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Auf dem Weg zum Berater. Viele Langzeitarbeitslose werden von einer Maßnahme in die nächste geschoben.

© Arne Dedert/ dpa

Arbeit im Jobcenter: Wie verheerend die Arbeitsbedingungen in Jobcentern sind

Befristungen, Überstunden, Gewalt: Die Arbeitsbedingungen in Jobcentern sind verheerend - mit Folgen für das Personal. Ein ehemaliger Mitarbeiter erzählt.

Einmal saß ihm ein Lkw-Fahrer gegenüber, Ende 50, auf der Suche nach Arbeit. Er wollte weiterhin lange, einsame Strecken auf der Autobahn zurücklegen, auch nachts, wenn das starre Geradeausschauen den Blick noch müder macht als am Tag. Doch niemand wollte ihn. Er sei zu alt. Unbrauchbar. Hermann Sahm* sah den Mann an, wissend, dass er wahrscheinlich keinen Job mehr bekommen wird – und dachte nur: Das könnte ich sein.

Diesen Gedanken hatte Sahm in den zehn Jahren, in denen er im Jobcenter Neukölln gearbeitet hat, oft. „Die meisten, die zu uns kamen“, erzählt er, „waren normale Leute, mit Problemen, die jeder bekommen kann.“ Ganz plötzlich. Das war das Erste, das er gelernt hat. Das Zweite war: Den wenigsten kann ich wirklich helfen. Egal was ich tue. Seit zwei Jahren ist Sahm, weiße Haare, Halbglatze, im Ruhestand – und erzählt nun, wie es ist, im Jobcenter zu arbeiten.

In Berlin sind an den zwölf Standorten 7244 Mitarbeiter tätig. 5680 in Vollzeit, 1564 in Teilzeit. Während Beschäftigte in Deutschland im Schnitt 15,2 Tage fehlen, weil sie krank sind, fallen Mitarbeiter in Berliner Jobcentern zwischen 17,9 und 25,6 Tagen im Jahr aus. So viele wie in keiner anderen Branche sonst.

Von Anfang an unterbesetzt

Wie belastend die Arbeit sein wird, deutete sich für Sahm früh an. 1992 fing er beim Bezirksamt in Neukölln an. Nach der Hartz-IV-Reform wurde er 2005 in das Jobcenter des Bezirks abgeordnet. Wie so viele seiner Kollegen wollte er also nicht dorthin. Er musste. „Und von Anfang an waren wir vollkommen unterbesetzt“, sagt Sahm. Geändert hat sich daran bis zuletzt nichts. Zur Zeit sind 112 Stellen in Berliner Jobcentern offen.

Statt 170 Kunden zu betreuen, wie es das Gesetz vorsieht, waren es laut Sahm mindestens 450. Waren Kollegen krank oder im Urlaub, sogar mehr als tausend. Um dieses Pensum zu schaffen, kamen Kollegen krank zur Arbeit. Machten Überstunden. „Einige befristete Angestellte stempelten zwar pünktlich um 16 Uhr ab“, sagt Sahm, „aber gingen dann wieder zurück an ihren Schreibtisch, um weiterzumachen.“ Ihre ungewisse Zukunft machte ihnen Angst und so strengten sie sich mehr an, als ihnen guttat. Mussten sie nach Ablauf ihres Vertrags tatsächlich gehen, bedeutete das für die Kollegen wiederum, wieder ein halbes Jahr lang jemanden neu einzuarbeiten.

Bettina König sitzt seit vergangenem Oktober für die SPD im Berliner Abgeordnetenhaus. Weil sie von den vielen Befristungen schon öfter gehört hatte, stellte sie mit ihrem Parteikollegen Lars Düsterhöft vor Kurzem eine Schriftliche Anfrage an die Senatsverwaltung für Arbeit zu dem Thema. Die Antwort lautet, dass von den 556 Befristungen fast 94 Prozent ohne sachlichen Grund erfolgt. „Das ist völlig inakzeptabel“, sagt König. Sie erwarte, dass alle Mitarbeiter unbefristet eingestellt werden.

