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Die Pharmaindustrie schaut kritisch auf sogenannte Botanicals.

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Botanicals sollen Ansteckung verhindern: Die falschen Versprechen der Nahrungsergänzungsmittel in der Coronakrise

Nahrungsergänzungsmittel mit pflanzlichen Inhaltsstoffen muten natürlich und gesund an. Doch wer kontrolliert, ob die Versprechungen auch stimmen?

Pflanzlich, natürlich – und meist unreguliert. Nahrungsergänzungsmittel mit pflanzlichen Inhaltsstoffen sind ein milliardenschwerer Markt. Verbraucherschützern und Pharmaindustrie ist er ein Dorn im Auge, weil er seit Jahren zu lax reguliert und kontrolliert wird. Besonders deutlich wird das Problem in der Coronapandemie.

„Gerade wird beispielsweise in den sozialen Medien über alle möglichen Stoffe behauptet, sie würden eine Ansteckung mit dem Coronavirus verhindern können“, schreibt die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Bärbel Bas. „Das kann für uns alle gefährlich sein, wenn in der Folge auf wirksame Schutzmaßnahmen verzichtet wird.“

Wie täuschend solche Angaben sein können, zeigt ein Fall, bei dem die Verbraucherzentrale Hessen die Werbung als unzulässig einstufte: Ein Reformhaus hatte pflanzliche Nahrungsergänzungsmittel mit Cistuskraut als „immunstärkend“ beworben. Dabei ist diese Aussage in Bezug auf pflanzliche Inhaltsstoffe nicht zulässig, lediglich die zugesetzten Vitamine und Mineralstoffe dürfen mit dem Label „erhält das Immunsystem“ beworben werden.

Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) gab gar eine Warnung vor Wirkungsbehauptungen wie „Schützt vor Viren“ heraus. „Da wird gesunden Menschen etwas Immunstärkendes versprochen“, sagt Wiebke Franz von der Verbraucherzentrale Hessen. „Das ist nicht in Ordnung.“

Botanicals in unregulierter Grauzone

Der Fall weist auf ein viel größeres Problem hin: Nahrungsergänzungsmittel mit pflanzlichen Inhaltsstoffen, sogenannte Botanicals, existieren in einer weitgehend unregulierten Grauzone. Die Gründe dafür liegen in Brüssel, Berlin, in den Landeshauptstädten, auf kommunaler Ebene und beim Verbraucher selbst.

Im leichtesten Fall verlieren Käufer und Patienten Geld und Zeit, im schlimmeren riskieren sie Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten oder nehmen eine wirksamere Behandlung nicht in Anspruch, weil sie an eine heilende Wirkung der Nahrungsergänzungsmittel glauben. Im schlimmsten Fall geraten verunreinigte oder gar vergiftete Präparate auf den Markt und in den Einkaufskorb.

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Der Ursprung des Problems liegt bei der EU-Kommission: Die machte es sich in der Health-Claims-Verordnung von 2006 zur Aufgabe, die gesundheitsbezogenen Behauptungen von Vitaminen, Mineralstoffen und auch pflanzlichen Inhaltsstoffen zu überprüfen. Bei den Vitaminen und Mineralstoffen gelang das: Es gibt heute eine verbindliche Liste der EU-Lebensmittelsicherheitsbehörde EFSA darüber, welche Behauptungen für welche Inhaltsstoffe verwendet werden dürfen. Der Ton der zugelassenen Claims ist überaus konservativ. Kalzium etwa werde „benötigt, um normale Knochen zu erhalten“.

