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Im Exil. Ray Wong war eine der Stimmen der Revolution in Hongkong. Er musste fliehen und lebt nun in Göttingen. Den Kampf will er noch nicht aufgeben.

© Kin Cheung/AFP

„Wir haben solche Angst“: Warum die Hongkong-Revolution in Göttingen weitergeht

Schon wer über Protest nur redet, kann im Gefängnis landen. Hier berichten dennoch Hongkonger wie sie dem Zugriff Chinas trotzen. Auch in Deutschland.

Er wirkt angespannt, müde, nervös. Er spricht leise und manchmal nimmt er dabei sogar noch die Hand vor den Mund, beugt sich vorsichtig in Richtung seines Laptops, zum Bildschirm und Mikrofon. Eine Nachricht geht auf seinem Handy ein, er liest vor: Ein paar hundert Meter von seinem Haus entfernt sammele sich die Polizei. Das hat nichts mit ihm zu tun, bestimmt nicht. Aber angenehm ist die Vorstellung trotzdem nicht.

Das ist Hongkong, an einem Sonntag Mitte Juli 2020, spät am Abend.

In Hongkong ist plötzlich gefährlich geworden, was zuvor weitgehend in Ordnung war. Seine Meinung sagen zum Beispiel. Demonstrieren. Mit Journalisten, noch dazu ausländischen, in einem Video-Anruf über den Wunsch nach Unabhängigkeit sprechen.

Millionen haben demonstriert - und fürchten sich nun

Der junge Mann auf dem Bildschirm verzieht seinen Mund zu einem traurigen Lächeln. Er ist in seinen Zwanzigern, ein schmaler Kerl, der die Wochenenden des vergangenen Jahres für Demokratie in Hongkong demonstriert hat wie so viele Millionen Bewohner seiner Heimatstadt.

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Erst richteten sich ihre Proteste gegen eine Gesetzesänderung, die es erlauben sollte, Straftäter und Verdächtige unproblematisch nach China auszuliefern. Schnell kam es am Rande der regelmäßigen Versammlungen zu brutalen Straßenschlachten zwischen jungen Demonstranten und der Polizei. Als die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam das Gesetz schließlich zurückzog, wähnten sich die Demonstranten erfolgreich. Ihre Forderung nach Demokratie vermischte sich bald mit einem grundsätzlichen Protest gegen die Regierung in China.

Das Nationale Sicherheitsgesetz ändert alles

Nun, ein Jahr später, hat die Kommunistische Partei Chinas den Hongkongern eine neue Verordnung übergestülpt: das Nationale Sicherheitsgesetz.

Dahinter steht wohl der Wunsch, die Stabilität im Land zu wahren. Für die demokratiebewegten Hongkonger kommt es einer Unterdrückung gleich: Wem Terrorismus vorgeworfen wird, der muss ins Gefängnis. Was jedoch alles Terrorismus ist, bleibt vage. Schon Vandalismus kann dazugehören. Wer öffentlich die Demokratiebewegung unterstützt, kann verhaftet werden – ganz egal, ob er Hongkonger ist oder Tourist. Ein nationales Sicherheitsbüro wird als Ableger der chinesischen Staatsgewalt dafür sorgen, dass das Gesetz eingehalten wird. Die Mitarbeiter dürfen ohne Ankündigung Wohnungen durchsuchen, Menschen festhalten oder deren Kommunikation überwachen.

"Nenn mich Brandon Chu"

„Ich hoffe, dass sie das hier nicht finden und nachverfolgen können“, sagt der junge Mann im Video-Telefonat. Seinen echten Namen verschweigt er: „Nenn mich Brandon Chu.“

Brandon Chu war seit Anfang Juli bei keiner großen Demonstration mehr. Weil keine mehr stattfinden. „Die Menschen protestieren nicht mehr in den Straßen“, sagt er, „weil es das nicht mehr wert ist.“ Der Preis für Protest sei nun zu hoch. „Wir haben solche Angst“, sagt er.

