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Jutta Allmendinger (60) ist Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

© Mike Wolff

Arbeitsmarktforscherin Jutta Allmendinger: „Die Jungen wollen nicht das Leben ihrer Väter führen“

WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger über regelmäßige Check-ups bei der Arbeitsagentur, bezahlte Auszeiten von der Arbeit und Rabenmütter.

Frau Allmendinger, gibt es Berufe, die Schulabgänger jetzt lieber nicht mehr ergreifen sollten, weil sie bald verschwinden?
Es gibt Tätigkeitsbereiche, die durch den technischen Wandel gefährdet sind. Denken Sie nur an Kassiererinnen, Reinigungskräfte, einige kaufmännische Berufe, Lokomotivführer, U-Bahn-Fahrer. Ich würde aber nicht allgemein davon abraten, diese Berufe zu erlernen.

Nicht?

Nein, und zwar aus mehreren Gründen: Wir gehen nicht davon aus, dass diese Tätigkeiten ganz verschwinden. Manche Menschen kaufen einfach lieber in Geschäften ein, in denen sie in direktem Kontakt mit dem Verkaufspersonal stehen, oder lassen sich weiterhin von Menschen statt Maschinen fahren. Die genannten Tätigkeiten werden auch nicht von heute auf morgen verschwinden. Wenn man solche Jobs wählt, muss man sich aber darauf einlassen, im Laufe des Lebens etwas Neues zu erlernen und Wirkungsbereiche zu wechseln.

Was wäre denn zukunftsfest?

Zum einen die sorgenden Berufe, wie Erziehen, Heilen und Pflegen, und natürlich der ganze technologische Bereich, das Programmieren und Codieren.

Und dann wird ein Müllkutscher Altenpfleger?

Was ist das Problem? Natürlich muss man viel Neues lernen und braucht dafür eine richtige Ausbildung. Aber man fängt doch nicht bei null an. Zu einem Berufsbild gehören technische, handwerkliche und praktische Fähigkeiten, aber auch soziale Kompetenzen wie Team- und Konfliktfähigkeit. Und die bringt der Müllfahrer natürlich mit. Bei der Berliner Stadtreinigung arbeiten alle in Teams. Natürlich muss der Übergang gut organisiert werden. Ich könnte mir vorstellen, dass man halbtags weiterarbeitet und berufsbegleitend eine zweite Lehre macht, durchaus etwas ganz anderes und neues. Noch sind wir darauf schlecht vorbereitet.

Ihre neue Studie hat gezeigt, dass Menschen keine Angst haben, dass ihnen Roboter die Arbeit wegnehmen. Erstaunlich, oder?
Ja. Viele schützen sich vor der Hilflosigkeit. Sie wissen um den technischen Fortschritt, fragen sich aber, was sie selbst ganz konkret machen können. Sie brauchen Hilfestellungen, Hinweise, wohin es für sie gehen könnte, wenn ihr Job nicht mehr gebraucht wird, und wie sie sich umschulen lassen können. Wir brauchen eine vorausschauende Beratung – nicht erst, wenn jemand arbeitslos ist, sondern schon davor.

Wer sollte sich darum kümmern?

Die Bundesagentur für Arbeit könnte das tun. Sie ist breit in der Fläche aufgestellt und verfügt über die nötigen Daten. Sie muss eine Agentur für Arbeit und Qualifizierung werden.

Aber die Arbeitsagentur schafft es doch nicht mal, die Qualität der bestehenden Weiterbildungsangebote zu garantieren!

Da mag es Defizite geben. Aber ich sehe Entwicklungsmöglichkeiten. Stichwort „vorausschauende Beratung“: Die Beraterinnen und Berater müssen einen Schwerpunkt auf Prävention legen. Es wird künftig nicht mehr nur um einen kleinen weiterführenden Kurs gehen.

Sondern?

