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Bei niedrigen Temperaturen dürfen die Abschalteinrichtungen eingeschaltet werden, wenn dadurch Motorschäden vermieden werden.

© imago images/Rene Traut

Dieselskandal vor dem Europäischen Gerichtshof: EuGH schließt das Thermofenster – ein bisschen

Gerichtshof urteilt über die Zulässigkeit von Abschalt-Software. Reaktionen sind gemischt: Industrie ist gelassen, Anwälte hoffen auf Schadensersatz.

Genugtuung bis hin zu Jubel bei Umweltschützern und Verbraucheranwälten, Gelassenheit in der Autoindustrie: Die Reaktionen auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zur Rechtmäßigkeit von Abgasabschalteinrichtungen in Pkw waren vielfältig. Mit der Software kann unter bestimmten Voraussetzungen die Abgasreinigung außer Kraft gesetzt werden. „Die Tatsache, dass eine solche Abschalteinrichtung dazu beiträgt, den Verschleiß oder die Verschmutzung des Motors zu verhindern, kann ihr Vorhandensein nicht rechtfertigen“, entschied der EuGH am Donnerstag. Wenn es jedoch darum geht, „den Motor vor plötzlichen und außergewöhnlichen Schäden zu schützen“, kann eine Abschalteinrichtung erlaubt sein.

Vor fünf Jahren war der Betrug aufgeflogen

Der Verband der Autoindustrie (VDA) sieht sich bestätigt: Bei modernen Motoren würden die Emissionen durch Elektronik gesteuert, und der EuGH habe klargestellt, „dass das weiterhin möglich ist, wenn es der Sicherheit des Motors und der Insassen dient“. Das Urteil mache im Übrigen deutlich, „was wir seit fünf Jahren wissen: Die Verbesserung des Emissionsverhaltens auf dem Prüfstand ist unzulässig. Und das wird auch nicht mehr gemacht“, teilte der Autoverband mit. Vor fünf Jahren war der Dieselbetrug bei Volkswagen aufgeflogen.

Um die Stickoxidgrenzwerte einzuhalten, hatten die Ingenieure eine Software entwickelt, mit der die Abgasreinigung nur auf den Prüfständen funktionierte. Sobald die Autos auf der Straße fuhren, wurde die Abschalteinrichtung aktiv und die Stickoxide in die Luft geblasen. Bei der Aufklärung des Skandals tauchten weitere Umstände auf, bei denen VW aber auch andere Hersteller die Abgasreinigung außer Betrieb setzten – und zwar teilweise legal. Zwar ist grundsätzlich die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, laut Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 unzulässig, wie es beim Kraftfahrtbundesamt heißt. Doch Ausnahmen bestätigen die Regel. „Nicht unzulässig ist eine Abschalteinrichtung, wenn die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten.“

Grüne sprechen von Ohrfeige für die Regierung

An dieser Stelle setzt nun das EuGH-Urteil an, indem es die Grauzone respektive die Auslegungsspielräume der Verordnung verkleinert. „Das Urteil ist eine Ohrfeige für die Bundesregierung“, meinte der Grünen-Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter. „Die CSU-Minister Dobrindt und Scheuer haben systematisch weggeschaut statt sämtliche betrügerische Abschalteinrichtungen aus dem Verkehr zu ziehen.“

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VW erklärte, nach dem EuGH-Urteil gebe es weder eine neue Grundlage für Rückrufe noch für Schadenersatz. Der EuGH habe „keine generelle Bewertung zur Zulässigkeit einer temperaturabhängigen Steuerung der Abgasrückführung“ vorgenommen. Ob ein „Thermofenster“ im Einzelfall zulässig sei, müssten nun nationale Behörden und Gerichte entscheiden. „Unsere Thermofenster sind zulässig“, sagte ein Sprecher dem Tagesspiegel. „Kundenklagen gegen Hersteller wegen eines angeblich unzulässigen Thermofensters sind erfolglos und werden erfolglos bleiben.“ Mit Thermofenster wird der Umstand beschrieben, dass bei bestimmten Außentemperaturen die Abgassäuberung außer Kraft gesetzt wird, um den Motor zu schützen.

Verkehrsminister fühlt sich nicht angesprochen

Auch Daimler hat in verschiedenen Gerichtsverfahren erklärt, die Steuerung der Abgasreinigung bei unterschiedlichen Temperaturen sei keine Abschalteinrichtung im Sinne der Verordnung Nr. 715/2007. In jedem Fall sei sie zum Schutz des Motors zulässig. „Selbst wenn ein Thermofenster im Fahrzeug des Klägers in seiner technischen Ausgestaltung als unzulässig anzusehen wäre, führt dies nicht dazu, dass von einem Sittenverstoß auszugehen ist.“ Es gebe deswegen keine Grundlage für eine Haftung des Unternehmens wegen einer möglichen sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung gemäß Paragraf 826 BGB.

Im Bundesverkehrsministerium (BMVI) fühlt man sich vom EuGH nicht angesprochen: „Das Verfahren richtet sich nicht gegen Deutschland“, erklärte eine Sprecherin. Betroffen sei vielmehr ein französisches Strafverfahren. Die französische Staatsanwaltschaft habe den EuGH um Auslegung der europäischen Richtlinie gebeten. Diese Auslegung entspreche im Übrigen der deutschen Rechtsauffassung. „Sie bestätigt die bisherige Anwendung der europäischen Vorschriften durch das KBA und das Vorgehen der Untersuchungskommission ,Volkswagen’“, teilte das BMVI mit.

Millionen Autos wurden nachgerüstet

Experten des Kraftfahrtbundesamtes und der nach dem VW-Dieselskandal eingesetzten Untersuchungskommission waren zu dem Schluss gekommen, dass die gesetzlich mögliche Ausnahme von der Abgasreinigung von allen deutschen Herstellern genutzt wird. VW musste millionenfach Dieselautos in die Werkstätten rufen und ein Software-Update aufspielen, um die Abgasmanipulation zu beenden. Auch Daimler rüstete einige hunderttausend Dieselfahrzeuge nach.

„Der Automobilindustrie drohen Rekord-Rückruf- und -Klagewellen“, meinte der Berliner Rechtsanwalt Claus Goldenstein, dessen Kanzlei bislang rund 34 000 Diesel-Fahrer vertreten hat. Das Urteil des EuGH erleichtere Schadensersatzprozesse außerhalb Deutschlands, sagte Goldenstein dem Tagesspiegel. „Das Thema hat jetzt eine europäische Dimension.“ Es sei unstrittig, dass Autos, die in den letzten zwei bis drei Jahren mit einer Abschaltvorrichtung auf den Markt gekommen sind, einen Sachmangel hätten, der wiederum den Anspruch auf Schadenersatz rechtfertigte. „Für betroffene Pkw-Halter standen die Chancen nie besser, erfolgreich Schadensersatzansprüche durchzusetzen.“ Die nationalen Gerichte müssten im nächsten Schritt die Legalität der verschiedenen Abschalteinrichtungen der unterschiedlichen Hersteller einzeln bewerten und sich dabei „an der verbraucherfreundlichen Rechtsauslegung des EuGH orientieren“, hofft Goldenstein.

Verjährung nach drei Jahren

Allerdings tickt die Uhr: Der Bundesgerichtshof entschied am Donnerstag im Falle eines VW-Fahrers, dass Schadensersatzklagen, die nach 2018 eingereicht wurden, verjährt sind. Der Betrug war im Herbst 2015 aufgeflogen, die dreijährige Verjährungsfrist habe damit begonnen.

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