Als das neue Gesetz am 30. Juni um 23 Uhr Hongkonger Zeit in Kraft tritt, kennt dessen Inhalt gerüchteweise nicht mal Regierungschefin Carrie Lam, so schnell ist es vom chinesischen Volkskongress installiert worden. Als am 1. Juli – dem 23. Jahrestag der Übergabe der ehemaligen britischen Kolonie Hongkong an China – traditionell Menschen in den Straßen demonstrieren, wird der Erste bereits festgenommen, weil er gegen das Gesetz verstoßen hat. Er hielt eine Flagge hoch, auf der er Unabhängigkeit für Hongkong forderte. Die Hongkonger Polizei twitterte stolz ein Beweisfoto.

"Man kann die Veränderung in den Straßen spüren"

Es ist ein Risiko, dass Brandon Chu nicht mehr eingeht. Er sehe, wie viele nun verurteilt werden, die während der Proteste festgenommen worden sind. Während die Polizei, so sagt er es, noch immer keine Rechenschaft über ihr brutales Vorgehen habe ablegen müssen.

„Man kann die Veränderung in den Straßen spüren“, sagt er. Die Menschen seien nicht mehr freundlich, wie üblich, stattdessen angespannt. Als liege über allen und allem wie ein Schleier die Bedrohlichkeit Chinas.

„Trotzdem“, sagt Brandon Chu, „wir beugen uns noch immer nicht.“

Sprechen ist gefährlich. Die Demonstranten protestieren stumm mit weißen Schildern.
Sprechen ist gefährlich. Die Demonstranten protestieren stumm mit weißen Schildern.

© REUTERS

Als am vergangenen Wochenende Hunderttausende Hongkonger ihre Stimmen bei den Vorwahlen der Opposition gaben, wusste niemand, ob sie dadurch schon das Gesetz brechen. Peking empfand es laut Mitteilung als „schwere Provokation“. Die meisten Stimmen erhielten junge Kandidaten, unter ihnen auch der pro-demokratische Aktivist Joshua Wong. Am 6. September sollen in Hongkong Parlamentswahlen stattfinden.

Alle Beweise wurden eilig entfernt

Geschäfte und Restaurants, die noch vor Kurzem mit Plakaten an ihren Fassaden und in den Fenstern gezeigt haben, dass sie die Demokratiebewegung unterstützen, entfernten all diese „Beweise“ eilig in der Nacht zum 1. Juli, sagt Chu.

Es war die Idee der Demonstranten gewesen, als klar wurde, dass ihr Protest in den Straßen gegen eine übermächtige Polizeigewalt eher aussichtslos sein würde. Sie gründeten den „yellow economic circle“, den gelben Wirtschaftszirkel, der pro-demokratische Geschäfte unterstützt. Karten und Apps wurden entwickelt, die zeigen, welche Läden gelb waren und welche blau, also pro-Peking. In stillem Einverständnis, das berichteten Demonstranten noch im Winter, standen sie lieber in einer langen Schlange für den „richtigen“ Kaffee an, als schnell im falschen Geschäft bedient zu werden.

Viele wollen auswandern

„Jeder weiß, auf welcher Seite du bist“, sagt Brandon Chu, der überzeugt ist, dass der gelbe Zirkel sich längst etabliert hat, dass auch jetzt noch klar ist, welcher Ladenbesitzer die Proteste unterstützt hat. Der Protest verlagerte sich damals ein erstes Mal – nun wird er es wieder tun müssen, unter erschwerten Bedingungen. Viele, die monatelang demonstriert haben, überlegen auszuwandern. Australien und Großbritannien erleichtern es Hongkongern bereits, ein Visum zu bekommen und sich einbürgern zu lassen. Wer einen BNO besitzt, einen British National Overseas Pass aus der Zeit, als Hongkong britische Kolonie war, lässt ihn nun erneuern.

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Beim Treffen der EU-Außenminister einigten sich jetzt auch Deutschland und Frankreich darauf, politisch verfolgten Hongkongern leichter einen dauerhaften Aufenthalt in der EU zu ermöglichen. Zuvor war bereits der chinesische Botschafter in Deutschland ins Auswärtige Amt bestellt worden, wo ihm mitgeteilt wurde, wie besorgt man um die Autonomie Hongkongs sei, nun, da das Sicherheitsgesetz in Kraft ist.

Es sei absurd, sagt Brandon Chu. „Noch vor Jahren lebten wir hier wie Menschen in jedem anderen freien Land.“ Er wird nicht gehen. Noch nicht.

