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Die Tafeln in Deutschland registrieren in der Coronakrise eine größere Nachfrage.

© Martin Schutt/dpa

Armuts- und Reichtumsbericht: In Wahlkampf-Zeiten hat jede Studie mindestens zwei Wahrheiten

Ob Corona Ungerechtigkeit in Deutschland verstärkt hat, wird Teil der Debatte bis September sein. Die Interpretation des Armutsberichts gibt einen Vorgeschmack.

Am Mittwoch dieser Woche war es wieder so weit. Das Bundeskabinett beschloss den sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Er erscheint alle vier Jahre und liefert diesmal auf 555 Seiten jede Menge Stoff über die Vermögensverteilung in Deutschland, Aufstiegschancen und die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit. Und damit auch jede Menge Munition, um politische Botschaften in Wahlkampfzeiten mit Zahlen zu unterlegen.

In der politischen Rezeption links der Mitte wurden vor allem folgende Ergebnisse in den Vordergrund gerückt: Es finde eine Verfestigung der Armut statt. Während für 75 Prozent das Einkommen gleichgeblieben oder sogar gestiegen sei, belaste die Pandemie finanziell vor allem die Einkommensschwachen. Zudem blieben die Aufstiegschancen in die untere Mittelschicht auf einem konstant niedrigen Niveau.

Bei den Grünen nannte man die Ergebnisse zur Ungleichheit „unwürdig und inakzeptabel“, von den Linken hieß es, die Zahlen würden einen „Sprengsatz an den Grundpfeilern der Demokratie“ bergen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) verknüpfte die Vorstellung des Berichts mit der Forderung nach einem Mindestlohn von zwölf Euro. Die Deutsche Presseagentur betitelte den Text zu Heils Äußerungen mit „Kein Entkommen aus der Armut“.

Andere Studie sprechen eine andere Sprache

Die pessimistische Lesart der aktuellen Studie mag überraschen, denn zuletzt waren zahlreiche Studien veröffentlicht worden, die ergaben, dass die Einkommenskluft in der Coronakrise geschrumpft ist. So zeigte eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, dass Selbstständige – eine Gruppe, die statistisch zu den Besserverdienenden zählt – 2021 Einbußen von 16 Prozent oder im Schnitt 457 Euro hinnehmen mussten.

Beamte und Angestellte konnten fünf Prozent mehr als 2019 vorweisen. Zudem kamen zahlreiche Ökonomen zu dem Schluss, dass die Corona-Hilfsprogramme vor allem die wirtschaftlichen Folgen für die Ärmsten abgemildert hätten. Das deutsche Kurzarbeitergeld gilt dafür als Paradebeispiel.

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Und so liefert der eher wirtschaftsliberale Flügel der Ökonomen in Deutschland denn auch eine andere Interpretation des Armuts- und Reichtumsberichts. „Die Arbeitslosigkeit verringerte sich, die Beschäftigungssicherheit stieg und auch die Anzahl langzeitarbeitsloser Menschen ging zurück“, meinten die Ökonom:innen Judith Niehues und Maximilian Stockhausen vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW), das den Arbeitgebern nahesteht. Zudem sei der Anteil derjenigen, die unter materiellen Entbehrungen leiden, zwischen 2010 und 2019 fast kontinuierlich gesunken.

Stimmt die pessimistische Lesart?

Ein Bericht, zwei Wahrheiten? Angesichts des Umfangs des Papiers ist es nicht überraschend, dass die Lektüre mehr als eine klare Aussage zulässt. Interessant wäre aber vor allem die Frage, welche Sichtweise sich bewahrheiten wird. Aus berufenem Munde geht hier die Tendenz zur pessimistischen Variante. „Statistiken, die eine sinkende Einkommensungleichheit während der Pandemie aufzeigen, könnten irreführend sein“, schreibt die Harvard-Ökonomin Stefanie Stantcheva in einer Studie.

Der Grund sei vor allem das Homeoffice und Homeschooling. Während Gutverdiener tendenziell häufiger zuhause arbeiten und ihren Kindern gute Lernbedingungen bieten können, stellt die Situation schwächere Einkommensschichten vor Probleme, so die Forscher. Das werde sich langfristig auch auf die Einkommen auswirken. Da der Wahlkampf aber eher kurzfristiger Natur ist, wird in den kommenden Wochen Platz für beide „Wahrheiten“ sein.

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