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Fußgänger überqueren Kreuzung in Berlin.

© Thilo Rückeis

"Der Verkehr ist zu schnell": Deshalb leben Fußgänger in Berlin so gefährlich

Sechs von sieben Berliner Verkehrstoten seit Jahresanfang waren Fußgänger. Eine Studie der Allianz listet bekannte und neue Risiken auf – und macht Vorschläge.

Sieben Verkehrstote hat es in der Hauptstadt seit Jahresanfang bereits gegeben, sechs davon waren zu Fuß unterwegs. Im vergangenen Jahr verloren insgesamt 45 Menschen im Berliner Verkehr ihr Leben. 19 davon waren Fußgänger.

Weltweit stirbt alle 60 Sekunden ein Fußgänger. Das lässt sich in der aktuellen Verkehrssicherheitsstudie der Allianz nachlesen, die am Donnerstag veröffentlicht worden ist. Schaut man nur auf Deutschland, scheint sich das Leben der Fußgänger dagegen in den vergangenen Jahren verbessert zu haben.

Obwohl 2018 die Zahl aller Verkehrstoten erstmals seit 2015 wieder angestiegen ist (plus 2,7 Prozent) auf 3265, sind mit 458 Toten weniger Fußgänger im Straßenverkehr tödlich verunglückt als im Vorjahr (minus 6,1 Prozent). Dagegen ist die Zahl der tödlich verunglückten Radfahrer gestiegen.

Die Entwicklung ändert aber nichts daran, dass Fußgänger in Deutschland dennoch gefährlich leben. Jeder sechste Verkehrstote in Deutschland war Fußgänger. Hinzu kommen die zahlreichen Unfälle, die mit Verletzungen enden. 2017 erlitten gut 7400 Fußgänger schwere Verletzungen, mehr als 23.100 Menschen zogen sich leichte Blessuren zu.

Dass Fußgänger in Berlin offensichtlich gefährlicher leben als im Durchschnitt der Republik, hat zunächst eine einfache Erklärung: In Großstädten, wo man zum Laden an der Ecke oder zur nächsten Bushaltestelle laufen kann, sind einfach mehr Menschen zu Fuß unterwegs als auf dem Land. "Ein Drittel der Wege werden in Berlin zu Fuß erledigt", sagt Dorothee Winden. Sprecherin der Berliner Senatsverwaltung für Verkehr.

Dass viele dieser Wege mit Unfällen enden, liegt an den Fußgängern selbst, die beim Überqueren der Straßen nicht aufpassen oder rote Ampeln missachten, aber auch an den Autofahrern, die mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Stadt rasen – und an den Berliner Fahrradfahrern, die gern den Bürgersteig zur Fahrbahn machen.

"Der Verkehr ist zu schnell", sagt Roland Stimpel vom Fußgänger-Lobbyverband Fuss. Der frühere Journalist kämpft für Tempo 30 in der Stadt und gegen den Verfall der Sitten im Verkehr. An Kreuzungen wild geparkte Autos sind für Fußgänger ein hohes Verkehrsrisiko, ärgert sich Stimpel. Wenn Autos die Sicht versperren, kann man nicht sehen, wenn auf der Straße ein Fahrzeug kommt.

Autofahrer haben den Schutz durch die Karosserie, Radfahrer zumindest den Helm, doch Fußgänger sind völlig ungeschützt. Kommt es zur Kollision, sieht es für den Menschen zu Fuß daher sehr schlecht aus. Der Berliner Polizei zufolge wird in mehr als 93 Prozent der Unfälle der Fußgänger zumindest verletzt.

Wenn der Fußgängerweg zum Fahrradweg wird: Radfahrer gefährden Passanten.
Wenn der Fußgängerweg zum Fahrradweg wird: Radfahrer gefährden Passanten.

© imago/Seeliger

"Den Letzten beißen die Hunde", sagt Siegfried Brockmann, Chef der Unfallforschung der Versicherer. Geht man nach den Unfallzahlen, ist das Auto der Hauptfeind. Doch die Zahlen sinken, anders als bei Zusammenstößen mit Radfahrern. Von 2001 bis 2017 ist die Zahl der Unfälle, in denen Radfahrer Fußgänger verletzt haben, um sieben Prozent gestiegen. Radfahrer sind an jedem fünften Todesfall eines Fußgängers beteiligt, teilt die Allianz mit.

"Radfahrer weichen auf den Bürgersteig aus, wenn ihnen die Straße zu gefährlich ist oder sie dort nicht vorankommen", sagt Unfallexperte Brockmann. Geahndet wird das aber nur in den allerseltensten Fällen. "Wer seine Interessen nur energisch genug vertritt, setzt sich durch", ärgert sich Brockmann. Erlaubt ist das Fahren auf dem Bürgersteig der Straßenverkehrsordnung zufolge nur Kindern bis zum Alter von zehn Jahren und einem Erwachsenen als Begleitung.

Lassen sich die E-Roller noch aufhalten?

Verkehrsexperten befürchten, dass sich die Situation der Fußgänger noch verschlechtert. Denn Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) will künftig auch Elektroroller auf dem Gehweg erlauben. Kinder bis zu einem Alter von zwölf Jahren sollen mit E-Scootern bis zu 12 Stundenkilometer schnell auf dem Bürgersteig fahren dürfen.

Fußgänger kommen da nicht mit. Ältere schaffen oft noch nicht einmal drei Stundenkilometer. Stimpel ist entsetzt: Wenn Pubertierende drei Mal so schnell wie zu Fuß Gehende über Gehwege flitzen dürfen, sei das "ethisch wahnwitzig". In Barcelona hat der Unfall mit einem E-Scooter eine 90-Jährige das Leben gekostet, jetzt hat Spanien die Elektroroller wieder vom Fußgängerweg verbannt.

