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Bundestagabgeordneter Carl-Julius Cronenberg (FDP) ist Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales

© Inga Haar/Deutscher Bundestag

100 Jahre Stinnes-Legien-Abkommen: "Politik sollte die Sozialpartner allein verhandeln lassen"

Politiker mischen sich oft in Verhandlungen von Tarifpartnern ein. Dabei können diese vieles besser selbst regeln, das lehrt uns die Geschichte. Ein Gastbeitrag

"Die deutsche Sozialpartnerschaft ist zweifellos ein Erfolgsmodell. Sie ist eine tragende Säule der Sozialen Marktwirtschaft und hat spätestens seit den 1950er Jahren wesentlich zu Wohlstand und sozialem Frieden beigetragen.

Heute kündigen sich tiefgreifende Veränderungen in der Arbeitswelt an. Kann die Sozialpartnerschaft dabei noch einen Beitrag leisten, um die damit einhergehenden Risiken einzudämmen ohne die Chancen aufzugeben? Ich glaube ja!  Aber damit das gelingt, muss die Politik sich zurück nehmen. Vielmehr ist sie gut beraten, sich an die Ursprünge der Sozialpartnerschaft zu erinnern: das Stinnes-Legien-Abkommen vom 15. November 1918, dessen 100-jährigen Geburtstag dieser Tage gefeiert haben.

Auslöser war die Sorge von Arbeitgebern und Gewerkschaften, dass Politik sich von Ideologie statt von pragmatischer Vernunft leiten lassen könnte. Die Folgen wären unkalkulierbar gewesen. Der Blick in die Geschichtsbücher bestätigt die Skepsis der Protagonisten von damals: weder sozialistische Wirtschaftsordnungen noch der Verzicht auf jegliche staatliche Ordnung hat mit dem Erfolgsmodell Soziale Marktwirtschaft mithalten können.

Deshalb ist es klug, sich heute an einige Grundprinzipien zu erinnern:

1. Tarifpartnerschaft und Tarifautonomie sind zwei Seiten derselben Medaille. Das eine funktioniert nicht ohne das andere. Alle Eingriffe in die Tarifautonomie der letzten Jahre bekämpfen nicht die schwindende Tarifbindung sondern befördern sie.

2. Auch wenn es den Politikern schwerfällt: auch die Freiheit keinen Vertrag abzuschließen (negative Koalitionsfreiheit) ist ein unveräußerliches  Grundrecht und wichtiger Bestandteil der Vertragsfreiheit. Sie darf nicht eingeschränkt werden, sondern muss immer wieder gegen An- und Eingriffe verteidigt werden.

3. Wenn es sich in einer Arbeitswelt 4.0, wenn es sich in einer globalisierten Wirtschaft herausstellt, dass die Interessenkongruenz zwischen Beschäftigten und Arbeitgeber größer sind als die Divergenzen, dann ist sinkende Tarifbindung vielleicht auch Ausdruck von Fortschritt.

Wer nun nach wirksamen Rezepten für mehr Tarifbindung sucht, sollte nicht nach einfachen Antworten suchen sondern die Mühe einer differenzierten Analyse auf sich nehmen. Dazu im folgenden drei Gedanken:

Ja, je höher die Exportquote, desto schärfer auch der internationale Wettbewerb. Aber ist deswegen die Tarifbindung bei den großen exportabhängigen Unternehmen signifikant gesunken? Eher nicht. Vielleicht sogar im Gegenteil. Jedenfalls beklagen oft gerade kleine und mittlere Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie, das die Großen hohe Tarifabschlüsse akzeptieren, nur um Streiks und stehende Produktionslinien zu vermeiden und lieferfähig zu bleiben. Wenn das Muster sich über mehrere Tarifabschlüsse wiederholt, besteht das Risiko, dass der Flächentarif sich zum Luxuspaket entwickelt, das zunehmend viele Unternehmen überfordert.

Ja, Gesellschaft und Arbeitswelt ändern sich schnell und tiefgreifend. Jedes Jahr kommen mehr junge Leute mit hohen Bildungsabschlüssen auf den Arbeitsmarkt als Ältere ausscheiden. Ein insgesamt höheres Bildungsniveau in der Arbeitswelt zieht aber auch schnellere und bessere Spezialisierung und individuellere Kompetenzen mit sich. Die demographische Entwicklung und die nahende Vollbeschäftigung in zahlreichen Branchen und Regionen verstärken den Effekt: viele jüngere Beschäftigte haben ein gesundes Selbstbewusstsein und leiten das gewünschte Sicherheitsempfinden eher aus ihrem persönlichen Lebenslauf als aus der Tarifbindung des Arbeitsplatzes ab.

Ja, es gibt in Deutschland Problembranchen und Missbrauch bei Entlohnung und Sozialstandards. Und ja, solcher Missbrauch ist in tarifgebundenen Unternehmen seltener anzutreffen als in anderen. Aber wir sollten uns auch hier vor vorschnellen Schlüssen hüten. Wer immer und überall Allgemeinverbindlichkeit fordert, aber Missbrauchsbekämpfung meint, der läuft Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Viele Beschäftige im Niedriglohnsektor sind nicht arm sondern verdienen sich etwas hinzu, z.B. Rentner oder Studenten. Viele Leistungsbezieher von Arbeitslosengeld II kommen über die Runden, weil sie einen Minijob haben. Dagegen bedeutet Allgemeinverbindlichkeit immer auch Lohnkartell und trifft damit empfindlich Verbraucherinteressen oder fördert Schwarzarbeit. Beides kann nicht im Interesse des Gesetzgebers liegen.

Dem Gesetzgeber bleiben genügend viele dicke Bretter, die er im Interesse der Sozialpartner zu bohren hat: Bildung fördern, insbesondere um sozialen Aufstieg zu beschleunigen. Handel fördern, um die deutsche Exportwirtschaft zu stärken. Digitale Infrastrukturen auf- und ausbauen, um Teilhabe und Arbeitsplätze im ganzen Land zu sichern. Datenrecht reformieren, damit es nicht zum Fortschrittsverhinderungs- und Missbrauchsförderinstrument verkommt. Fairen Steuerwettbewerb weltweit verhandeln.

Es mag enttäuschend klingen, wenn Tarifbindung nicht qua Gesetz gestärkt werden kann. Vielleicht tröstet die Erkenntnis, dass sich soziale Systeme genau wie ökologische Systeme am gesündesten und nachhaltigsten entwickeln, wenn man sie ab und zu einfach nur in Ruhe lässt.

Unser Gastautor Carl-Julius Cronenberg (56) studierte Wirtschaftswissenschaften und leitet heute ein mittelständisches Familienunternehmen in der Metallbranche. Der FDP-Politiker gehört dem Deutschen Bundestag seit 2017 an und ist Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Sein Wahlkreis ist der Hochsauerlandkreis in Nordrhein-Westfalen.

Carl-Julius Cronenberg

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