zum Hauptinhalt
In Trafoi leben Hirsche, Murmeltiere und Gämsen.

© Ferienregion Ortler/Malthe Wöhler

Wintersafari in Südtirol: Spuren sichern

Der Steinbock ziert sich, das Schneehuhn versteckt sich. Ihre Abdrücke erzählen vom regen Leben abseits der Pisten. Auf Wintersafari in drei Alpentälern.

Von Julia Prosinger

Eisiger Wind zerzaust einem die Wimpern, die Sonne treibt einem Tränen in die Augen, das Fernrohr will einfach nicht aufhören zu zittern. „Siehst ihn, na siehst ihn?“, fragt Roland Paris, Förster im Südtiroler Ultental, von Kopf bis Fuß in Grün, um seine Beine springt der Jagdterrier Cora.

„Ja-ah“, stottert man vor Kälte, obwohl das Rauschen vor der Linse auch alles andere sein könnte. Einen Kilometer geradeaus, an der steilen, sonnenbeschienenen Felswand soll sich eine Kolonie Steinwild aufhalten, die besten Kletterer der Alpen.

Da – ein Horn! Roland Paris, 45, graue Augen, schnäuzt sich zufrieden in ein geblümtes Taschentuch. Wer einen Steinbock gesehen hat, darf trinken. 20 Jahre alter schottischer Whisky aus dem Flachmann für alle.

Bislang war die Tierspurensuche im Nationalpark Stilfserjoch schleppend verlaufen. Der Schnee ist viele Wochen alt, die Abdrücke von Rot- und Rehwild sind vom Winde verweht.

Hie und da taucht Losung auf, Rehkot. Ein Trittsiegel vom Schneehasen, der im Winter dichte Fellpuscheln an den Pfoten bekommt, damit er nicht einbricht. Schneehasen brauchen keine Schneeschuhe, lernt man.

Drei Männer, drei Täler

Doch weder Fuchs noch Eichhörnchen zeigen sich. Kein aufgeplustertes Schneehuhn, das man an fußballgroßen Abdrücken erkennt. Sitzt wahrscheinlich eingeschneit an einem Strauch, die Flügel geöffnet, darunter ist’s zehn Grad wärmer, und hofft, dass kein Skifahrer es platt fährt. Zu windig auch für die Steinadler, die hier sonst ihre Girlanden fliegen.

Drei Männer, drei Täler, drei Versuche, den Alpentieren, die Kälte und Höhe trotzen, nahe zu kommen. Würde man Steinwild am Hang kletterkünsteln sehen? Wird man den Bartgeier, den zweitgrößten Flugvogel der Welt, beim Brüten beobachten können? Im Mondschein äsende Hirsche überraschen? Das alles soll in den abgelegenen Wäldern Südtirols möglich sein.

Förster Roland Paris sucht den Steinbock am Hang.
Förster Roland Paris sucht den Steinbock am Hang.

© Julia Prosinger

Roland Paris legt seinen Gästen nun Schneeketten um die Wanderschuhe, der Weg zur Alm ist abschüssig. Steinwild, erzählt er, suche sich die schrägsten Hänge, weil der Schnee dort abrutscht und vielleicht, selbst in dieser kargen Zeit, ein Grasbüschel freilegt. Die Tiere haben, wovon Sportler träumen: mehr rote Blutkörperchen für mehr Kondition im Hochgebirge.

Was der Steinbock vor der Linse wohl empfindet, bei diesem herrlichen Blick über das glitzernde Ortler-Gebirge und ins enge Tal bis hin zur Villa Hartungen, wo die Manns, Franz Kafka und Christian Morgenstern sich in der Abgeschiedenheit gesund pflegen ließen? Paris schüttelt den Kopf, über die Gefühle von Tieren denkt er nicht nach.

Er spricht jetzt, auf dem Weg zur Vorderen Flatschbergalm, quietschenden Schnee unter den Füßen, erst mal von den Menschen. Auch die Bergbauern hier sind nämlich Überlebenskünstler.

