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Letzte Station: Wer länger arbeitslos ist, rutscht in das Arbeitslosengeld II.

© imago/photothek

Update

Die Folgen des Grundsatzurteils aus Karlsruhe: Hartz IV darf maximal um 30 Prozent gekürzt werden

Nicht alle Leistungskürzungen für Hartz-IV-Bezieher sind rechtens. Arbeitsminister Heil kündigt schnelle Reformen an.

Das Bundesverfassungsgericht hat Sanktionen für Bezieher von Arbeitslosengeld II grundsätzlich gebilligt. Kürzungen von 30 Prozent oder mehr sind nach Meinung der Richter aber verfassungswidrig und müssen ab sofort abgemildert werden, entschieden die Richter am Dienstag in Karlsruhe (Az.: 1BvL 7/16).

"Der Gesetzgeber schafft hier für die betroffenen Menschen, denen dann ein Teil des Existenzminimums fehlt, eine außerordentliche Belastung", sagte der Vizepräsident des Gerichts, Stephan Harbarth, bei der Urteilsverkündung.

Vorübergehende Leistungskürzungen seien zwar weiter möglich, eine Minderung um 60 Prozent oder gar eine völlige Streichung hält das Bundesverfassungsgericht aber für unverhältnismäßig und damit unzumutbar. Die damit entstehende Belastung reicht nach Meinung des Gerichts "weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hinein". Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nannte das Urteil "sehr weise" und "sehr ausgewogen". Heil kündigte an, noch im Laufe des Tages Gespräche mit der Bundesagentur für Arbeit und den Bundesländern aufzunehmen.

Um welche Sanktionen geht es?

Nach dem Prinzip "Fördern und Fordern" disziplinieren Job-Center aus ihrer Sicht unkooperative Hartz-Empfänger. Wer eine zumutbare Arbeit ablehnt oder ein Bildungsangebot ausschlägt, läuft Gefahr, dass das Job-Center den sogenannten Regelsatz um 30 Prozent kürzt. Dieser liegt für einen alleinstehenden Erwachsenen bei derzeit 424 Euro im Monat, zum 1. Januar 2020 werden es 432 Euro sein.

Bei wiederholten Verstößen kann die Behörde die Unterstützung um 60 Prozent reduzieren, schlimmstenfalls sogar komplett streichen - das betrifft auch die Kosten für Unterkunft und Heizung. Ist eine Sanktion verhängt, läuft sie immer drei Monate lang.

Kürzungen nur noch bis 30 Prozent

Das Bundesverfassungsgericht hält sowohl die Höhe der Kürzungen als auch das starre System für verfassungswidrig. Werden Leistungen ausgesetzt, weil Menschen ihre Mitwirkungspflicht verletzen, so müsse die Sanktion enden, wenn sich die Arbeitslosen kooperativ zeigten, fordern die Richter.

"Die Bedürftigen müssen selbst die Voraussetzungen dafür schaffen können, die Leistung tatsächlich wieder zu erhalten", betont das Gericht. Zudem müssen die Job-Center stets prüfen, ob Härtefälle vorliegen.

Kürzungen von mehr als 30 Prozent sind nach Meinung der Richter verfassungswidrig, weil sie in das Existenzminimum eingreifen. Bis zu einer gesetzlichen Reform des Sanktionssystems dürfen die Job-Center ab sofort Regelsätze nur noch um maximal 30 Prozent reduzieren. Zudem zeigten sich die Richter verwundert darüber, dass es bislang keine belastbaren Ergebnisse gebe, wie die Sanktionen wirken.

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Was ist mit den anderen Sanktionen?

Leistungskürzungen wegen Arbeitsverweigerung sind eher seltene Fälle. Der Großteil der Sanktionen betrifft verpasste Termine beim Job-Center. Von den gut 900.000 Sanktionen, die im vergangenen Jahr gegen Hartz-IV-Bezieher verhängt worden sind, entfallen 77 Prozent auf versäumte Termine. Wer eine Verabredung mit dem Berater platzen lässt, muss mit einer Leistungskürzung von zehn Prozent rechnen. Über diese Fälle hat das Bundesverfassungsgericht nicht entschieden.

Die Richter haben auch nicht geklärt, ob die verschärften Sanktionen für Jugendliche verfassungsgemäß sind. Arbeitslosen, die unter 25 Jahre alt sind, können die Job-Center bereits beim ersten Verstoß die Mittel komplett streichen.

