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Schafft EZB-Chefin Christine Lagarde die Zinswende, auch wenn dadurch hochverschuldete Länder im Süden Europas in Schwierigkeiten geraten? Bei einer Inflationsrate, die längerfristig um die drei Prozent pendelt, muss die Geldpolitik handeln. k/Imago

© imago images/Frank Ossenbrink

DIW-Wissenschaftlerin im Interview: „Die Inflationsrate wird sinken“

Die Ökonomin Kerstin Bernoth über die Preisentwicklung im kommenden Jahr, zahme Gewerkschaften und das Dilemma der Europäischen Zentralbank.

Frau Bernoth, lassen Sie uns zu Beginn in die Glaskugel schauen: Welche Inflationsrate sehen Sie zu Ostern?

Die wird definitiv niedriger sein als derzeit. So fällt unter anderem der Effekt der Mehrwertsteuererhöhung aus diesem Jahr weg. Ich erwarte eine Inflationsrate um die drei Prozent.

Das ist ziemlich optimistisch.
Ja, in der Tat gibt es noch Risiken und offene Fragen, die eine Prognose derzeit sehr schwierig und unsicher machen: Wie geht es weiter mit der Pandemie? Wie lange gibt es noch Liefer- und Produktionsengpässe in der Industrie? In der Tendenz jedoch wird die Inflation im Verlauf des nächsten Jahres sinken – wie stark genau, weiß kein Mensch.

Im Januar werden Gas- und Strompreiserhöhungen wirksam und es kommt der nächste Schritt bei der CO2-Bepreisung.
Gleichzeitig entfällt der Mehrwertsteuereffekt aus diesem Jahr. Und ab März/April macht sich dann auch der Lockdown aus dem Frühjahr 2020 bemerkbar, der damals in den Folgemonaten zu einem Preisrückgang geführt hat und deshalb in diesem Jahr auch zu einer hohen Inflationsrate beigetragen hat. Mitte des Jahres erwarte ich deshalb eine deutlich niedrigere Inflationsrate.

Trotz der Lieferprobleme in der Industrie und der Erzeuger- und Großhandelspreise, die zuletzt so stark gestiegen sind wie seit Jahrzehnten nicht?
Die Produzentenpreise sind schon ein Faktor, der zu einer längerfristig hohen Inflationsrate beitragen kann. Je länger das anhält, desto schwieriger wird es für die Unternehmen, die höheren Preise für Vorprodukte etwa mit der Gewinnmarge auszugleichen. Die Preissteigerungen werden dann an die Kunden und Konsumenten weitergereicht.

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Der Mangel an Halbleitern könnte bis in den Herbst 2022 der Industrie zu schaffen machen.
Jedenfalls deutlich länger, als man noch vor ein paar Monaten dachte. Das sind diese Unsicherheiten, die Sorgen machen. Die Unternehmen haben keine Planungssicherheit, auch nicht für ihre Preissetzung. Die Frage ist am Ende, wie stark sich höhere Güterpreise auf die Inflation auswirkt. Dienstleistungen haben ein stärkeres Gewicht im Warenkorb, der für die Berechnung der Inflation gebildet wird, als Industriegüter.

Es gibt Lohndruck in einzelnen Branchen

Aber auch Dienstleistungen werden deutlich teurer, wenn der Mindestlohn mit einem Schlag auf zwölf Euro erhöht wird, wie das die Ampelregierung vorhat. Das bedeutet für rund acht Millionen Arbeitnehmer höhere Einkommen und für die Betriebe höhere Kosten, die über die Preise an die Kunden im Friseursalon oder im Restaurant weitergegeben werden.
Bei acht Millionen Menschen wird sich das in der Tat bemerkbar machen. Es gibt ferner Lohndruck in einzelnen Branchen wie der Gastronomie, die nur mit höheren Löhnen ihre Beschäftigtenlücken schließen können. Das gilt auch für die Pflege und für Erziehungsberufe. Der Fachkräftemangel in einzelnen Bereichen wird sich auf die Löhne und dann mittelbar auch auf die Preise auswirken. Sektorale Lohnerhöhungen sind aber völlig in Ordnung, wenn sie zu einer effizienteren Arbeitskräfteverteilung führen. In der Pflege sind zum Beispiel die Einkommen offensichtlich zu niedrig, was sich an dem Arbeitskräftemangel zeigt.

Fehlen inzwischen nicht flächendeckend Fachkräfte, sodass eben auch in fast alle Branchen die Arbeitgeber höhere Gehälter zahlen müssen?
In der Pandemie ist das Erwerbspersonenpotenzial gesunken. Es stehen dem Arbeitsmarkt also weniger Erwerbstätige zur Verfügung als vor Corona. Das wird sich ändern, sodass diese „Stille Reserve“ zurück auf den Arbeitsmarkt kommt. Schwierig wird es, wenn in der ganzen Breite des Arbeitsmarktes die Löhne steigen. Das treibt die Preise nach oben.

Ökonomen sprechen von der Lohn-Preis- Spirale. Ist die in Sicht?
Bisher nicht. Die Tarifabschlüsse sind 2021 deutlich unter der Inflationsrate geblieben. Grundsätzlich sind die Gewerkschaften „zahmer“ geworden, als sie es in den 70er und 80er Jahren waren, und in der Pandemie war es für Gewerkschaften schwieriger, Druck auf die Arbeitgeber auszuüben und hohe Tarifsteigerungen durchzusetzen. Man muss hier aber erwähnen, dass in den letzten Jahren die Tariflöhne real gestiegen sind, weil die Inflation niedrig war.

