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Wirtschaft: Ach je, Europa

Zwischen Dover und Calais wird geschimpft. Aber es zeigt sich auch: Die Wut verbindet.

Eine schwarze Wolkenwand steht über dem Ärmelkanal. Wo an sonnigen Tagen beim Verlassen des französischen Hafens Calais schon Dover zu sehen ist, scheint die Insel jetzt unendlich weit weg. Der Kapitän warnt über Lautsprecher vor einer rauen Überfahrt. Er werde die Stabilisatoren anwerfen, könne aber nichts versprechen.

Solche Stabilisatoren könnten sie in der Europapolitik auch gut brauchen. Eine Woche nach dem Gipfeldrama schlägt David Camerons Nein immer noch hohe Wellen. Der britische Premier hat Angela Merkel und Nicolas Sarkozy mit ihrem dringenden Wunsch nach einer Vertragsänderung allein im Regen stehen lassen, weshalb nun eine Art Neben-EU gebaut werden muss, um den Euro zu retten.

Sind Kontinent und Insel auseinandergedriftet? Wo, wenn nicht auf diesem Schiff, das nun durch den Ärmelkanal pflügt, findet sich eine Antwort? Es ist „Spirit of Britain“ getauft worden, der Geist Großbritanniens.

Diesen hat der Rentner aus Deutschland, der zur Beerdigung eines Freundes fährt, zu Hause. Er ist mit einer Britin verheiratet – und nach fünf Jahrzehnten, die er auf der Insel gelebt und gearbeitet hat, selbst so britisch, dass auf dem Autodeck ein Daimler mit Oldenburger Kennzeichen, aber dem Lenkrad auf der rechten Seite steht. Cameron wolle die Finanzbranche schützen, weil es sonst ja nicht mehr viel Industrie zu schützen gäbe, meint er. Und er erzählt vom britischen Stolz; wie die Maschinen aus Deutschland – bekanntlich nicht die schlechtesten – in seiner Süßwarenfabrik damals noch einem angeblich viel strengeren britischen Qualitätstest unterzogen werden mussten. Der 77-Jährige lacht, als er sich daran erinnert. Beim Thema Europa geht der Riss mitten durch seine deutsch-britische Ehe. „Wir streiten seit einer Woche nur noch. Meine Frau sagt, Cameron habe das Richtige getan“, erzählt er: „Und ich sage: Der spinnt.“

An Bord ist er mit dieser Meinung ziemlich allein. Diane Rowlands zum Beispiel, die mit Mann und Kind aus Disneyland Paris zurückkehrt, hat nur lobende Worte für ihren Regierungschef parat. Sie hält die ganze Sache mit Europa für einen Fehler, beim EU-Beitritt 1973 „hat man uns nicht gut genug informiert“. Eine Mittfünfzigerin, die auf dem Achterdeck raucht, würde die EU am liebsten verlassen: „Ich finde es gut, dass sich Cameron nicht in diesen ganzen Euro-Mist hineinziehen lässt – das funktioniert doch nie.“

Für Besonnenheit an Bord ist der Kapitän zuständig. Auch er hat die zustimmenden Leserbriefe im konservativen Leitblatt „Daily Telegraph“ gelesen und die Meinungsumfragen gesehen, bleibt aber skeptisch: „Ob Cameron wirklich das Richtige getan hat, werden wir frühestens in fünf Jahren wissen“, sagt David Miller oben auf der Brücke. Einen EU-Austritt lehnt er ab: „Wir können doch nicht über Nacht aufgeben, was 38 Jahre lang aufgebaut wurde.“ Der dienstälteste Kapitän bei P&O Ferries ist selbst Teil dieser europäischen Geschichte Britanniens, die er – da der Autopilot die Autofähre steuert – in aller Ruhe erzählt. Nur der Tee fehlt. 1967 sticht Miller erstmals in See. Mit der Handelsmarine geht es um die ganze Welt: „Wir haben nicht mit Europa gehandelt, sondern mit unseren alten Kolonien, dem Commonwealth.“ Aber mit dem EU-Beitritt ändert sich das – die Hochseeflotte schrumpft, jetzt werden Männer für den nur 38 Kilometer breiten Ärmelkanal gebraucht.

