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Zurück auf los. Karsten Deege (oben) ist 41 und Azubi in einer Tischlerei in Prenzlauer Berg. Er hat einiges aufgegeben, um das Handwerk zu erlernen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berufliche Neuorientierung: Späte Lehre

Es ist noch ein Randphänomen: Wer heute über 40 ist und eine neue Ausbildung beginnt, gilt als Exot. Doch ein Neustart kann sich durchaus lohnen. Zwei Erfahrungsberichte.

Es scheint Lichtjahre her, dass Karsten Deege Coach bei einer Versicherung war und Azubis ausbildete. Dass er sich morgens im Anzug vor die Klasse stellte und danach fragte, was die jungen Schüler unter Altersvorsorge verstehen. Rentenversicherung, Lebensversicherung und Sparen. Irgendwann schienen ihm selbst die Antworten nicht mehr so klar und eindeutig. Altersvorsorge, das musste doch mehr sein als das Anhäufen von Geld. Immer tiefer bohrte sich die Frage in seinen Kopf: Was mache ich hier eigentlich? Es dauerte zwei Jahre, bis er den Mut fasste zu gehen.

Heute macht er sich nicht mehr auf den Weg in ein schickes Bürogebäude. Der 41-jährige drahtige Mann steht in Cordhose und Shirt in einer Werkstatt in einer alten Fabrikhalle in Prenzlauer Berg. Er misst und sägt Holz für Möbel, fegt Späne zusammen, packt an beim Ausladen von Brettern und beim Einbau von Schrankwänden in Wohnungen. Deege ist zurück auf Los gegangen und nun Azubi in einer Tischlerei. „Genau so habe ich mir das vorgestellt“, sagt er.

So ganz kann der Chef der Tischlerei, Henrik Schwerdtner, den neuen Azubi nicht verstehen. Mit Ende 40 ist er selbst kaum älter als Deege. Seit fast zwanzig Jahren ist er im Geschäft und zufrieden. Doch als der einstige Versicherungsexperte vor etwas mehr als zwei Jahren zu ihm kam und nach einer Lehrstelle fragte, fand Schwerdtner keinen Grund, ihn nicht einzustellen. Etwa 40 bis 50 junge Frauen und Männer im Jahr interessieren sich für eine Lehre in seinem kleinen Betrieb. Doch er entschied sich für Deege. „Man hat gespürt, dass er außergewöhnlich motiviert ist“, sagt der Tischlermeister.

Schwerdtner zog vor dem seltsamen Typen innerlich den Hut. Wer lässt schon eine sichere Führungsposition sausen, um beruflich von vorn anzufangen. Wer verzichtet auf ein gutes Einkommen und legt so viel Geld zurück, dass er klar kommt, wenn drei Jahre lang nur ein paar hundert Euro im Monat aufs Konto kommen. Wer ist mit 40 bereit, sich von Gesellen Anweisungen geben zu lassen, die seine Kinder sein könnten. Das waren dem Chef genug Argumente.

Noch sind Menschen wie Karsten Deege, die sich in der Lebensmitte umorientieren, Exoten in unserer Arbeitswelt. Gerade einmal 11 von 10 000 Azubis in Deutschland sind nach der Ausbildungsstatistik des Bundesinstituts für Berufsbildung (Bibb) 40 Jahre oder älter. In Berlin, der Stadt, die den Ruf hat, für Neustarts offen zu sein, ist der Anteil der Lehrlinge 40+ genauso niedrig.

Dennoch. Das Thema spielt eine immer größere Rolle. „In den nächsten Jahrzehnten wird es mehr Menschen geben, die diesen Schritt gehen“, sagt der Sprecher der Industrie- und Handelskammer (IHK) Berlin, Gerd Woweries. „Es wird in Zukunft immer wahrscheinlicher, auf Menschen zu treffen, die jenseits des klassischen Ausbildungsalters noch einmal von vorn anfangen“, sagt Arbeitsmarktexperte Hilmar Schneider vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA).

Die Experten halten das nicht nur für realistisch, weil die Lebensarbeitszeit länger wird und sich solche späten Bildungsinvestitionen auf lange Sicht durchaus lohnen. Sie halten diese Entwicklung auch für wahrscheinlich, weil in spe Unternehmen noch mehr auf Ältere angewiesen sein werden, um Stellen zu besetzen, für die sie keine jungen Fachkräfte mehr finden.

Einige Unternehmen haben das erkannt. Etwa die Sparkasse in Meißen. Als der Bank in der sächsischen Stadt des Porzellans der Nachwuchs ausging, bot sie Quereinsteigern die Chance, sich in zwei Jahren zu Sparkassenkaufleuten zu qualifizieren. „Der älteste Azubi war um die 50“, sagt Sprecher Ralf Krumbiegel. Wer die Prüfung schaffte, hatte einen Job sicher. Inzwischen sind alle Stellen besetzt.

Wenige Unternehmen haben das Potenzial entdeckt

Die Direktbank Ing-Diba setzte aus einem anderen Grund auf Ältere. Mit der Initiative „Ausbildung 50+“ wollte sie mehr Vielfalt in ihre Mitarbeiterteams bringen und qualifizierte die Teilnehmer zu Servicefachkräften für Dialogmarketing und zu Bankassistenten. Dafür erhielt die Bank den Deutschen Diversity Preis.

Noch sehen Unternehmen oft nicht das Potenzial. Nach einer Untersuchung der ESCP Europe und der Prüfungsgesellschaft Ernst & Young von 2011 setzt nur knapp jeder dritte von 700 Mittelständlern bei der Gewinnung von Fachkräften auf neue Zielgruppen, auf Frauen, Migranten oder Ältere. Das diese Gruppen auch für die Ausbildung interessant sein könnten, ist längst nicht in den Personaletagen angekommen.