Wie sehr diese prekäre Form der Arbeit die Mitarbeiter belastet, sah sie, als sie in der vergangenen Woche für einen Tag ein Jobcenter besuchte. Mit der Bilanz: „Ich finde es grotesk, dass die Personen, die andere in möglichst gute Arbeit vermitteln sollen, selbst zu so schlechten Bedingungen arbeiten.“

Von einer Maßnahme in die nächste

Bei jedem Skandal hatte Sahm gehofft, es ändere sich etwas. Zum Beispiel 2012, als der Bundesrechnungshof einen Bericht veröffentlichte, aus dem hervorging: Es wird nur vermittelt, wer leicht vermittelbar ist. Oder 2015, als der Journalist Günter Wallraff verdeckt in Jobcentern recherchierte und von Arbeitsfrust und geschönten Statistiken sprach. Doch geschehen ist nichts. Stattdessen sah Sahm, wie Kollegen abstumpften, anfingen zu trinken. Und wie gleichzeitig eine Industrie entstand, die von dem Hartz-IV-System wunderbar profitierte.

Anwälte standen direkt vor der Eingangstür, sprachen Langzeitarbeitslose an und klagten in ihrem Namen gegen die Berechnung des Hartz-IV-Satzes oder Sanktionen. Meist zu Recht, weil sie sich dabei auf kleine Formfehler konzentrierten, die sie mit etwas Mühe fanden. „Aber vor allem“, sagt Sahm, „haben die Träger das große Geld gemacht.“

Ein nicht geringer Teil der Langzeitarbeitslosen sei unfähig zu arbeiten. Sie hätten keinen Schulabschluss, seien krank, hätten Drogenprobleme – und würden deswegen von einer sinnlosen Maßnahme in die nächste geschoben werden. „Manche können sich ihre Wohnung mit den Teilnahmezertifikaten tapezieren“, sagt Sahm. Warum die Qualität und Zweckmäßigkeit der Maßnahmen nicht vernünftig überprüft werde, etwa vom Bundesrechnungshof, sei für ihn bis heute ein Rätsel.

Angst vor Übergriffen schwingt mit

Claudia Thiede-Tietze ist Verdi-Gewerkschaftssekretärin und für Jobcenter-Mitarbeiter zuständig. Die meisten würden den Arbeitslosen wirklich helfen wollen, sagt sie, aber sie müssten „so viele Vorschriften befolgen, dass selbst Hochmotivierte irgendwann frustriert sind“. Dazu kämen die strengen Zielvorgaben, die von oben nach unten gedrückt und viele unter einen enormen Druck setzen würden. Burn-out-Fälle seien nicht selten.

Worüber die Mitarbeiter noch klagen würden, sei die ungleiche Bezahlung. Etwa zwei Drittel seien bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) angestellt, ein Drittel bei der Kommune. Weil für beide Arbeitgeber aber unterschiedliche Tarifverträge existierten, bekämen die Angestellten der BA mehr Geld bei gleicher Arbeit. „Die Unterschiede liegen bei bis zu 400 Euro brutto im Monat“, sagt Thiede-Tietze.

Und dann sei da noch die Gewalt. Mitarbeiter würden bedroht, beleidigt und bespuckt werden. Zwei Mal wurden Jobcenter-Mitarbeiter in anderen Städten sogar schon erstochen. Deswegen habe es in Berlin Zeiten gegeben, da hätten Mitarbeiter die Küchen in den Jobcentern abgeschlossen, weil sie fürchteten, ein wütender Kunde könnte sich dort ein Messer holen und auch ausrasten. „Die Angst vor Übergriffen schwingt in Brennpunktbezirken immer mit“, sagt Thiede-Tietze. „Berlin ist da auch ein anderes Pflaster als etwa München.“

Sahm, der frühere Sozialarbeiter, konnte mit den meisten Menschen umgehen. Deswegen bekam er oft die schwierigen Fälle, die sich jüngere Kollegen oder Quereinsteiger nicht zutrauten. Er selbst wurde in all der Zeit nur einmal angegriffen. Ein Kunde schubste ihn gegen die Schulter, Sahm schwankte. Er drückte die Kombination auf seiner Tastatur, die einem Alarmknopf gleicht, und ließ ihn dann rausschmeißen. „Klar ist das Klientel in Neukölln auch mal ruppig“, sagt er. Aber wenn jemand 40 Jahre lang gearbeitet hat und dann auf einmal raus sei, hinter einer Statistik leise verschwinden solle, dann könne er seinen Ärger auch etwas verstehen.

*Name von der Redaktion geändert

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