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Der BHG verpflichtet VW zur Zahlung von Schadenersatz an Diesel-Käufer.

© AFP/Ina Fassbender

Bundesgerichtshof urteilt zu Diesel-Skandal: Eine Ohrfeige für Volkswagen – und die Politik

VW hat seine Kunden durch Abgasmanipulationen jahrelang vorsätzlich, sittenwidrig getäuscht, sagt der BGH. Und die Politik hat weggeschaut. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Heike Jahberg

Nicht nur für Herbert Gilbert, sondern auch für Millionen andere Eigentümer eines VW-Diesel ist das Urteil des Bundesgerichtshofs eine Genugtuung. Der Rentner hat es mit seiner Klage geschafft, dass VW Schadensersatz für die Abgasmanipulationen zahlen muss.

Für VW ist der Richterspruch eine Schande. Deutschlands größter Autobauer hat vorsätzlich, sittenwidrig getäuscht, das haben Deutschlands höchste Zivilrichter jetzt entschieden. Mehr als vier Jahre nach Bekanntwerden des Abgasskandals steht damit fest: Ein deutsches Vorzeigeunternehmen, ein Konzern, an dem der Staat über das Land Niedersachsen beteiligt ist, hat seine Kunden jahrelang betrogen.

Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil sitzt im Aufsichtsrat, einem Gremium, das dem Vorstand auf die Finger schauen soll. Auch zu Zeiten von Dieselgate war Weil Mitglied des Kontrollgremiums. Von dem Dieselskandal, bei dem eine Software nur auf dem Prüfstand, aber nicht auf der Straße für gute Abgaswerte der Dieselmotoren und saubere Luft gesorgt hatte, will Weil nichts mitbekommen haben. So wie viele andere Politiker auch nicht.

Das heutige Urteil ist daher nicht nur eine Ohrfeige für VW, sondern auch für die Politik.

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Die Politik hält die Hand über VW

Dazu passt, dass die Machenschaften nicht etwa in Deutschland, sondern in den USA aufgedeckt worden sind. Die US-Behörden haben deutlich genauer hingeschaut haben als die Aufseher im Heimatland von VW. Und selbst als die VW-Konzernspitze im September 2015 den Betrug zugeben musste, hielt der damalige Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt seine Hand über VW. Erst Monate später gab es die ersten Rückrufe des Kraftfahrtbundesamts. Mit den Softwareupdates war für das Kraftfahrtbundesamt die Sache erledigt und VW vom Haken.

Der Musterkläger: Herbert Gilbert schreibt mit seinem VW-Sharan Rechtsgeschichte.
Der Musterkläger: Herbert Gilbert schreibt mit seinem VW-Sharan Rechtsgeschichte.

© AFP

Lange ist Volkswagen mit dieser Nummer durchgekommen, viel zu lange. Statt die Kunden wie in den USA zu entschädigen, haben die Wolfsburger gebremst. Sie haben sich in jedem einzelnen Fall verklagen lassen. Doch nur die wenigsten Bürger sind vor Gericht gegangen. Ohne Rechtsschutzversicherung haben viele das Risiko gescheut.

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Für VW zahlt sich das aus. 2,4 Millionen manipulierte Diesel gibt es in Deutschland, gemessen daran sind die 63.000 Urteile, die bislang in Sachen Dieselgate erschienen sind, ein Nichts. Viele Prozesse wurden vorzeitig beendet, weil VW mit Einzelvergleichen möglichen Niederlagen vor Gericht ausgewichen ist. Und ohne das Musterverfahren der Verbraucherschützer würden die 240.000 Verbraucher, die sich dem Massenvergleich des Bundesverbands der Verbraucherzentralen mit VW angeschlossen haben, noch immer ihrem Geld hinterherlaufen.

Dabei sind die Zahlungen ohnedies nicht üppig. In den USA gab es für einen ein Jahr alten Audi 40.000 Dollar Schadensersatz, im deutschen Vergleich waren maximal 6250 Euro möglich. Paradox: Volkswagen hat für Anwälte und Berater mehr gezahlt als für die Entschädigung und die Versöhnung mit seinen Kunden.

Die Strategie hat sich für VW ausgezahlt

Finanziell hat VW aber gewonnen. Viele Ansprüche sind verjährt, die meisten Käufer von einst können nicht mehr klagen. Und indem der Bundesgerichtshof VW eine Nutzungsentschädigung zubilligt, bleibt für Vielfahrer zwar ein moralischer Sieg, aber nicht viel Geld übrig. Denn vom Kaufpreis, den es als Schadensersatz gibt, wird mit dem höchstrichterlichen Segen ein Ersatz für die gefahrenen Kilometer abgezogen. Stehen 250.000 Kilometer auf dem Tacho, bleibt vom Schadensersatz nichts übrig.

Was sich ändern muss

Der Fall lehrt: Deutschland braucht dringend ein effektives, schnelles Klageinstrument, mit dem Verbraucherschützer im Namen der Kunden Großkonzerne zur Rechenschaft ziehen können. Nur so gibt es Waffengleichheit bei Verbraucherskandalen. Und eine schnelle Entscheidung hätte das Problem der Nutzungsentschädigung entschärft. Das Urteil ist aber auch eine Warnung an andere Autohersteller, etwa Daimler. Bis heute leugnet auch der Mercedes-Hersteller, bei seinen Dieseln Unrechtes getan zu haben. So wie es auch VW getan hat. Die juristische Aufarbeitung steht bei Daimler noch ziemlich am Anfang. Vielleicht beschleunigt das BGH-Urteil die Aufarbeitung.

Dieselgate sollte aber auch eine Mahnung sein, wenn es um die Entscheidung geht, Steuerzahlergeld für die Autoindustrie locker zu machen. Eine Abwrackprämie soll das Geschäft, das durch Corona zum Erliegen gekommen ist, ankurbeln. Keine Frage: An der Autoindustrie hängen Hunderttausende Arbeitsplätze, sie ist eine Schlüsselindustrie in Deutschland. Dennoch darf es keine Kumpanei zwischen Politik und Autobranche geben. Wenn neue Diesel mit dem Geld der Steuerzahler finanziert werden, wäre das ein Skandal, Dieselgate 2.0: sozusagen.

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