Ich stelle mir das vor wie die Vorsorge beim Arzt. Alle zwei Jahre bekomme ich eine Mammografie-Aufforderung. Dann weiß ich: Ich sollte mich mal wieder durchchecken lassen, und das kann ich kostenlos an einem bestimmten Ort machen lassen. So könnte das auch im Berufsleben sein: regelmäßige Check-ups bei der Bundesagentur, eine Beratung, was zu tun ist, ob eine Weiterbildung nötig ist.

"Wir brauchen bedingungslose Auszeiten"

Jutta Allmendinger (60) ist Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.
Jutta Allmendinger (60) ist Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

© Mike Wolff

Hier eine Weiterbildung, da eine Auszeit. Führen solche Erwerbsbiografien nicht später zu Altersarmut?

Ich habe oft vor Augen, wie meine Eltern und Großeltern gelebt haben. Sobald wir Kinder da waren, hörten meine Oma und meine Mutter auf zu arbeiten, die Einkommen der Männer reichten für die ganze Familie, auch im Alter. Das ist heute anders. Man braucht ein zweites Einkommen, für Frauen ist das zudem existentiell wichtig. Das Unterhaltsrecht wurde geändert, im Falle der Scheidung sind sie auf ein eigenes Einkommen angewiesen. Genau dies bringt mich dazu, eine Umverteilung von Arbeitszeiten von Männern und Frauen zu fordern, und Erwerbsverläufe mit wechselnden Arbeitszeiten über die Zeit. Wir müssen über niedrigere Arbeitszeiten reden, gesamtwirtschaftlich verlieren wir durch die Umverteilung aber keine Arbeitszeit.

Wie realistisch ist die 32-Stunden-Woche in Deutschland?

Im Moment ist das der Wunsch von Frauen, die niedrigere Arbeitszeiten haben, und von Männern, die wesentlich länger arbeiten. Arbeitgeber tun sich damit noch schwer. Sie sind der Vorstellung verhaftet, dass Leitungsaufgaben nicht teilbar sind und viele Jobs nur in Vollzeit gehen. Das ist institutionelle Trägheit. Denn das ist schon zu organisieren.

Menschen mit Kindern können ihren Job vorübergehend an den Nagel hängen, um bei den Kindern zu bleiben. Arbeitnehmer ohne Kinder haben solche Freiheiten nicht. Schafft das Unfrieden am Arbeitsplatz?

Ja. Wir reden über ein bedingungsloses Grundeinkommen, wir brauchen aber bedingungslose Auszeiten. Nicht alle Menschen können oder wollen Kinder haben, dennoch wollen sie auch mal ein halbes Jahr aussteigen, reisen, sich um sich selbst kümmern. Das ist gesund und hält uns gesund. Wir brauchen daher nicht nur Auszeiten für Weiterbildung, Pflege und Erziehung, sondern auch Auszeiten, die nicht an solche Bedingungen geknüpft sind. Und wir können uns das auch leisten.

Sollte jeder einen Anspruch auf ein Sabbatical haben?

Ja.

Wie soll man das finanzieren?

Bisher finanzieren das ausschließlich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst, weil sie die Zeit vor- und nacharbeiten. Ich halte das für falsch. Arbeitgeber und der Staat müssten sich auch beteiligen.

Sie sind für die 32-Stunden-Woche. Sie möchten Arbeitnehmern Auszeiten bescheren. Sind wir denn im Arbeitnehmerwunderland?

Na ja, es geht ja nicht um einen lebenslangen Urlaub. Wir reden über eine bestimmte Zeit, vielleicht zwei Auszeiten in einem Arbeitsleben für jeweils sechs Monate oder ein Jahr. Wir wissen, dass Menschen gerne arbeiten, sie wollen etwas leisten. 45 Jahre Vollzeit am Stück gehen aber selten. Auszeiten und Weiterbildung früher im Leben halte ich für viel sinnvoller als Frühverrentung.

Treibt das die Arbeitskosten nicht aber in die Höhe?

Nein, Sie müssen das ganze Bild sehen. Es geht überhaupt kein Arbeitsvolumen verloren. Schauen Sie doch mal, wie viele Menschen vorzeitig ausscheiden und Erwerbsminderungsrenten bekommen. Und wie viele Frauen in Teilzeit feststecken. Wir haben hohe Potenziale an ungenutzter Arbeitszeit und hohe ungenutzte Leistungspotenziale.

