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Die Gasspeicher müssen für den kommenden Winter aufgefüllt werden. Das ist eine Maßnahme, die das DIW-Konzept beinhaltet.

© Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa

DIW-Studie: Deutschland könnte noch 2022 unabhängig von russischem Gas werden

Bei maximalen Einsparungen und Importen wäre der nächste Winter ohne Gas aus Russland denkbar, so eine Studie. Kritiker halten die Folgen für zu schwerwiegend.

Es ist der nächste Debattenbeitrag im Streit um ein Embargo auf russisches Gas: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hält es für möglich, dass Deutschland noch 2022 unabhängig von Lieferungen aus Moskau wird. „Wenn die Energie-Einsparpotenziale maximal genutzt und gleichzeitig die Lieferungen aus anderen Erdgaslieferländern so weit wie technisch möglich ausgeweitet werden, ist die deutsche Versorgung mit Erdgas auch ohne russische Importe im laufenden Jahr und im kommenden Winter 2022/23 gesichert“, lautet das Fazit der Ökonomen.

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Tatsächlich warten sie nicht mit innovativen Lösungsvorschlägen auf, sondern haben in ihren Berechnungen sowohl die Einsparungen als auch die Lieferungen von anderswo so weit wie möglich ausgereizt. Der Bau von LNG-Importterminals an der Küste sei aufgrund der langen Bauzeiten und dem mittelfristig stark rückläufigen Erdgasbedarf dabei noch nicht einmal sinnvoll.

Stattdessen sollten die Erdgasimporte etwa aus Ländern wie Norwegen oder den Niederlanden deutlich ausgeweitet werden. Importe aus Norwegen könnten demnach rund ein Fünftel der bisherigen russischen Einfuhren ersetzen. Durch Einspeisungen über die bereits vorhandenen LNG-Terminals in den Niederlanden (Rotterdam), Belgien (Zeebrugge) und Frankreich (Dunkerque) könnte ein Viertel der russischen Lieferungen ersetzt werden.

Strom ohne Erdgas produzieren

Zudem müsse man die Speicher für die kommende Heizperiode auf 80 bis 90 Prozent auffüllen. Das DIW räumt aber ein, dass das zusätzliche Angebot nicht ausreicht, um die gesamten bisherigen russischen Erdgasimporte zu ersetzen. Die Forscher empfehlen daher den vollständigen Ersatz von Erdgas in der Stromerzeugung – ein Schritt der laut der Studie annähernd die Hälfte der russischen Lieferungen überflüssig machen würde.

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Für private Haushalte schlägt das DIW Energiesparkampagnen und schnellere Sanierung vor. Das größte Problem bleibt aber die Industrie. „Während Erdgas im Stromsektor kurzfristig durch alternative Energieträger ersetzt werden kann, gehen die Einsparungen bei der Industrie mit einem Produktionsrückgang einher“, räumen die Experten ein. „Die besonders betroffenen Branchen sollten daher entschädigt werden.“

Kritiker warnen vor den Folgen

Was sich auf dem Papier leicht anhört, dürfte allerdings weitreichende Folgen haben. „Das wäre das Ende der Grundstoffproduktion in Deutschland“, hatte Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), schon Ende März dem Tagesspiegel gesagt und sähe von einer solchen Maßnahme zwei bis vier Millionen Arbeitsplätze betroffen. Die temporär geschlossenen Betriebe würden abwandern, so Hüthers Befürchtung. Das „rechnet sich dann am Standort Deutschland einfach nicht mehr. Das können sie mit Subventionen niemals ausgleichen“.

Auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck geht davon aus, dass Deutschland noch bis Mitte 2024 benötigt, um von russischem Gas unabhängig zu werden. Er warnt vor sozialen Verwerfungen, sollte die Industrie, damit der Arbeitsmarkt und damit der gesamte Wohlstand im Land durch die Maßnahmen zu hart getroffen werden.

Der Chemiekonzern BASF etwa warnt davor, dass durch fehlende Grundstoffe Produkte wie Lacke, Matratzen, Computer-Chips oder Zahnpastatuben nicht mehr hergestellt werden könnten. Allerdings schätzt der Konzern, dass man mit gut zwei Dritteln der üblichen Gasmenge das meiste noch liefern könne, wie die „Zeit“ berichtet. Ob die DIW-Rechnung mit Einsparungen von nur einem Drittel bei der Industrie aber aufgehen würde, darf bezweifelt werden.

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