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Noch auf Sparflamme bleibt das Mercedes-Werk in Sindelfingen, wo die S-Klasse produziert wird.

© imago images/7aktuell

Daimler-Betriebsratschef im Interview: „Unsere Leute sind sicherer als in einem Supermarkt“

Michael Brecht über Gesundheitsschutz in der Fabrik, den Anlauf der Produktion, brüchige Lieferketten und die neue S-Klasse.

Herr Brecht, wie geht es der Daimler-Belegschaft?

Die Stimmung schwankt zwischen Hoffen und Bangen. Die Unsicherheit ist groß, und die Beschäftigten wollen natürlich wissen, wann es weitergeht.

Wie viele der 300 000 Mitarbeiter weltweit haben sich bislang infiziert?
Deutlich weniger als im Durchschnitt der Bevölkerung in den jeweiligen Ländern. An jedem Standort haben wir einen Krisenstab für das tägliche Monitoring zu Infizierten, Kollegen in Quarantäne und Genesene. Bislang hält sich alles im Rahmen.

Und wo wird bereits wieder gearbeitet?
In China sind alle Standorte angelaufen, dort kommen wir jetzt auf ein gutes Produktionsniveau. In Europa haben wir bis auf wenige Ausnahmen alle Produktionswerke geschlossen. Die Batteriefabrik im sächsischen Kamenz läuft weiter, ebenso die Fertigung von Teilen für andere Werke und selbstverständlich auch Forschung und Entwicklung.

Wie viele Beschäftigte sind hierzulande in Kurzarbeit?
Im Durchschnitt rund 80 Prozent. An meinem Heimatstandort in Gaggenau zum Beispiel, wo rund 6500 Beschäftigte Getriebe für Nutzfahrzeuge bauen, gibt es nur noch einen Notdienst. Hier haben wir keine Entwicklung und keine Teileproduktion für China und deshalb hat dieser Standort rund 95 Prozent Kurzarbeit.

Das ist bei Daimler noch erträglich: Kurzarbeitergeld wird auf 80 Prozent des Nettos aufgestockt.
80,5 Prozent ist die Mindestgrenze, die wir in einer Gesamtbetriebsvereinbarung für alle Beschäftigten in Deutschland vereinbart haben. Kurzarbeit ist wirklich ein Instrument, das in diesen Zeiten enorm wertvoll ist. Je nachdem, wie es läuft, kann man hoch- und runterfahren.

Jetzt geht es erst mal wieder hoch, in dieser Woche beginnen einige Werke mit der Produktion. Wie werden die Arbeiter geschützt?
Die Frage des Gesundheitsschutzes ist ja das A und O. Wir wissen seit Wochen, dass wir lange mit dem Virus leben müssen, und haben deshalb sehr frühzeitig um die 100 Punkte im Rahmen von Gefährdungsbeurteilungen identifiziert. Das betrifft den Weg zur Arbeit, die Arbeitskleidung, Duschmöglichkeiten, Pausenräume, Kantinen und vieles mehr. Für jede Gefährdung haben wir Lösungswege identifiziert.

Nennen Sie mal ein Beispiel.
Für eine bessere Hygiene räumen wir den Kolleginnen und Kollegen mehr Zeit ein und längere Pausen. Und wo der Abstand nicht eingehalten werden kann und Kollegen Hand in Hand arbeiten, müssen Masken getragen werden.

Gibt es genügend?
Ja. Das ist auch zwingend erforderlich. Denn wenn 1,50 Meter nicht eingehalten werden können und wir keinen Mund-Nasen-Schutz haben, dann ist der Arbeitsplatz rot: Hier darf nicht gearbeitet werden.

Das ist eine ganz neue Art von Arbeitsplatzregulierung, die aufwendig ist und dem Arbeitgeber nicht gefallen dürfte.
Wir haben an diesem Punkt überhaupt keinen Konflikt mit der Konzernführung. Alle wollen, dass die Firma wieder anläuft, aber alle sind sich einig, dass es nur funktioniert, wenn die Menschen geschützt werden. So eine Krise schweißt auch zusammen und setzt Energien frei, die man für ganz neue Fragestellungen braucht.

Was meinen Sie?

Die Busse, die früher voll waren, transportieren jetzt viel weniger, weil auch im Bus die 1,50 Meter erforderlich sind. Dazu bedarf es Regeln zum Ein- und Aussteigen, und es muss Gruppenbildung an den Drehkreuzen vor dem Werk vermieden. Wir haben die Schichten auseinandergezogen, sodass sich die Schichtmannschaften beim Schichtwechsel nicht mehr treffen im Werk. Die einen sind schon weg, wenn die anderen kommen. Schließlich kommen die Arbeitnehmer jetzt schon in Arbeitskleidung ins Werk, weil wir das Zusammentreffen beim Umkleiden vermeiden wollen. Der engste Kontakt findet in den Umkleideräumen statt.

