber im Moment gehört auch Betroffenheit und Angst dazu, weil fast jeder hier von dem, was im Werk passiert, persönlich betroffen ist.“

Er sagte das auf dem Abendempfang einer Naturschutzorganisation, die gerade eine Tagung in Wolfsburg abhielt. Die Stadt hatte die Haushaltssperre beschlossen, sich mit der VW-Immobilientochter angelegt, und auch die Funktionäre der Naturschutzorganisation nahmen ihren Mut zusammen und stellten Forderungen. Die weitere Zusammenarbeit „mit unserem Umweltpartner Volkswagen“ stehe „auf dem Prüfstand“. Ein für die Umwelt zuständiger Vorstandsposten beim Konzern müsse her. Auch im Aufsichtsrat müsse eine entsprechende Stelle geschaffen werden. Aus der Lautstärke damals, dem Mut der Verzweiflung, ist abwartendes Beobachten geworden.

Irgendwann geht es wieder aufwärts

Der Pirat Evenburg nimmt Lethargie und Trotz in der Stadt wahr, der Bürgermeister dagegen meint, neues Vertrauen zu erkennen. „Darauf, dass es wieder bergauf geht.“ Die Wolfsburger würden sich besinnen auf ihre eigene Krisenerprobtheit. „Wer einmal eine überstanden hat, ist gewisser, das noch einmal zu schaffen.“ Werner Reimers, der Sportpolitiker und Sportfunktionär, der konservative Mathematiker und VW-Angestellte, weiß nicht so wirklich, wo es langgehen wird. Es gebe Zehntausende Wolfsburger und Zehntausende Wolfsburger Konzernbeschäftigte, sagt er, also gebe es auch Zehntausende Gefühle und Ansichten in der Stadt. Seine eigenen, heißt das wohl, tun nichts zur Sache. Es bleibt nur sein Satz von vorhin: „Im Moment kann keiner sagen, ob es jemals wieder so wird, wie es einmal war.“

Wolfsburg, die Wagenburg. Die Stadt der Krisengestählten oder die der Ungewissheit. Was auch immer stimmt davon, es bleibt den Menschen hier nichts anderes übrig, als zu warten. Überall hängen Volkswagen-Werbeplakate. Auf einem am Bahnhof steht: „Es geht um mehr als ein Auto. Es geht darum, wohin es dich führt.“

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