Kurz vor der Küste klart der Himmel auf. Oben auf den weißen Kreidefelsen glänzt in der Sonne Dover Castle, die Burg, die dafür steht, dass seit dem Jahr 1066 kein fremder Soldat die Insel mehr betreten hat. Unterhalb, auf dem Hafengelände, stehen tausende von Containern und Lastwagen mit Exportgütern, die darauf warten, dass Miller sie auf der nächsten Fahrt mit hinübernimmt.

Kaum mehr als eine halbe Stunde dauert es, bis Passagiere und Ladung ausgetauscht sind und die „Spirit of Britain“ wieder gen Kontinent steuert. Mit an Bord sind diesmal zwei Gerüstbauer aus Thüringen, die von der politischen Aufregung gar nichts mitbekommen haben. „Diese Zeiten sind so verrückt“, sagt Ralf Seiler, „da kann man sich nicht mehr um alles kümmern.“

Richard Morgan dagegen kümmert sich ganz genau, verfolgt gebannt die Versuche, den Euro zu retten. Er ist mit seiner Frau auf dem Weg nach Brüssel, wo die beiden lange gelebt haben: er als Mitarbeiter einer US-Bank, sie als Lehrerin an der Britischen Schule im Vorort Tervuren. „Ich habe aus dieser Zeit noch einige Ersparnisse in Euro“, erzählt der Frührentner, „jetzt gehe ich sie in Pfund umtauschen.“ Der Euro als Pleitewährung, das Pfund als Hort der Stabilität? Das wissen der Rentner David und seine Frau besser. Sie leben in Küstennähe und machen den Kurztrip über den Kanal häufig, um Schokolade und Zigaretten zu kaufen. „68 Pfund kostet die Stange bei uns“, empört sich David – fast doppelt so viel wie in Frankreich. Alles werde immer teurer, die Wirtschaft liege am Boden, und die Staatskasse habe sich wegen der Bankenrettung geleert. Irgendwie habe Cameron mit seinem Nein schon Recht gehabt, jeder müsse nach sich selbst schauen. Aber besser als den Euro-Ländern, nein, besser gehe es auf der Insel ganz sicher nicht: „Wir stecken doch alle in demselben Schlamassel.“

Einer der vielen Bildschirme auf der Brücke zeigt die Position an: 51 Grad nördlicher Breite, 2,3 Grad östlicher Länge – die geographische Mitte zwischen englischer und französischer Küste. Neutralität mit demselben Abstand nach beiden Seiten darf man aber auch hier nicht erwarten. Dazu ist es mit dem Wissen voneinander nicht gut genug bestellt: „Echt? War das mit Cameron bei euch auch ein Thema?“ fragt der zweite Offizier Matthew Hooper. Vor zwei Wochen ist er zum ersten Mal unten durch- gefahren, im Eurostar von London nach Paris, und war beeindruckt von den nur 20 Minuten im Kanaltunnel – und davon, dass „Großbritannien und der Kontinent halt doch irgendwie zusammenhängen“.

Die Kontinentaleuropäer sind gleich zu Hause. Andreas Kahl muss noch nach Solingen. Mit seiner Frau, einer Hutmacherin, ist er in Luton gewesen, wo offensichtlich das Herz der britischen Hutszene schlägt. Von seiner Kanzlerin wünscht er sich auch ein Stück mehr Einsatz für’s vermeintlich nationale Interesse à la Cameron. „Ich bin schon für Europa“, sagt er, „aber wenn die Deutschen immer nur die Zahler sind...“

Auch die drei französischen Lastwagenfahrer, die auf die Ausschiffung warten, haben die Schnauze voll. Alle wohnen sie in der Region Calais, wo die Arbeitslosigkeit größer ist als im Rest Frankreichs. Die Wut ist groß. Auf Merkel, ihren Wau-Wau Sarkozy und überhaupt die EU. „Ich höre immer nur Brüssel, Brüssel, Brüssel“, schimpft einer der Männer, „Europa sind wir aber doch alle.“ Den Ist-Zustand des Kontinents nennt er beschissen: „C’est un Europe de la merde.“ Aber von Ressentiments hält er nichts: „Es ist doch auf beiden Seiten des Kanals derselbe Mist.“ Sagt er und verabschiedet sich zu seinem Lastwagen, während die „Spirit of Britain“ am Kai von Calais festmacht. Es regnet in Strömen.

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