Beispiele dafür gibt es einige. Der Energiekonzern Vattenfall, der in Berlin etwa 100 Ausbildungsplätze jährlich vergibt, zählt aktuell gerade mal sieben Lehrlinge, die 30 Jahre alt sind. Das Durchschnittsalter liegt bei 21. Beim Flugmotorenbauer Rolls-Royce in Dahlewitz sind ältere Azubis kein Thema, genauso wenig wie bei der Supermarktkette Kaiser’s-Tengelmann. Keine Bewerber, keine älteren Azubis. Bei der Deutschen Bahn kann man auf keine konkreten Zahlen verweisen. Ältere Azubis kommen aber immer mal wieder vor, sagt die Sprecherin.

Nur die Universitätsklinik Charité scheint da weiter. „Das Alter hat für uns keine Bedeutung“, sagt Frank Henkel, stellvertretender Leiter für die Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege. Das kann er belegen. Aktuell sind zehn Frauen und drei Männer dabei, die zwar noch nicht alle über 40 sind, aber vor 1979 geboren, also mindestens 33. Die älteste der angehenden Gesundheitspfleger ist 50.

„Bei älteren Azubis muss es sich keineswegs um die ‚Zweite Garde' handeln“, sagt Marion Festing von der ESCP Europe Wirtschaftshochschule Berlin. Oft sei eine zweite Ausbildung eine Chance für Frauen, die nach der Familienphase wieder in den Beruf einsteigen. „Sie verfügen vielleicht nicht über spezielle Computerkenntnisse, dafür aber über soziale Kompetenzen oder Managementfähigkeiten.“ Zudem seien Ältere oft sehr zielstrebig.

Dennoch sieht die Professorin für Personalmanagement Probleme. „Junge Menschen lassen sich leichter formen“, sagt sie. Zudem sei es für Ältere recht schwer, in Neuen Medien, Technologien oder Social Media gegenüber Jüngeren Wissen aufzuholen. Im Dienstleistungsbereich, in Organisation oder der Produktion hätten aber auch ältere Einsteiger Chancen.

Stephan Mauersberger gehört zu den späten Azubis der Charité. Er ist 44, trägt Zopf und Strickpullover. Über dem Stuhl im Aufenthaltsraum der Ausbildungsschule hängt seine Fahrradtasche. In seinem früheren Leben war er das, was der späte Azubi Karsten Deege werden will: ein Tischler.

Eigentlich hatte Mauersberger Spaß am Tischlern. Bis die Wende kam. Dann war plötzlich so vieles möglich und ihm reichte die freie Zeit, die nach der Werkstatt vom Tage übrig blieb, nicht mehr aus. Er wollte leben, reisen, mit seiner Band, in der er Gitarre spielte, auf Tour gehen. Eine Teilzeitstelle aber fand er nicht. Also suchte er nach einem Job, mit dem sich all das verbinden ließ – und ging in die häusliche Krankenpflege.

„Pflege hat mich schon immer interessiert“, sagt er. Er arbeitete sich als Helfer auf Probe ein – und blieb 18 Jahre. Freizeit hatte er nun genug. Seine Stelle war auf 25 Stunden die Woche reduziert. Die Arbeit mit den Kranken gefiel ihm. Aber irgendwann wurde das Geld knapp – und seine Chefin riet ihm, noch eine Ausbildung zu machen, um beruflich voranzukommen. Drei Bewerbungen hat er verschickt. Dann kam die Einladung der Charité.

Das Lernen fällt ihm etwas schwerer als seinen jungen Mitschülern, meint der Azubi. Um sich auf die Klausuren vorzubereiten, spricht er sich den Stoff auf den MP3-Player und joggt damit von Prenzlauer Berg in den Humboldthain in Wedding oder am Landwehrkanal in Kreuzberg entlang. So kann er zwei Dinge verbinden: Ausbildung und das Training für den nächsten Marathon.

Zeit – die ist für ihn jetzt wieder zu einem raren Gut geworden. Aber ihm war vorher klar, dass der Einsatz hoch ist. „Dafür steht mir nach der Ausbildung alles offen“, sagt er. Besteht er die Prüfung, ist ihm ein Job an der Charité sicher. Er könnte ins Ausland gehen. „In vielen Ländern sind Krankenpfleger gesucht“, sagt er. Auch finanziell wird es dann endlich bergauf gehen. Zwar liegt sein Azubi-Gehalt mit monatlich 825 Euro brutto im ersten Jahr bis zu 988 Euro im dritten weit über dem des Tischler-Azubis Deege. Doch auch damit ist es schwer, auszukommen. Freundin und Familie unterstützen ihn. Etwas Geld kommt bei den regelmäßigen Auftritten mit seiner Band zusammen. Als ausgebildeter Pfleger verdient er dann 2050 bis 2200 Euro brutto Einstiegsgehalt, plus Schichtzulage.

Karsten Deege kann von seinem Arbeitgeber nicht übernommen werden. Sein Chef beschäftigt einen festen und zwei freie Mitarbeiter. Mehr geht nicht. Das war von Anfang an klar. Das hat er eingeplant. Nach der Lehre will er auf „Motivsuche“ gehen und so wie ein Fotograf sein Thema finden, sich spezialisieren – und später dann selbstständig machen.

Das Tischlerhandwerk soll sein Zukunftskapital und seine Altersvorsorge sein. Denn mit 67 will er nicht in den Ruhestand gehen und überlegen, wie er angehäuftes Geld investieren kann. Er stellt sich vor, in einer Werkstatt zu stehen, Holz zurechtzusägen und daraus Kinderspielzeug zusammenzusetzen. Bleibt er gesund, arbeitet er gern auch bis er 80 ist.

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