Das Dach hält 100 Winter lang

Oft rackern die Großeltern noch im Stall, die Enkel schuften in einem Bergwerk oder fahren morgens die steilen Kurven aus dem Tal raus in die Stadt. Ohne den hohen Milchpreis von 65 Cent, weil sich die Südtiroler Landwirte schon in den 70ern zur Genossenschaft zusammengeschlossen haben, müssten die Bauernhöfe schließen, sagt Paris.

Mit seinem Wanderstock deutet er auf einen Baum. Lärche. Färbt sich im Herbst golden, verliert dann ihre Nadeln. Aus dem Holz schlagen die Bewohner des Ultentals Schindeln für die Dächer ihrer uralten Höfe.

Für den Abstieg gibt's Schneeketten an die Füße.
Für den Abstieg gibt's Schneeketten an die Füße.

© Ilja Behnisch

So ein Dach hält 100 Südtiroler Winter aus und kann Tausende Tonnen Schnee tragen. Die Weiden trennen die Bauern mit handgeflochtenen Lärchenzäunen, erhitzte Fichtenzweige halten die Bretter zusammen.

Das ist aufwendig, sieht aber aus wie früher. Und Südtirol bezuschusst alle, die mithelfen, das Landschaftsbild zu erhalten. Roland Paris und seine Kollegen begutachten die Förderanträge dafür. „Viel Bürokratie“, sagt Paris.

Dann tritt er noch näher an den Baum heran: „Seht’s ihr die Flechten?“ Wenn genug Schnee liegt, können die Rehe davon fressen. Früher kletterten die Bauern hier hinauf, um auch im Winter Futter für ihr Vieh zu sammeln.

Aus dem Harz der Lärche fertigten sie Wundsalben an. Die Ameisen – jetzt eingeschneit – nutzen ein Stück Harz als desinfizierende Fußmatte. Wer in ihren Hügel will, muss drüber laufen.

Von Bären und Wölfen

Vorbei geht’s an Fichten, an Zirben, aus deren ätherischem Holz Betten gebaut werden, da fällt einem plötzlich ein: „Gibt’s hier eigentlich Bären?“ Schon, Einzelgänger, Paris hat die kindskopfgroßen Tatzenspuren mit Krallen schon im Schnee gesehen. „Aber keine Angst, wir Ultner gelten als rauflustig.“

Außerdem tragen die Förster in Südtirol Pistole. „Wir werden gerufen, wenn es heißt, die Carabinieri haben die falschen Schuhe an“, sagt Paris. Sie kommen auch, wenn es irgendwo einen Wildunfall gab oder in Bozen der Staatspräsident beschützt werden muss.

Wirklich Sorge machen den Förstern nur die Wölfe. Auf der Flatschbergalm, zwischen zwei Löffeln würziger Brotsuppe, zeigt Paris Fotos von Blutschlieren im Schnee auf dem Handy. „Die Wölfe bilden Rudel, kommen immer näher an die Höfe, reißen unsere Schafe.“

Buchweizen-Kaiserschmarrn und Enzianschnaps

Wenn es nach ihm ginge, müsste es erlaubt sein, solche Tiere zu schießen. Wolfsspuren, zurück zum Thema des Ausflugs, erkenne man übrigens daran, dass sie gerade laufen, Hunde hingegen zickzack.

Roland Paris rammt nun seine Gabel in die Gemeinschaftspfanne voller Buchweizen-Kaiserschmarrn, nippt vom bitteren Enzianschnaps und sagt, dass er nie Urlaub macht, weil es schöner nicht mehr wird auf der Welt. „Wir leben im Paradies.“

Bilanz des ersten Tages? Steinbock, wahrscheinlich jedenfalls. Spuren von Alkohol.

Förster Philipp Bertagnolli erklärt die Tierwelt der Berge.
Förster Philipp Bertagnolli erklärt die Tierwelt der Berge.

© Julia Prosinger

Neues Tal, neuer Versuch. Roland Paris hat einen weitergeschickt, zu seinem jungen Kollegen Philipp Bertagnolli. Der hat hier im Martelltal vor ein paar Jahren mit bloßem Auge ein Bartgeiernest entdeckt.