Der Einfluss der Gewerkschaften auf die Inflation ist im Vergleich zum Einfluss der Geldpolitik vernachlässigbar. Die Zentralbanken fluten die Märkte mit Geld – und das wird sich doch mindestens mittelfristig inflationstreibend auswirken.
Alles was die EZB mit ihren Anleihekäufen an Geld in Umlauf bringt, kommt nicht unmittelbar bei „den Märkten“ an, sondern erstmal bei den Banken. Die müssen das Geld also weiterreichen an die Realwirtschaft. Wichtig ist es also, die Kreditvergabe und die Kreditstandards der Banken im Auge zu behalten.

"Die Wirtschaft läuft wieder rund"

Aber ein Großteil des Geldes landet bei Staaten, deren Anleihen die EZB kauft. Ein Konjunkturprogramm jagt das nächste – die Geldmenge steigt und steigt.
Die öffentlichen oder staatlichen Ausgaben stimulieren sicherlich die Realwirtschaft. Das war ja auch die Absicht, dass sie dazu beitragen, den wirtschaftlichen Einbruch während der Corona-Pandemie zu dämpfen und eine tiefe Rezession zu verhindern. Aber mittlerweile läuft die Wirtschaft ja wieder recht „rund“, da können kräftige öffentliche Ausgaben durchaus zu einem Inflationsschub führen. Relevant ist dabei die Frage, wofür die Staaten das Geld ausgeben: Konsum oder Investitionen.

Wie ist das in den USA, wo die Inflationsrate von deutlich über sechs Prozent inzwischen Präsident Biden schadet?
Die Konjunkturprogramme dort sind noch deutlich größer als in Europa und forcieren stark den Konsum. Der Einfluss auf die Inflation ist erheblich größer als in Deutschland. Wenn öffentliche Gelder in den Ausbau der Infrastruktur fließen und dadurch das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft steigt, dann sind das „gute“ Ausgaben. Denn im Ergebnis erhöht sich die Trag- oder Belastungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte, wenn Zinsen niedriger sind als das Wirtschaftswachstum. Damit sinkt nämlich automatisch, wenn es keine Neuverschuldung gibt, die Schuldenquote. Anders gesagt: Man muss genau schauen, wofür die staatlichen Gelder gerade eingesetzt werden.

Kann die EZB die Zinswende einleiten, wenn der Euroraum noch unter den Folgen der Pandemie leidet und viele Länder niedrige Zinsen brauchen wegen der riesigen Schuldenberge? Manche Mittelmeerländer können sich höhere Zinsen nicht leisten.
Die EZB hat angekündigt, erst die Anleihekäufe zurückfahren zu wollen, bevor die Zinsen erhöht werden. Und sie hat die Zinswende für den Fall angekündigt, dass die Inflation im gesamten Prognosezeitraum über zwei Prozent liegt. Problematisch ist es in dieser Hinsicht, dass die Inflationsprognosen der EZB in der Vergangenheit selten akkurat waren.

"Es geht um die Glaubwürdigkeit der EZB"

Wie kommt die EZB aus der Nummer raus, wenn die Inflation hoch bleibt und die Inflationserwartung steigt?
Eine mögliche geldpolitische Straffung muss in Einklang gebracht werden mit dem, was die EZB angekündigt hat. Dabei geht es um Glaubwürdigkeit. Aber wird sie den dann notwendigen Schritt gehen, wenn dadurch hochverschuldete Länder gerade im Süden Europas in Schwierigkeiten geraten? Das sind alles berechtigte Sorgen.

Schürt diese Fragestellung nicht bereits die Inflationserwartung?
Diese Gefahr ist da. Wichtig ist Kommunikation: Die Marktteilnehmer sollten wissen, wie sich die EZB den Exit aus der expansiven Geldpolitik vorstellt. Die EZB hat auf der letzten Ratssitzung angekündigt, ihr pandemiebedingtes PEPP- Programm im März auslaufen zu lassen. Und damit es keinen Cold Turkey gibt, wird das seit 2014 laufende APP-Programm zunächst etwas aufgestockt werden. Doch selbst dieses Vorgehen hat bereits Konsequenzen etwa für Italien und andere hochverschuldete Länder, denn ab dann kauft die EZB wieder proportional Schuldtitel aller Euroländer und kann nicht mehr gezielt die Zinsen einzelner Länder nach unten drücken. Die Geldpolitik kann fiskalpolitische Probleme auslösen – das ist aktuell die Gefahr.

Müssen die Stabilitätskriterien für die Euro-Länder weiter gedehnt werden, weil nach der Pandemie für manche Länder diese Schuldengrenzen in den kommenden Jahrzehnten nicht einzuhalten sind?
Wenn wir die Fiskalregeln langfristig außer Kraft setzen, bekommen wir immer mehr Probleme. Die Länder sollten jetzt, wo die Wirtschaft weiter auf Erholungskurs ist, das noch niedrige Zinsniveau nutzen, um die Staatsverschuldung zu reduzieren.

Aber die Länder setzen immer noch Konjunkturprogramme ein.
Die europäische Wirtschaft läuft gut, Italien und Frankreich zum Beispiel haben Wachstumsraten deutlich über dem deutschen Niveau. Sollte es nicht zu einem erneuten pandemiegetriebenen Einbruch kommen, sehe ich keine Notwendigkeit für weitere fiskalische Impulse.

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