Wo geht es dann los in dieser Woche?
Die Nutzfahrzeugwerke fahren komplett wieder hoch und im Pkw-Bereich die Motorenwerken Untertürkheim, Berlin und Hamburg.

Michael Brecht (54) lernte im Mercedes-Getriebewerk Gaggenau Kfz-Schlosser. Parallel zur Betriebsratskarriere besuchte Brecht die Managementschule in St. Gallen. Seit fünf Jahren ist er Gesamtbetriebsratschef sowie stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender.
Michael Brecht (54) lernte im Mercedes-Getriebewerk Gaggenau Kfz-Schlosser. Parallel zur Betriebsratskarriere besuchte Brecht die Managementschule in St. Gallen. Seit fünf Jahren ist er Gesamtbetriebsratschef sowie stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender.

© picture alliance / dpa

Haben Sie keine Angst vor einer Infektionswelle in den Fabriken?
Nein, wir hatten auch keine Welle in den Wochen vor dem Abbruch der Produktion, und mit den Schutzmaßnahmen sind wir jetzt noch viel besser aufgestellt. Ich bin überzeugt, dass unsere Leute sicherer sind als in einem Lebensmittelgeschäft. Es geht halt alles etwas langsamer vonstatten, weil wir buchstäblich Platz lassen.

Die deutsche Autoindustrie ist berühmt für ihre hohe Produktivität. Wann erreichen wir wieder das Vorkrisenniveau?
Auf lange Zeit nicht. Bis wir die Menschen nicht immunisiert haben und kein Impfstoff da ist, werden wir das alte Niveau nicht erreichen. Ich hoffe auf 2021.

Der Gesundheitsschutz ist extrem aufwendig und die Nachfrage ist eingebrochen. Wie schwer wird es für Daimler?
Wir befinden uns mitten in einem Drama, deshalb bin ich auch nicht sorgenfrei. Wir müssen den Menschen halt immer wieder sagen, es ist möglich, mit dem Virus zu leben und zu arbeiten, wenn man sich an bestimmte Regeln hält. Und in der Krise geht es vor allem um Liquidität. Die ist durch die Hilfsmaßnahmen der Regierung weitgehend gewährleistet.

Die Politik in Bund und Land macht bislang alles richtig?
Die Regierung hat wirklich einen Superjob gemacht. Wichtig ist für unsere Branche die Öffnung der Autohäuser in dieser Woche. Wir brauchen einen bestimmten Absatz, um überhaupt unsere Fixkosten zu decken. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien und Spanien, in China und den USA.

Immerhin sind im Daimler-Konzern bis 2029 betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen.
Wenn wir keine Autos, Lastwagen, Transporter und Busse mehr verkaufen, dann hilft uns der Kündigungsschutz auch nicht. Dazu müssen wir auch die Zulieferer in den Blick nehmen und die Gefahren für die Lieferketten. Porsche wollte auch am heutigen Montag wieder anfangen, doch die bekommen keine Bremsen aus Italien. Solche Probleme haben wir im Moment nicht. Und doch ist die Situation in der gesamten Industrie wie nach einer Vollsperrung auf der Autobahn; wann sich der Stau wieder auflöst, ist nicht absehbar.

Eines der wichtigsten Mercedes-Projekte in diesem Jahr ist die Einführung der neuen S-Klasse gegen Ende des Jahres. Bleibt es dabei?
Wir haben hier keine Entwicklungs- und Vorbereitungsarbeiten gestoppt und wollen das Auto unbedingt Ende des Jahres auf den Markt bringen. Wir sind zwar im Krisenmodus, dürfen aber die Zukunft nicht aus dem Blick verlieren.

Was wird aus der Transformation in Richtung Elektromobilität und autonomes Fahren in diesen Coronazeiten?
Alle Aktivitäten, die mit batterieelektrischen Dingen zu tun haben, laufen voll weiter. Die CO2-Anforderungen sind ja auch weiterhin zu erfüllen. Irgendwann haben wir wieder freie Sicht nach vorne, und dann müssen die Zukunftsthemen bearbeitet sein.

Was sollte alles in Konjunkturpakete rein, die in Berlin und Brüssel diskutiert werden?
In der Autoindustrie könnte man zwei Dinge verknüpfen: Klimaschutz und Konjunktur, indem man Anreize setzt für den Kauf von Autos, die deutlich weniger Schadstoffe ausstoßen. Wir haben ja noch viele Euro-IV-Fahrzeuge im Markt, die durch moderne Euro-VI-Modelle ersetzt werden könnten.

Also auch Diesel fördern?
Ja, die neuen Diesel sind effizient und sehr sauber, das Stickoxidproblem ist weitgehend gelöst. Und wir werden nicht alle in fünf oder zehn Jahren Elektroautos fahren können. Dazu gibt es zu wenig sauberen Strom, zu wenig Ladesäulen und zu wenig Batterien.

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