"Wir geben den Kampf nicht auf"

In Göttingen sitzt ein paar Tage vorher unter dicken Kopfhörern ein junger Mann vor dem Computer, der sich anders entscheiden musste. Ray Wong ist einer der ersten zwei Hongkonger, die in Deutschland als politische Flüchtlinge anerkannt wurden und Asyl bekamen. Mittlerweile studiert der bald 27-Jährige Philosophie und Politik, bald stehen Klausuren an, eine Stunde Zeit für ein Videotelefonat über Skype hat er dennoch.

Dass Wong bereits im Herbst 2017 in Deutschland angekommen war, Asyl schließlich im Mai 2018 erhielt, wusste zunächst niemand. Bis auf die chinesische Regierung, die angeblich versucht habe, auf das Asylverfahren Einfluss zu nehmen. Erst als die Proteste gegen das Auslieferungsgesetz in Hongkong heftiger wurden, begann Wong sich öffentlich zu äußern. In Göttingen fühle er sich sicher, sagt er. Was er in Hongkong begonnen hat, führt er im Exil weiter.

Seite an Seite. Die beiden Hongkonger Flüchtlinge (v.l.) Ray Wong und Alan Li im Sommer 2019 mit der Grünen Katrin Göring-Eckardt.
Seite an Seite. Die beiden Hongkonger Flüchtlinge (v.l.) Ray Wong und Alan Li im Sommer 2019 mit der Grünen Katrin Göring-Eckardt.

© AFP

„Viele meiner Freunde und Freunde von Freunden wollen nach Großbritannien auswandern. Das heißt nicht, dass sie aufgeben“, sagt Ray Wong. „Wir geben den Kampf nicht auf, wir schützen nur unsere Energie und Ressourcen, während wir unsere Kraft im Ausland noch verstärken und uns breiter aufstellen.“

In Hongkong kennen alle seinen Namen

Ray Wong ist ein guter Redner, es ist nicht schwer vorstellbar, wie er neben Edward Leung zum charismatischen Anführer der 2015 von ihm gegründeten politische Gruppe Hong Kong Indigenous wurde. Auch Brandon Chu in Hongkong spricht voller Respekt über Ray Wong, dessen Ruf nach Unabhängigkeit im vergangenen Jahr von mehr und mehr Demonstranten übernommen worden war.

„Ich glaube, dass Hongkong unabhängig werden soll, ist bereits Konsens in der gesamten Demokratiebewegung dort“, sagt Ray Wong. Bevor das Sicherheitsgesetz vor zwei Wochen in Kraft getreten sei, habe man die Menschen bei den Demonstrationen oft rufen hören: „Unabhängigkeit ist der einzige Ausweg!“ Ray Wong hat das auch lange geglaubt.

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Als er begann, sich politisch zu engagieren, 2012, sollte in Hongkong ein neues Schul-Curriculum eingeführt werden. Für die Schüler sah es eine Art nationale Erziehung vor – gemeinsam mit den Eltern liefen sie dagegen Sturm, bis die Regierung einknickte. Vermeintlich, wie Ray Wong sagt. Tatsächlich aber hätten sie solcherlei patriotische und pro-chinesische Inhalte einfach in andere Fächer integriert. Für ihn war es ein erster warnender Hinweis auf den wachsenden Einfluss Chinas in Hongkong, dem laut Vertrag doch zumindest bis 2047 noch unter dem Motto „ein Land, zwei Systeme“ ein Sonderstatus zugestanden werden sollte.

"Wir verstanden: es gibt keine Hoffnung"

Die Intention der Regierungen, von Hongkong sowohl als auch von China, sei klar. Es gehe darum, die Identität und die Werte der Hongkonger auszulöschen und in einem zweiten Schritt auch die nächste Generation einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Immer wieder habe Peking in den Folgejahren versucht, Einfluss zu nehmen. Im Ausland vor allem wahrgenommen: die (gescheiterte) Wahlrechtsreform 2014, Auslöser für die Regenschirmproteste. Und jetzt.