Pharmaindustrie ist verärgert

Das Problem bei Botanicals: Eine Überprüfung ihrer Wirkbehauptungen ist seit zehn Jahren ausgesetzt. Bisher benutzte Behauptungen dürfen aber weiter genutzt werden. Untätigkeitsklagen von Herstellern pflanzlicher Arzneimittel, die aufwendig zugelassen werden müssen, wurden bisher abgewiesen. Das ärgert die Pharmaindustrie. „Unverständlich ist die Haltung der EU-Kommission, dass eine Verordnung trotz klarer Vorgaben einfach nicht umgesetzt wird“, sagt Nicole Armbrüster, Geschäftsfeld-Leiterin für Biologische und Pflanzliche Arzneimittel beim Bund der Pharmazeutischen Industrie. „Das ist aus meiner Sicht eine Vernachlässigung des Verbraucherschutzes.“

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Ein weitere Regulierungslücke klafft bei den Höchstmengen der Inhaltsstoffe. Ein Marktcheck der Verbraucherzentrale für Isoflavon-Produkte zeigt, dass 14 von 22 Produkten (64 Prozent) eine so hohe Verzehrempfehlung hatten, dass die EFSA-/BfR-Orientierungswerte für die tägliche Aufnahme von Soja- oder Rotklee-Isoflavonen überschritten wurden. Selbst für Vitamine und Mineralstoffe gibt es keine einheitlichen EU-weiten Höchstwerte. In der vergangenen Woche kündigte das BMEL aber an, eine Festsetzung von Höchstwerten bei der EU-Kommission einzufordern.

Föderalismus als drittes Problem

Das dritte Problem liegt im Föderalismus. „Die Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln können schnell innovative Produkte auf den Markt bringen, was auch daran liegt, dass in Deutschland niedrigere Hürden für die Markteinführung gelten“, sagt Armbrüster. Nahrungsergänzungsmittel gelten als Lebensmittel und müssen sich beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) lediglich registrieren lassen.

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Die Behörde leitet dann die Anmeldung zur Überprüfung an die Kontrollbehörden der Bundesländer weiter, in denen das Präparat vertrieben künftig werden soll. Auf Anfrage teilte das BVL mit, dass man „hauptsächlich koordinative Aufgaben“ wahrnehme, „wie etwa die zentrale Entgegennahme der Nahrungsergänzungsmittel-Anzeigen“. Verantwortlich für die Sicherheit von Lebensmitteln und dazu gehören Nahrungsergänzungsmittel sind die Hersteller.

Zwei SWR-Journalisten recherchierten, dass die Kontrolle durch die Landesbehörden nicht funktioniert: Ein Präparat mit Stechapfelextrakt, das giftig für den Menschen ist, konnte ungehindert registriert werden und wurde monatelang nicht überprüft. „Ich erwarte von dieser Behörde, dass sie die Einhaltung der rechtlichen Bestimmungen auch prüft“, schreibt Bärbel Bas. „Es liegt in der Verantwortung der Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, sicherzustellen, dass schädliche Stoffe in Nahrungsergänzungsmitteln nicht in Umlauf gebracht werden.“

Nahrungsergänzung im Regal neben Arznei

BPI und Verbraucherzentrale fordern, eine zentrale Zulassung statt einer Registrierung und schärfere Kontrollmechanismen einzuführen. Denn Botanicals werden heutzutage in großen Mengen über das Internet gehandelt, was eine regionale Kontrolle umso ineffektiver macht.

Am Ende liegt das Problem im Handel und beim Verbraucher. In Drogerien und Apotheken stehen Nahrungsergänzungsmittel oft neben der pflanzlichen Arznei. „Eine Packung mit einem Ginkgoblatt kann beides enthalten: Nahrungsergänzungsmittel und Medizin“, sagt Nicole Armbrüster. „Beide fallen aber unter komplett unterschiedliches Recht.“ Arzneimittel dienten zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten, während Nahrungsergänzungsmittel die Ernährung ergänzen – ohne Heilanspruch.

Armbrüster und Franz wünschen sich deshalb bessere Beratung vor allem in den Apotheken. Letztlich sollten Nahrungsergänzungsmittel nur eingenommen werden, wenn sie vom Arzt indiziert sind. Deutsche Apotheken setzen im Jahr 560 Millionen Euro allein mit Vitaminen und Mineralstoffen um. 2018 wurden 225 Millionen Packungen Nahrungsergänzungsmittel verkauft.

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