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Eingang des Bundesministeriums für Finanzen.

© Ole Spata/dpa

Cum-Ex-Files: Schaden durch „Cum-Ex“-Steuerdeals viel größer als gedacht

Schlupflöcher kosteten Steuerzahler mehr als 55 Milliarden Euro. Dubiose Geschäfte gab es neben Deutschland auch in weiteren europäischen Länder.

Der Skandal um Dividenden-Steuertricks geht weit über die deutschen Grenzen hinaus und betrifft immer mehr internationale Finanzkonzerne. Auch der Schaden für Steuerzahler in Europa ist Medienberichten zufolge weitaus höher als bisher angenommen. Er belaufe sich durch diese "steuergetriebenen Aktiengeschäfte" auf mindestens 55,2 Milliarden Euro, hieß es.

Betroffen sind neben Deutschland mindestens zehn weitere europäische Länder, wie am Donnerstag veröffentlichte Recherchen von 19 Medien aus zwölf Ländern unter Leitung des Recherchezentrums Correctiv zeigten.

Mit Cum-Ex-Geschäften wird die Praxis bezeichnet, um einen Dividendenstichtag herum in Leerverkäufen Aktien mit (cum) und ohne (ex) Dividendenanspruch zu kaufen und zu verkaufen und sich dann eine nur einmal gezahlte Kapitalertragssteuer von den Finanzämtern mehrmals erstatten zu lassen. Das Steuerschlupfloch wurde mittlerweile geschlossen.

Konkret belegen die Recherchen den Medien zufolge, dass durch solche steuergetriebenen Aktiengeschäfte rund um den Dividendenstichtag und vergleichbare Handelsstrategien neben Deutschland auch Frankreich, Spanien, Italien, die Niederlande, Dänemark, Belgien, Österreich, Finnland, Norwegen und die Schweiz geschädigt wurden.

Größter Steuerraub der Geschichte

Aus Deutschland waren an den Recherchen die "Zeit", "Zeit Online", das ARD-Magazin "Panorama" und NDR Info beteiligt; mehr als 180.000 Seiten vertraulicher Akten sowie Unterlagen parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, interne Gutachten von Banken und Kanzleien, Kundenkarteien, Handelsbücher und E-Mails wurden demnach ausgewertet.

Die "CumEx-Files" (www.cumex-files.com) offenbaren, dass mehr europäische Länder von dem Skandal betroffen sind als bisher angenommen und die Ermittlungen gegen Santander, Macquarie und andere Banken in diesem Jahr deutlich an Fahrt aufgenommen haben. Bislang ist aber nicht höchstrichterlich geklärt, ob "Cum-Ex" ein legales Steuerschlupfloch war oder nicht.

Aus Auskünften von Steuerbehörden sowie Analysen von Marktdaten ergibt sich den Berichten zufolge ein Schaden von mindestens 55,2 Milliarden Euro. Der Steuerexperte Christoph Spengel von der Universität Mannheim habe bereits im vergangenen Jahr berechnet, dass dem deutschen Fiskus zwischen 2001 und 2016 mindestens 31,8 Milliarden Euro entgangen seien, berichtete "Zeit Online".

"Es handelt sich um den größten Steuerraub in der Geschichte Europas", sagte Spengel. Möglich geworden ist dies den Recherchen zufolge auch dadurch, dass ein Informationsaustausch über die steuerschädlichen Umtriebe innerhalb Europas kaum stattgefunden habe. So soll Deutschland seine europäischen Nachbarn erst 2015 über eine OECD-Datenbank über die Cum-Ex-Geschäfte informiert haben, obwohl das Finanzministerium spätestens seit 2002 Bescheid gewusst habe.