„Wir verstanden: Okay, es gibt keine Hoffnung auf Demokratie, darauf, unseren Lebensstil zu behalten und unsere Freiheit“, sagt Ray Wong. „Also begannen wir, Unabhängigkeit zu fordern.“ Ihnen sei klar gewesen, wie naiv das ist, sagt er. Und erklärt, dass es um praktische Umsetzung erst gar nicht gegangen sei. „Unsere Idee war: Als Erstes müssen wir uns trauen, darüber nachzudenken!“

Freiheit, das sei für ihn die Möglichkeit, sich über viele Perspektiven zu informieren und eine zu wählen. Er studiere auch deswegen Philosophie, sagt er, weil ihn die großen Fragen interessieren: Was ist Gerechtigkeit? Und wie kann man darüber verhandeln?

Angriff auf Tradition und Identität

Was Ray Wong nötigte, zu fliehen, ist als #fishballrevolution bekannt geworden, Fischfrikadellenrevolution. Während des Neujahrsfestes im Februar 2016 kämpften im Stadtteil Mongkok Demonstranten mit Polizisten. Letztere wollten die Händler vertreiben, die dort auf einem Nachtmarkt Essen anboten.

Tatsächlich ging es um mehr als das Essen. Denn Gruppen wie Hong Kong Indigenous sahen schon in der Vertreibung der Händler einen Angriff auf die Hongkonger Identität und Tradition.

Dass friedlicher Protest China nicht beeindruckt, schien ihnen da mittlerweile erwiesen. „Proaktiver Widerstand“ ist, was Ray Wong noch heute befürwortet. Keine rohe Gewalt, sagt er und erläutert, was er meint: Barrikaden auf großen Straßen etwa, die den Verkehr unterbrechen, weswegen Menschen nicht zur Arbeit kommen, weswegen Firmen weniger produktiv sind, weniger Umsatz machen … Das System destabilisieren.

Sechs Jahre Gefängnis drohten

Die Videos der Auseinandersetzungen, die bei Youtube zu finden sind, zeigen Bilder wie aus dem vergangenen Jahr. Prügelnde Polizisten, Steine werfende Demonstranten, brennende Barrikaden.

Edward Leung wurde zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.
Edward Leung wurde zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.

© REUTERS

Ray Wong erzählt, wie Edward Leung von einem Gericht zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde, wie er – als vermeintlicher Anführer der Krawalle – eine längere Strafe zu erwarten gehabt hätte und sich noch vor seiner Gerichtsverhandlung zur Flucht entschied.

In einem Video der deutschen Unterstützergruppe „Wir für Hongkong“ hat Ray Wong vor einer Weile erzählt, wie es war, in Deutschland chinesische Studenten zu treffen. Manche hätten ihn im Deutschkurs erkannt, einige wenige unterstützen sogar die Demokratiebewegung in Hongkong. Den meisten Deutschen hingegen sei er fremd gewesen. Nur einmal habe ihn jemand in der Mensa angesprochen: Bist du Ray Wong?

Der Niedergang der Sowjetunion spendet Hoffnung

Hier versuche er nun, seine Rolle als politischer Flüchtling zu finden – und den Protest zu unterstützen. Seine Strategie habe sich geändert, sagt Ray Wong. Sein Fokus sei nicht mehr die Unabhängigkeit Hongkongs. Stattdessen versuche er, die Aufmerksamkeit auf die Menschenrechtssituation in seiner Heimat zu lenken. „Ich versuche mein Bestes, die Geschichte Hongkongs so vielen europäischen Politikern wie möglich zu erzählen.“ Bilder zeigen Ray Wong im Anzug im und vor dem Bundestag, im Herbstwind in Brüssel.

Und doch ist deren Haltung gegenüber China nicht immer so definitiv, wie er sich das wünscht. Weil am Ende wirtschaftliche Interessen schwerer wiegen als Menschenrechte.

„Ich bin frustriert, aber ich bin auch optimistisch, was die langfristige Entwicklung angeht“, sagt Wong. „Die Geschichte der Sowjetunion haben wir Hongkonger immer im Hinterkopf.“ Kein totalitäres Regime habe sich für immer halten können. „Wir haben Hoffnung“, sagt er, „solange die freie Welt uns zur Seite steht.“

Der Protest werde seinen Weg finden, glaubt auch Brandon Chu in Hongkong. Weil jegliche politische Äußerung nun gefährlich werden kann, hielten Demonstranten am 1. Juli weiße Schilder hoch. Es war ein lautes Schweigen.

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