Muss man jede Arbeit annehmen?

In dem Fall, den die Verfassungsrichter zu prüfen hatten, hatte ein Mann einen Job als Lagerarbeiter abgelehnt, weil er im Verkauf arbeiten wollte. Anschließend ließ er auch noch einen "Aktivierungsgutschein" für eine Erprobung in einem Betrieb verfallen. Das Job-Center kürzte den Regelsatz zunächst auf 270 Euro, dann auf 150 Euro. Das Sozialgericht Gotha hielt die strengen Sanktionsregeln für rechtswidrig und legte den Fall den Bundesverfassungsrichtern vor.

Die halten zwar die Höhe der Kürzungen für verfassungswidrig, nicht aber den fehlenden Berufsschutz. Es sei nicht zu beanstanden, dass andere als bislang ausgeübte und auch geringerwertige Tätigkeiten zumutbar sind, urteilten die Richter.

Grundsatzurteil: Das Bundesverfassungsgericht fordert Reformen bei den Hartz-Sanktionen.
Grundsatzurteil: Das Bundesverfassungsgericht fordert Reformen bei den Hartz-Sanktionen.

© AFP

Wie geht es jetzt weiter?

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil will das Urteil aus Karlsruhe nicht nur schnell umsetzen, sondern plant auch Reformen, die über den Urteilsspruch hinausgehen.

Der SPD-Politiker geht davon aus, dass das Urteil auch Auswirkungen auf die Sanktionspraxis für junge Arbeitslose hat. Die Richter hätten die komplette Streichung der Leistungen dem Grunde nach verworfen, erklärte Heil nach der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Er habe es immer für falsch gehalten, die Kosten der Unterkunft als Sanktionsinstrument zu benutzen. Die Arbeiterwohlfahrt unterstützt Heil. Die besonders strengen Sanktionen gegen junge Arbeitslose seien zwar nicht Gegenstand des Urteils gewesen, die Verfassungswidrigkeit von Kürzungen über 30 Prozent habe aber in der Konsequenz Folgen für die Rechtmäßigkeit der Sanktionspraxis bei Menschen unter 25 Jahren, betonte Wolfgang Stadler, Chef des Bundesverbands der Arbeiterwohlfahrt: „Es darf hier keine Ungleichbehandlung geben! Für alle Leistungsbezieher gilt gleichermaßen: Menschen brauchen keinen existenzbedrohenden Druck, sondern Unterstützung und Stabilisierung ihrer Lebensverläufe!“ Auch Verdi fordert Verbesserungen zugunsten der Unter-25Jährigen.

Das Ministerium will zudem die zehnprozentige Kürzung der Leistungen bei Meldeversäumnissen auf den Prüfstand stellen. Darüber hinaus kündigte Heil nach der Kritik der Verfassungsrichter an, die Wirkung von Hartz IV-Sanktionen erforschen zu lassen.

Sozialverbände und Linke wollen alle Sanktionen streichen

Die Linke drängt auf eine Abschaffung aller Sanktionen. "Die unsäglichen Sanktionen bei Hartz IV und die Leistungseinschränkungen in der Sozialhilfe müssen endlich Vergangenheit werden", erklärte Parteichefin Katja Kipping am Dienstag. Ihre Parteifreundin, Berlins Arbeitssenatorin, Elke Breitenbach schließt sich dem an. Sie bedauere, dass nicht alle Sanktionen einkassiert worden sind, betonte Breitenbach. Das sieht auch Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, so. Die Strafen würden Menschen unnötig ins Elend treiben, hatte Schneider dem Tagesspiegel im Vorfeld des Urteils gesagt.

Arbeitgeber sehen sich bestätigt

Bestätigt sehen sich aber auch die Arbeitgeber. Das Bundesverfassungsgericht habe den Zusammenhang von Fördern und Fordern bestätigt, erklärte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in Berlin. Notwendige und praktikable Sanktionsmöglichkeiten „waren und bleiben zu Recht mit dem Grundgesetz vereinbar“.

Bei möglichen Reformen muss Heil jedoch mit dem Widerstand der Union rechnen. Peter Weiß, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales in der Unionsfraktion, hält das Sanktionssystem im großen und ganzen für richtig. "Bei uns gilt das Prinzip "Fördern und Fordern" hatte Weiß im Tagesspiegel betont.

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