"Die Jungen wollen mehr Freiheiten"

Jutta Allmendinger (60) ist Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.
Jutta Allmendinger (60) ist Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

© Mike Wolff

Sabbaticals und Arbeitszeitverkürzung können sich aber nur Leute gönnen, die gut verdienen!

Richtig. Unbedingt müssen wir über die Menschen sprechen, die wenig verdienen. Hier geht es um eine Pauschale, um ein bedingtes Mindesteinkommen für genau diese Auszeiten. Und insgesamt natürlich um angemessene Löhne.

Was heißt das?

Unsere neue Studie zeigt, dass Menschen bestimmte Vorstellungen über gerechte Löhne haben. Sie sollten weder zu niedrig noch zu hoch sein. Die meisten fordern neben dem Mindestlohn eine Begrenzung der Spitzengehälter nach oben.

Schließen Sie sich dem an?

Ja. Spitzengehälter und Bonuszahlungen sind oft nicht mehr mit Leistung zu hinterlegen. Neben der Steuerdebatte brauchen wir dringend einen Diskurs über die Einkommensverteilung.

Viele – auch Konzernchefs – sind für ein bedingungsloses Grundeinkommen, bei dem jeder Mensch einen bestimmten Betrag vom Staat bekommt, egal ob er arbeitet oder nicht.

Das wundert mich nicht. Arbeitgeber setzen auf den Staat und sparen eigenes Geld für eine gute Personalpolitik, für Weiterbildungen und Umschulungen. Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aber wäre das fatal. Jene mit guter Bildung könnten hinzuverdienen, anderen wird der Zugang zum Arbeitsmarkt abgekauft. An der Ungleichheit würde das wenig ändern. Wie gesagt: Bedingte Grundeinkommen finde ich aber wichtig.

Ticken die Jungen anders als die Alten?

Die Jungen wollen nicht das Leben ihrer Väter führen. Sie wollen mehr Freiheiten, wollen mehr reisen. Allerdings sagen auch die heute um die 50- oder 60-Jährigen, dass sie den Jungen solche Lebensentwürfe empfehlen. So groß sind die Unterschiede also nicht.

Es ist für Arbeitgeber schwierig, Arbeitsprozesse zu organisieren, wenn der eine Teilzeit machen will, der andere ein Sabbatical und der dritte in Elternzeit geht.

Ja, aber machbar. Kindererziehungszeiten kann man schon mit einigen Monaten Vorlauf planen, auch Sabbaticals. Wir müssen aber dringend darauf achten, dass solche Arbeitsverläufe von Männern und Frauen gleichermaßen gewählt werden.

Warum?

Stereotypisierungen prägen nach wie vor unsere Vorstellungen und unser Handeln. So hat eine Studie des WZB gezeigt, dass Väter keine Nachteile im weiteren Erwerbsleben haben, auch wenn sie Elternzeiten von zwölf Monaten nehmen. Bei Frauen gehen zwölf Monate auch in Ordnung. Nehmen sie aber nur zwei Elternmonate, werden sie noch heute als Rabenmütter bezeichnet und gelten als unsympathisch. Entsprechend werden sie seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen. Das lässt sich nur dann ändern, wenn Erwerbsarbeit und Pflegearbeit zwischen Männern und Frauen gleicher verteilt wird.

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JUTTA ALLMENDINGER (60) ist Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Nach ihrer Promotion an der Harvard University arbeitete sie unter anderem am Max-Planck-Institut und leitete das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Seit 2007 ist sie WZB-Präsidentin und Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Allmendinger ist liiert, hat einen 23-jährigen Sohn und ist Mitglied der SPD. Für die Vermächtnisstudie haben Allmendinger und andere über 3100 Menschen befragt, was sie den kommenden Generationen mitgeben wollen. Die Leitfragen lauteten: Wie ergeht es uns in der Welt von heute? Welche Gesellschaft wünschen wir uns für unsere Nachkommen?

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