Die europäische Dimension

In dem 5,8 Millionen Einwohner zählenden Dänemark beläuft sich der Schaden aus "Cum-Ex"-Geschäften für die Steuerzahler auf umgerechnet rund 1,7 Milliarden Euro. Die dänischen Behörden wollen das Geld bei Personen in den USA eintreiben. Auch gegen einen britischen Staatsbürger, der auf den Palminseln in Dubai lebt, läuft ein Verfahren. Die Fälle in Deutschland und Dänemark haben die Ermittler in anderen Ländern veranlasst, sich Dividenden-Steuerdeals ebenfalls genauer anzuschauen. Das Ergebnis: Mehrere andere Staaten sind betroffen, wenn auch weniger stark. Einer Sprecherin des belgischen Finanzministeriums zufolge wurden in dem Königreich ähnliche, illegitime Anträge auf Steuererstattungen gestellt. Dort überwies der Fiskus 201 Millionen Euro, bevor weitaus größere Rückforderungen, davon einige bis in das Jahr 2017 hinein, gestoppt werden konnten.

Der Staatsanwaltschaft Wien zufolge versuchten Verdächtige, das "Cum-Ex"-System aus Deutschland auf Österreich zu übertragen. Die Ermittlungen in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft Köln seien sehr weit fortgeschritten, sagte eine Sprecherin der Behörde. In Norwegen entstand den Steuerbehörden zufolge 2013 ein Schaden von umgerechnet 61.500 Euro. Zehn weitere Forderungen in Höhe von 3,7 Millionen Euro konnten 2015 nach einem Hinweis des Nachbarlands Dänemark gestoppt werden. Nach Ansicht der OECD, die für weltweite Kooperation in der Steuerpolitik zuständig ist, kann es auch in Luxemburg, der Schweiz, Frankreich, Italien und Schweden zu Steuertricks gekommen sein, die auf Rückforderungen aus Dividendengeschäften basieren.

Eine Gelddruckmaschine

Bei "Cum-Ex" ließen sich Anleger die einmal gezahlte Kapitalertragsteuer mit Hilfe ihrer Bank mindestens zwei Mal erstatten. Steuerexperten hatten dies lange als legalen Steuertrick erachtet, seit einigen Jahren bewerten Ermittler und Strafverfolger "Cum-Ex" aber beinahe einhellig als Steuerhinterziehung. Auch für den früheren Finanzminister von Nordrhein-Westfalen, Norbert Walter-Borjans (SPD), der in seiner Amtszeit vehement gegen Steuerkriminalität vorging, ist die Sache klar: "Es ist eindeutig, dass das gegen das Gesetz verstoßen hat – wie kann es legal sein, dass man etwas zwei oder drei Mal zurückbekommt, das nur einmal gezahlt wurde?"

Noch unübersichtlicher wurden die Tricks durch den Einsatz von Leerverkäufen. Dabei vereinbaren Käufer und Verkäufer den Erwerb einer Aktie, bevor sie sich der Käufer an der Börse besorgt. Er spekuliert darauf, die Papiere zu einem niedrigeren Preis erwerben zu können, als er selbst in Rechnung stellt. Im Fall von "Cum-Ex" wurde das Geschäft vor dem Dividendenstichtag aufgesetzt und dann verschleiert, wer wann welche Aktie besessen hat.

Den Ermittlern zufolge wurden die Aktien in einer Art Syndikat von Bankern, Investoren und Hedgefonds in schneller Folge hin- und hergeschoben, um den Eindruck mehrerer Aktienbesitzer zu erwecken. Die Rückerstattungen wurden unter den Beteiligten aufgeteilt. Um noch größere Gewinne zu erzielen, konnten sich etwa Pensionsfonds mit großen Mengen Aktien eindecken und nahmen dazu einen Kredit bei einer Bank auf.

Die Kölner Staatsanwaltschaft zufolge agierte Santander in einem solchen Konstrukt als Leerverkäufer. Mit der Sache vertrauten Personen zufolge nutzten wiederum einige Pensionsfonds Macquarie als Kreditgeber. Auch eine Reihe anderer Banken räumten bereits ein, dass sie an solchen Geschäften beteiligt waren. Dazu gehören neben der Deutschen Bank auch die deutsche Unicredit-Tochter Hypo-Vereinsbank. Ein Sprecher der Deutschen Bank sagt, man sei nicht Teil eines "Cum-Ex-Marktes", aber in die Geschäfte einiger Kunden involviert gewesen. Die Bank kooperiere mit den Behörden.

