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Wirtschaft: „Alle sagen Tempo“

Mit Innovationen will die Traditionsmarke die Marktführerschaft verteidigen – in diesem Jahr wird Tempo 75 Jahre alt

Ohrenbetäubender Lärm grollt durch die Halle. Weiße Flocken schweben im Raum und vermischen sich mit dem Wasserdampf, der von den Maschinen aufsteigt. Das Einatmen dieses feucht-staubigen Luft-Cocktails ist extrem unangenehm, das Donnern nur mit Gehörschutz zu ertragen. Kein schöner Ort, um hier seinen Tag zu verbringen. Die wenigen Menschen in der Halle haben sich in eine schallgeschützte Kabine zurückgezogen, die zwischen den Kolossen steht. Von hier aus kontrollieren sie die Papiermaschinen, jede so groß wie zwei Einfamilienhäuser. „Hier wird Tag und Nacht produziert, denn Papiermaschinen kann man nicht einfach so abstellen“, sagt Dieter Sator. Nur für eine Woche im Jahr kommen die Ungetüme zur Ruhe. Dann werden die notwendigen Wartungsarbeiten „in einem Aufwasch“ durchgeführt.

Hier, im rheinischen Neuss nahe Düsseldorf, arbeiten 650 Menschen an einem Marken-Urgestein: dem „Tempo“. Dieter Sator ist einer von ihnen. Der Personalmanager weiß, nur wenige Unternehmen haben das Glück, dass ihr Produkt landläufig mit einer ganzen Gattung gleichgesetzt wird: „Kein Mensch fragt nach einem Papiertaschentuch, alle sagen doch Tempo.“ Der annähernd hundertprozentige Bekanntheitsgrad der Marke in Deutschland schlägt sich auch auf den Absatz nieder. Tempo hat hier zu Lande einen Marktanteil von 50 Prozent.

Hygienischer als Stoff

Der Verkaufserfolg ist eng mit der Geschichte des Taschentuchs verknüpft. Tempo ist der Pionier der Branche. Vor 75 Jahren, am 29. Januar 1929, wurde Tempo als Warenzeichen durch die Vereinigten Papierwerke Nürnberg beim Reichspatentamt in Berlin eingetragen. Zu diesem Zeitpunkt schnäuzten sich die Menschen hauptsächlich mit Stofftaschentüchern. Das gestiegene Hygienebewusstsein in der damaligen Zeit und die Arbeitserleichterung – schließlich müssen Stofftaschentücher gewaschen werden – führte jedoch zu einer immer rascheren Verdrängung von Stoff durch Papier. Im Jahr 1933, nur vier Jahre nach der Markteinführung, wurden im Tempo-Werk in Heroldsberg bei Nürnberg bereits 35 Millionen Taschentücher hergestellt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die Produktion erst so richtig an Fahrt. Von 1955 bis 2004 vervielfachte sich der Jahresausstoß von einer auf zwanzig Milliarden Taschentücher. Der größte Teil der Produktion, die seit 1994 unter der Kontrolle des US-Konsumgüterriesen Procter & Gamble steht, wandert heute ins Ausland.

Allein auf dem Markt ist Tempo aber schon lange nicht mehr. 60 Prozent aller Taschentücher, die weltweit verbraucht werden, stammen aus kleineren Papierwerken mit unbekannten Namen. Marktführer in Europa ist außerdem der schwedische Hersteller SCA (Svenska Cellulosa Aktiebolaget), der unter anderem die bekannten „Zewa Softies“ produziert. Dass sich die Neusser nicht mehr auf den Lorbeeren vergangener Tage ausruhen können, wissen sie ohnehin ganz genau. „Wie alle Industrien, die in Deutschland produzieren, stehen auch wir ständig unter Kostendruck", sagt Sator. Ihm und seinen Kollegen ist bewusst, dass die Konzernleitung von Procter & Gamble in Cincinnati ständig darüber nachdenkt, ob die Produktion nicht in Billiglohnländer verlagert werden könnte. „Das haben wir bisher immer verhindert. Trotz der hohen Löhne in Deutschland versuchen wir, billiger und besser zu sein als andere“, erklärt Sator.

Pluspunkte sammelt das deutsche Werk vor allem durch Innovationen. Mit Minipäckchen für die Handtasche und duftenden Lotionen auf den Tüchern sollen neue Absatzkanäle erschlossen werden. Sator: „Gleichzeitig versuchen wir ständig, das Papier und die Verarbeitungsprozesse zu verbessern.“ So gelang den Papiermachern 1998 eine entscheidende Produktauffrischung. Verstärkte Kreuzungspunkte im Tempo sorgen seitdem dafür, dass sich die Zellulosefasern wie Mikrobrücken miteinander verbinden und das Taschentuch damit reißfester wird.

Diese Qualität erreiche ein Taschentuch von Aldi oder Lidl nicht, sagt Sator, ohne zu verschweigen, dass Tempo auch für die Handelsmarken der Discounter produziert. „Das ist dann aber ein einfacheres Papier mit einer anderen Prägung.“ Schließlich wollen die Neusser ihrem Premiumprodukt nicht selber das Wasser abgraben.

Tobias Symanski[Neuss]

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