In diesen Januartagen beginnen die Riesen zu brüten, da ist es wahrscheinlich, dass einer der beiden mit knapp drei Metern Flügelspannweite einen Schatten auf die Spaziergänger wirft. Eigentlich sieht Bertagnolli, 36, täglich Geier, nur heute ist noch keiner aufgetaucht.

Auf seinen Stock aus Haselnussholz gestützt, scannt Bertagnolli, ein Auge stets zugekniffen, den Himmel. Währenddessen erzählt er vom traurigen Schicksal des Bartgeiers. Lange glaubte man, er hole Lämmer von den Weiden und Kinder aus der Krippe. Behörden schrieben Abschussprämien aus. Anfang des 20. Jahrhunderts waren Bartgeier in den Alpen ausgerottet.

Dabei, sagt Bertagnolli und baut vor einem Abgrund sein Swarovski-Fernrohr aufs Stativ, sei alles ganz anders. Das beweise ein Fleck am Fels.

Diesmal pfeift kein Wind, und vor der Linse zeichnet sich neben grell türkisfarbenen Eiszapfen deutlich im Felsvorsprung ein Nest ab. Darunter eine weiße Fläche. „Kalkhaltiger Kot“, ruft Bertagnolli.

Bartgeier sind keine heimtückischen Mörder, sondern die Letzten in der Nahrungskette. Sie fressen ausschließlich Aas, leben von abgestürztem Wild und Weidevieh, von dem, was Gewitter und Steinbruch übrig lassen.

Sie können sich sogar komplett von Knochen ernähren. Dank Magensäften aggressiv wie Salzsäure. Sind die Knochen zu groß, lassen die Geier sie aus der Höhe auf Geröllhalden fallen.

Noch ein Blick durchs Fernrohr. Doch darin wackelt kein orangefarbener Kopf mit Kinnbärtchen, es blitzen keine roten Augen auf und auch kein rostrotes, in eisenhaltigem Gebirgsbachschlamm gefärbtes Gefieder. Vielleicht sind die Knochenbrecher ein letztes Mal ausgeflogen, bevor die Brutzeit beginnt? Das tun sie manchmal, Hunderte Kilometer weit.

Brudermord

Bald werden zwei Eier im Nest liegen. Eines davon als Reserve, falls das erste Jungtier nicht durchkommt. Kainismus nennt man das, nach dem biblischen Brudermord.

Seit den 80er Jahren, erzählt Bertagnolli, wildere man Zootiere wieder aus, inzwischen soll es in den Alpen etwa 270 Exemplare geben. Doch noch immer sind sie bedroht. Von Strommasten und bleihaltiger Munition in Überresten von Jagdwild, das sie fressen.

Bertagnolli, selbst leidenschaftlicher Jäger, konnte schon viele Kollegen im Nationalpark überzeugen, auf Kupfermunition umzusteigen.

Wo bleibt der Geier?

Hätte man schon gern gesehen: den Bartgeier.
Hätte man schon gern gesehen: den Bartgeier.

© dpa

Der Förster stapft nun zurück zu seinem Jeep. Zeigt von Rotwild angeknabberte Bäume. „Ab und an muss man die Tiere entnehmen, sonst gibt’s eine Überpopulation, der Wald leidet, Lawinen und Erdrutsche rasen ungebremst ins Tal.“

Dann könnte dort keiner wohnen, es gäbe keine Vinschgauer Erdbeeren und auch keine Erdbeerkönigin. Im Frühjahr, wenn das Wild in den Wiesen unterwegs ist, verabreden sich die Förster deshalb bei Nacht, zählen die Tiere mit Wärmebildkameras und legen fest, wie viel sie in diesem Jahr schießen werden.

Förster sehen mehr

Vom Auto aus schielt Bertagnolli in den Wald. Förster sehen mehr. Zwei Gämsen stehen am Hang. Ihre Hufe sind außen hart wie Steigeisen, innen flexibel wie eine Gummisohle, so saugen sie sich selbst auf einem Bein stehend in jede Felsritze.

Man soll ihnen nicht zu nah kommen, warnt der Förster, denn sie bewegen sich, um Energie zu sparen, so wenig wie möglich. Auch Zufüttern ist gegen die Wissenschaft, sagt er und fährt davon.