Gegen fünf ehemalige Händler der HVB hat die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt im Herbst 2017 Anklage wegen schwerer Steuerhinterziehung erhoben.

Der Strippenzieher in den Schweizer Bergen

Der Strippenzieher in den Schweizer Bergen

Gleiches trifft auf Hanno Berger zu, der als eine der Schlüsselfiguren im "Cum-Ex"-Skandal gilt. Berger war einst Steuerermittler und wurde dann Berater. Einem Reuters vorliegenden Brief zufolge gab er auch Macquarie Tipps. Bezahlt wurde er dafür nach eigenen Angaben nicht. Nach Bergers Darstellung nutzten seine Kunden lediglich Schlupflöcher, die bis 2012 legal waren. Das Gesetz habe er nicht gebrochen, beteuert Berger gegenüber Reuters. Der deutsche Staat könne nicht andere für die eigenen Fehler bestrafen, sagt Berger, der mittlerweile in der Schweiz lebt. Das Landgericht Wiesbaden muss noch entscheiden, ob es die Anklage gegen ihn und die HVB-Händler zulässt.

Das Schlupfloch hat das Bundesfinanzministerium erst 2012 geschlossen, nachdem eine vorige Änderung im Jahr 2007 dem "Cum-Ex"-Modell überhaupt erst den richtigen Schub gegeben hat. Denn damals wurden die Steuerdeals zwar für inländische Leerverkäufer unattraktiv gemacht - nicht aber für ausländische. Das nutzten viele Marktteilnehmer aus. Mit dem Skandal und der Rolle des Ministeriums in Berlin befasste sich vor zwei Jahren bereits ein Untersuchungsausschuss des Bundestages. Einem Vertreter der Bundesregierung zufolge liegt der Schaden für den deutschen Fiskus aus "Cum-Ex" bei 5,6 Milliarden Euro. Die Banken hätten bereits 2,3 Milliarden Euro zurückgezahlt. Dass das Finanzministerium 2007, 2009 und 2012 versucht habe, das Problem durch Gesetzesänderungen und -erläuterungen in den Griff zu bekommen, zeige bereits, dass die Steuertricks illegal gewesen seien.

In der seit 2013 dauernden rechtlichen Aufarbeitung erzielte die Staatsanwaltschaft Köln im vorigen Jahr einen Durchbruch. Zu dem Zeitpunkt bot eine Gruppe von Bankern, darunter ein ehemaliger Macquarie-Mitarbeiter, Informationen an, denen zufolge die australische Bank, Santander und andere Geldhäuser von dem "Cum-Ex"-Modell profitierten. Macquarie selbst rechnet damit, 100 Millionen Euro zahlen zu müssen, um die Affäre ad acta zu legen. Rund die Hälfte davon haben die Australier bereits gezahlt.

Verlockende Geschäfte

Die Bank hatte 2011 drei US-Pensionsfonds Geld geliehen, die als Käufer in "Cum-Ex"-Geschäften auftraten und Steuererstattungen einreichten. Internen Emails zufolge waren dem scheidenden Macquarie-Vorstandschef Nicholas Moore und seiner bereitstehenden Nachfolgerin Shemara Wikramanayake die rechtlichen Risiken durchaus bewusst. So schickten Wikramanayake und drei andere Manager im Oktober 2010 ein Memo an den Aufsichtsrat der Bank. Darin war die Rede von einer Geschäftsfinanzierung, bei der für das Geldhaus zwischen 15 und 20 Millionen Euro für jedes der drei 1,1 Milliarden Euro schweren Darlehen herausspringen würde. "Es gibt das Risiko, dass die deutschen Finanzbehörden die Steuerrückzahlungen ablehnen und andere Maßnahmen gegen die Beteiligten ergreifen", schrieben die Manager. Die erwarteten Gewinne sollten gegen diese Risiken abgewogen werden. Dem Sitzungsprotokoll zufolge waren Wikramanayake und Moore zeitweise bei einem Treffen am 28. Oktober 2010 in Sydney anwesend, bei dem das Geschäft und die "Reputationsrisiken" diskutiert wurden. Die Genehmigung für die Finanzierung wurde bei dieser Sitzung unter Auflagen erteilt, bevor das Geschäft Anfang 2011 unterschrieben wurde.