"Die Bürgersteige sind Schutzräume"

Das Bundeskabinett hat Scheuers Pläne kürzlich genehmigt, am 17. Mai ist der Bundesrat am Zug. Stimmen die Länder zu, würde die Verordnung sofort in Kraft treten. Aber einige Länder haben bereits Bedenken angemeldet, darunter auch Berlin. Elektrokleinstfahrzeuge könnten zwar die innerstädtische Mobilität durchaus verbessern", sagt Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne). Das dürfe aber nicht auf Kosten schwächerer Verkehrsteilnehmer gehen. "Die Bürgersteige sind Schutzräume für Fußgängerinnen und Fußgänger, gerade für Kinder, Ältere und mobilitätseingeschränkte Menschen", sagt sie weiter. "Mir ist wichtig, dass sie sich dort frei und ungefährdet bewegen können. E-Tretroller auf Gehwegen konterkarieren diesen Anspruch. Deshalb werden wir uns im Bundesrat dafür einsetzen, dass E-Tretroller nicht auf Bürgersteigen zugelassen werden", kündigt Günther an.

Kinder besonders in Gefahr

Die Allianz untersucht in ihrem mehr als 180 Seiten starken Bericht auch, welche Fußgänger besonders bedroht sind. "Mehr als die Hälfte der getöteten Fußgänger in Deutschland ist älter als 64 Jahre", berichtet Jochen Haug, Allianz-Vorstand für die Schadenversicherung. "Und der Anteil stieg vergangenes Jahr nochmals stark an, von 51 auf 56 Prozent".

Stimpel wundert das nicht. Der Verkehr werde immer unübersichtlicher, gibt er zu bedenken, vor allem Senioren seien da schnell überfordert. Aber auch Kinder sind in Gefahr. 2017 starben in Deutschland 19 Kinder, die jünger als 15 waren, als sie zu Fuß im Verkehr unterwegs waren. Nimmt man die Zahl aller getöteten oder verletzten Fußgänger, so waren 21 Prozent von ihnen Schulkinder unter 15. Besonders gefährdet sind Fußgänger von Oktober bis Februar, in der Dämmerung beziehungsweise Dunkelheit.

E-Roller sollen unter bestimmten Voraussetzungen auf dem Bürgersteig fahren dürfen.
E-Roller sollen unter bestimmten Voraussetzungen auf dem Bürgersteig fahren dürfen.

© Hannah/REUTERS

Fußgänger verursachen der Studie zufolge aber nicht selten auch selbst Unfälle. Ablenkung spiele dabei eine erhebliche Rolle, vor allem durch das Smartphone. Nach der repräsentativen Erhebung der Versicherung tippen oder texten 43 Prozent der Bundesbürger beim Gehen, 45 Prozent fotografieren mit dem Handy, 28 Prozent hören Musik. Fast zwei Drittel der Fußgänger telefonieren beim Gehen. "Die Nutzung elektronischer Geräte erhöht die Wahrscheinlichkeit für einen Fußgänger, einen Unfall zu erleiden", warnt Haug. Beim Musikhören steigt das Risiko um mehr als das Vierfache, beim Texten um das Doppelte.

Automatische Bremssysteme in Autos können Schlimmeres verhindern, betont die Allianz. Die Versicherung plädiert dafür, solche Systeme auch für das Rückwärtsfahren zu installieren. "Fußgänger müssen in jeder Situation sicher erkannt werden", sagt Christoph Lauterwasser, Geschäftsführer des Allianz Zentrums für Technik. Zudem spricht sich die Allianz für mehr Tempo-30-Zonen aus und warnt vor E-Rädern auf dem Bürgersteig.

Was in der Hauptstadt geplant ist

Berlin hat die Fußgänger ins Mobilitätsgesetz aufgenommen. "Der Fußverkehr wird endlich als gleichberechtigter Teil der Mobilität neu positioniert und aufgewertet", sagt Senatorin Günther. Die Hauptstadt setze damit "deutschlandweit Standards".

Konkret heißt das: Breite Straßen sollen Fußgänger künftig in einem Zug überqueren können statt auf Mittelinseln zu warten. Ampeln sollen näher an die Kreuzungen heranrücken, Gehwege sollen ein Stück auf die Fahrbahn gezogen werden, damit Kinderwägen und Rollstühle nicht länger durch parkende Autos behindert werden. Die Grünphasen an Ampeln werden verlängert, der Verkehr auf Nebenstraßen eingedämmt. Autofreie Zonen sollen ausgebaut werden.

Die Bezirke sollen Pläne machen, wie für Kinder der Weg zur Schule sicherer wird, und es soll mehr Schülerlotsen geben. Bordsteine sollen abgesenkt und Bürgersteige verbreitert werden, um Rollstuhlfahrern, Eltern mit Kinderwägen und Menschen mit Rollatoren das Leben zu erleichtern.

Und auch einen alltäglichen Konflikt will Günther entschärfen: Radwege an Bushaltestellen sollen hinter die Haltestellen gelegt werden, um Kollisionen von Radfahrern mit Busnutzern zu vermeiden. Innerhalb von fünf Jahren sollen zehn größere neue Projekte geplant, begonnen oder fertiggestellt sein, sagt Günther. Das kann der Umbau von Straßen sein, ein autofreier Tag oder Modellprojekte.

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