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Vom Genuss zum Problem. Jeder Deutsche trinkt pro Jahr im Schnitt 16 Paletten Dosenbier oder 100 Flaschen Wein. Foto: p-a/dpa

© picture-alliance/ dpa/dpaweb

Alkohol am Arbeitsplatz: Trinken gegen das Zittern

Jeder sechste Deutsche hat ein Alkoholproblem. Der Griff zur Flasche ist ein gängiges Mittel, um Druck aus der Arbeitswelt abzubauen. Wenn das Feierabendbier zur Sucht wird, wird es aber auch im Job schwierig.

Morgens ein paar Tropfen in den Kaffeebecher, dann wird der Flachmann in der Aktentasche verstaut. In der U-Bahn noch ein Schluck hinter vorgehaltener Hand. Es wird ein stressiger Tag und das Zittern geht nicht mehr weg. Schnell noch das Kaugummi vor dem Aussteigen in den Mund, damit keiner im Büro merkt, dass zum Problem geworden ist, was für andere ein Genuss ist: Alkohol. Der Sekt in der Silvesternacht markiert das Ende eines langen Jahres, dann hat jeder Deutsche im Schnitt 16 Paletten Dosenbier oder knapp 100 Flaschen Wein getrunken.

Fast jeder sechste Deutsche hat einen riskanten Alkoholkonsum, sagt der Gesundheitsreport 2012 des Gesundheitsinstituts ISEG aus Hannover im Auftrag der Barmer Gesundheitskasse, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. Riskant heißt: mehr als ein Bier pro Tag. Und das kann zum Problem im Job werden. „Jede sechste Kündigung hat mit Alkoholkonsum zu tun“, sagt Suchtberater Reinhard Hoch. Diagnostiziert ein Arzt als Krankheitsgrund F10, dann weiß der Arbeitgeber: Hier ist jemand wegen Alkoholproblemen krank geworden. In 1423 Fällen wurde im vergangenen Jahr bei Berliner Barmer-Kunden diese Diagnose gestellt. Deren Behandlung hat über drei Millionen Euro gekostet. Und das sei „nur die Spitze des Eisbergs“, sagt der Geschäftsführer Hermann Schmitt von der Barmer Gek Berlin-Brandenburg. Denn nicht immer würden Ärzte so offen die F10-Diagnose, sondern stattdessen Stellvertreter-Diagnosen stellen, um den Patienten vor Abmahnungen zu bewahren.

Das habe aber in den letzten Jahren abgenommen, die Ärzte würden inzwischen verstehen, wie groß das Problem sei, sagt Petra Gansert-Dahms. Sie ist Sozialarbeiterin bei der Barmer Gesundheitskasse und wird unter anderem dann aktiv, wenn ein Arzt ein Alkoholproblem diagnostiziert hat.

Besonders gefährdet sind die 45- bis 54-Jährigen, sie werden am längsten wegen F10 krankgeschrieben. Im Durchschnitt 50 Tage im Jahr fallen sie deshalb aus. Auch wenn in der Öffentlichkeit eher über das sogenannte Koma-Saufen von Jugendlichen geredet wird: Auf 34 Krankenhauseinweisungen von unter 19-Jährigen kamen 467 Fälle von 40 bis 49-Jährigen im Jahr 2011. Männer sind doppelt so häufig von der Sucht betroffen wie Frauen. Sie seien aber auch seltener bereit, Hilfe anzunehmen: „Männer muss man zur Beratung zwingen.“ Gansert-Dahms droht von Fall zu Fall sogar damit, dass die Kasse das Krankengeld zurückhält, wenn der Kassenpatient sich nicht an die Suchtberatung wendet.

Männer, gerade im mittleren Alter, stehen unter immensem Leistungsdruck. „Wenn ich mich über die Arbeit definiere und dann merke, dass ich nicht mehr Schritt halten kann mit den jungen Kollegen, bekomme ich ein Problem. Alkohol ist für viele dann ein Trost.“ Hinzu kämen dann oft auch noch private Probleme oder Depressionen. Ein gewichtiger Auslöser für Alkoholismus sei die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust. Besonders hohe Suchtraten gebe es etwa bei Angestellten von Zeitarbeitsfirmen, sagt die Barmer-Studie.

Oft erkennen Chefs das Problem nicht, sagt Gansert-Dahms. Und Kollegen würden selten eingreifen oder sich an den Chef wenden, da sie dies als Anschwärzen empfänden. „Vorgesetzte müssen das Gespräch suchen und darin die Sorge um den Mitarbeiter herausstellen.“ Häufig laufe es aber anders, sagt Suchtberater Hoch. „Arbeitgeber achten nur darauf, dass die Arbeitnehmer noch funktionieren – dann ist Schluss.“ Das führe dazu, dass sich die Situation weiter verschlimmere. Und damit vergrößere sich auch der wirtschaftliche Schaden für das Unternehmen.

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