Einem Sprecher der Bank zufolge geht das Geldhaus davon aus, dass Wikramanayake und Moore als Beschuldigte geführt werden. Macquarie habe einer Gruppe Investmentfonds Geld geliehen, die Aktien mit dem Ziel handelten, Vorteile aus der Kapitalertragsteuer im Zuge von Dividendenzahlungen zu ziehen. Die deutschen Behörden hätten damals, ein Jahr vor der Gesetzesänderung, die Erstattungsanträge aber abgelehnt. Macquarie habe sich in der Sache umfangreichen Rechtsbeistand geholt und sei der Meinung, dass die Bank gesetzeskonform gehandelt habe, sagt der Sprecher. Man werde weiter vollumfänglich mit den deutschen Behörden zusammenarbeiten. Zwei Fälle von Dividendengeschäften zwischen 2006 und 2009 seien bereits beigelegt worden.

US-Pensionsfonds als Profiteure

Im Fall von Santander hat das Bundeszentralamt für Steuern die Staatsanwaltschaft Köln darüber informiert, es gebe "konkrete Anhaltspunkte" dafür, dass die spanische Bank als Leerverkäufer agiert hat. Die Kölner Ermittler wandten sich daraufhin an Santander und deren britischen Ableger Abbey National Treasury Services. So habe die Bank eine Reihe Transaktionen für US-Pensionsfonds sowie Macquarie durchgeführt, wodurch diese in der Lage gewesen seien, die nicht gerechtfertigten Steuerrückzahlungen zu beanspruchen. Den Dokumenten zufolge waren diese Geschäfte sowohl für Santander als auch Macquarie lukrativ. So erhielt beispielsweise der Pensionsfonds Sander Gerber aus New York am 13. Mai 2011 Dividendenzahlungen von fast 162 Millionen Euro als Ergebnis von Transaktionen, in denen die beiden Banken involviert waren. Macquarie berechnete eine Gebühr von vier Prozent oder 6,5 Millionen Euro. Santander erhielt 400.000 Euro allein für dieses Geschäft. Sander Gerber bezeichnet die Geschäfte in einer Stellungnahme als seit Jahrzehnten legitime Dividenden-Arbitrage.

Santander arbeitet nach eigenen Angaben mit den Behörden in dem Fall zusammen und stellt eigene interne Untersuchungen an. Die Bank toleriere kein Verhalten, das nicht mit den Regeln und Gesetzen übereinstimme, die im jeweiligen Markt gelten, sagte ein Sprecher. Wenn man Fehlverhalten entdecke, werde man die geeigneten Maßnahmen treffen. Das Ermittlungsverfahren richte sich nach Kenntnis der Bank gegen drei ehemalige Mitarbeiter. Derzeit gebe es keine Hinweise darauf, dass die höhere Managementebene in die Aktivitäten involviert gewesen seien.

Wann die juristische Aufarbeitung des Skandals abgeschlossen sein wird, ist völlig offen. Nach Einschätzung einiger Ermittler dürften zudem mehrere Verantwortliche, darunter Berger, nur schwer belangt werden können, weil sie sich ins Ausland abgesetzt haben. In der Staatsanwaltschaft heißt es, dass bis zu rechtkräftigen Urteilen noch Jahre vergehen könnten – wichtig sei aber das Signal, dass ein solches Verhalten nicht ungestraft bleibe. (Reuters, AFP, dpa)

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