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Tim Berners-Lee, der Erfinder des World Wide Webs.

© Pedro Fiuza/ZUMA Wire/dpa

30 Jahre World Wide Web: Das Netz potenziert die Möglichkeiten von Tyrannen und Aufklärern

Das WWW ist entzaubert. Aber mit mehr Transparenz, Besteuerung der IT-Giganten und besserem Wettbewerbsrecht kann es seine Kraft zurückbekommen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Tim Berners-Lee gehört zu den Unitariern. Das ist eine kleine Glaubensgemeinschaft, die im 19. Jahrhundert aus den Freien Protestanten hervorgegangen war. Sie weigerten sich, Kirchensteuern zu zahlen, weil Geld nicht aus Zwang, sondern aus Liebe gegeben werden soll. Freiheit statt Zwang, Aufklärung statt Dogma, Vernunft statt Gehorsam: Das ist eine Lehre, die für den britischen Physiker und Informatiker wie gemacht schien.

Vor 30 Jahren erfand Berners-Lee die Grundlage für das World Wide Web – nicht zu verwechseln mit dem Internet, das existierte seit 1969. Das WWW wurde ursprünglich geschaffen, um Wissenschaftlern den globalen Austausch von Informationen zu erleichtern. Dafür dachte sich der Brite eine neue Sprache aus, den Hypertext HTML (Hypertext Markup Language). Damit werden Internetseiten bis heute dargestellt.

Was für eine Zeit das war! In der Politik dominierte der Mauerfall, das Ende des Sowjetkommunismus, die neue Freiheit. Plötzlich schien alles möglich, das Wort „Wahnsinn“ prägte die gesellschaftliche Atmosphäre. Die Revolution in der Kommunikationstechnologie war kaum weniger elementar. Die Verheißungen hießen: flache Hierarchien, transparente Strukturen, grenzenlose Kommunikation, Beteiligung aller an politischen Prozessen, Entzauberung von Macht und Autorität.

Hightech-Multis profitierten von der Ideologie des freien Netzes

Kein Zufall, dass San Francisco zum Zentrum des Aufbruchs wurde. Dort formierten sich Hippie- und Studentenbewegung. Das magische Wort lautet „change“, Veränderung, die traditionellen Bahnen verlassen, radikal denken, experimentieren. Etwas Anarchisches schwingt darin mit. Heute sind aus „change“ die „disruptive innovations“ geworden, Strukturen aufbrechende Erfindungen. Google, Facebook, Airbnb, Apple. Nur zum Vergleich: Das Online-Bezahlsystem Paypal ist an den Börsen längst mehr wert als Deutsche Bank und Commerzbank zusammen.

Aus den Verheißungen dieser neuen Welt entstanden auch die Piraten. In Deutschland erhielten sie ihren stärksten Impuls durch die Pläne der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen („Zensursula“), kinderpornografische Webseiten zu sperren. Eine Onlinepetition dagegen wurde von mehr als 130.000 Menschen unterschrieben. Der Zugang zum Internet sollte „unbegrenzt, vollständig und frei“ bleiben.

Ähnlich massiv war der Protest, als in den USA die Internet-Tauschbörse „Megaupload“ abgeschaltet wurde. Geistiges Eigentum, Urheberrecht? Das verspotteten die Netzaktivisten als Kampfbegriffe einer „kulturellen Verwertungsindustrie“. Unfreiwillig gingen sie mit den Internetgiganten eine Allianz ein. Die Hightech-Multis profitierten von der Ideologie des freien Netzes. Man könnte auch sagen: Sie lachten sich ins Fäustchen.

Das Netz an sich ist weder böse noch gut

Dieselben Konfliktlinien brechen im aktuellen Streit über die von der EU geplante Urheberrechtsrichtlinie auf. Autoren haben Angst um ihre Tantiemen, Netzaktivisten befürchten eine Einschränkung kultureller Konsummöglichkeiten.

Im Wort „Wahnsinn“ sind „fantastisch“ und „schrecklich“ enthalten. Als in Tunesien und Ägypten mithilfe sozialer Medien die Despoten gestürzt wurden, schien eine der vielen Verheißungen wahr zu werden. Als Donald Trump sich mithilfe von Twitter ins Weiße Haus brachte, wurde die Kehrseite offenbar. China, Russland und andere Staaten tüfteln perfide Systeme digitaler sozialer Kontrolle aus. IT-Unternehmen registrieren bis ins Detail, was ein Nutzer konsumiert, wohin er sich bewegt, welche Freunde er hat, welche Suchbegriffe er eingibt. „Überwachungskapitalismus“ heißt das neue Schlagwort.

Dabei ist das Netz an sich weder böse noch gut. Aber es potenziert die Möglichkeiten von Tyrannen und Aufklärern, Hassverbreitern und Informationssuchenden, Manipulatoren und Big-Data-Sammlern. „Nicht resigniert, nur reichlich desillusioniert“, singt BAP. Entzauberung sollte zu keiner Abkehr führen.

Das Gebot der Stunde heißt vielmehr: regulieren, ohne zu strangulieren. Die EU-Datenschutzgrundverordnung hat die Richtung vorgegeben. Mehr Transparenz über Algorithmen und andere Datenanalysen, höhere Besteuerung der IT-Giganten, ein schärferes Wettbewerbsrecht, besserer Schutz vor Cyberangriffen: All das steht noch auf der Tagesordnung. Als das WWW erfunden wurde, war kurz zuvor die Mauer gefallen. Beide Ereignisse wirken nach. Mit dem Mauerfall indes kam eine Epoche zu Ende. Die Erfindung des WWW begründete eine neue.

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