Bilanz des zweiten Tages? Ein Nest, ein Paar Paarhufer und die Erkenntnis: Tiere lassen sich nicht bestellen.

Stillleben im Ultental.
Stillleben im Ultental.

© Julia Prosinger

Drittes Tal, letzter Versuch. 3905 Meter ragt der Ortler, Südtirols höchster Berg, vor einem auf. Wer im Sommer hier entlangwandert, hört die Murmeltiere pfeifen. Jetzt aber schlafen sie in Höhlen, wobei sie streng den Einlass kontrollieren, ein krankes oder schwaches Tier darf nicht mit rein.

In Trafoi wird es bereits Nacht, der Mond taucht das Tal in milchiges Licht. Stephan Gander, 52, Vater von fünf Kindern, leuchtet in den Wald hinein, grün leuchtet es zurück. „Hirsche“, flüstert er. Manchmal kommen sie bis auf seine Terrasse und nagen an den Sträuchern.

Skilegende Gustav Thöni

Stirnlampen ausknipsen. Mond und Sterne sind hell genug. Gander führt auf Schneeschuhen weg vom Hotel seines Stiefvaters, der Skilegende Gustav Thöni, führt vorbei an der kleinen Ortskirche, wo der Pfarrer lange auch Skilehrer war und die Messe manchmal mit dem Anorak unterm Talar abhielt.

Skilegende Gustav Thöni vor seinem kleinen Skimuseum im Hotel seiner Familie.
Skilegende Gustav Thöni vor seinem kleinen Skimuseum im Hotel seiner Familie.

© Ilja Behnisch

Gander stapft hinab in den Canyon, der Schnee knirscht, das letzte Stück rutscht er auf dem Po runter zum Fluss. Der nun spurengeschulte Blick erkennt sofort, dass der Boden sich verändert hat. Handtellergroße Eiskristalle klirren zwischen den Füßen. Ein unendlicher Scherbenhaufen!

Der warme Fluss lässt die Eiskristalle wachsen. Ein gigantischer Scherbenhaufen!
Der warme Fluss lässt die Eiskristalle wachsen. Ein gigantischer Scherbenhaufen!

© Julia Prosinger

„Durch die Wärme des Flusses entsteht Dampf, der dieses Feld von Diamanten wachsen lässt“, erklärt Gander den Zauber. Die Schneeschuhe tragen einen am Fluss entlang, man fühlt sich leicht, heimisch, fast wie eines der Tiere. Am Himmel wird der große Wagen sichtbar.

Plötzlich beginnt es zu riechen. Würzig und warm. Wild. Und da sind sie – Spuren, breit wie Hirschhintern. Hier sind die Tiere hinab gerutscht, haben sich ihre eigenen Rodelbahnen gebaut, um schneller an Ganders Hotel und dem dort aufgebauten Futtertrog zu landen. Wo sie jetzt äsen?

Marillenschnaps und Angela Merkel

Drei Männer, drei Täler, drei Versuche. Wenige Spuren, noch weniger Tiere. Und doch: Wann hat man zuletzt so genau hingeschaut? Gehorcht? Im Schnee gelegen, den Atem angehalten? Gerochen und alles andere vergessen?

Stephan Gander führt über eine letzte Brücke. Er entzündet eine Fackel, gießt mit Apfelsaft gesüßten Bergkräutertee aus der Thermoskanne ein, danach Marillenschnaps. Tief durchatmen. „Das ist die Merkel-Brücke“, sagt Gander. Hier habe er mit seinen Kindern mal die Kanzlerin samt Mann und Bodyguards beim Wandern getroffen.

Ob sie wohl auch Spuren hinterlassen hat?

HINKOMMEN

Mit dem Zug bis München oder Innsbruck, knapp sieben Stunden, von dort weiter mit einem Mietwagen - die abgelegenen Täler lassen sich aber auch mit Bussen erreichen. Viele Hotels bieten an, einen vom nächsten Bahnhof, beispielsweise in Meran, abzuholen.

UNTERKOMMEN

Im Ultentaler Erlebnishotel Waltershof ab 114 Euro Halbpension pro Person ist der gigantische Wellnessbereich inklusive: Heubad, Bergkräuterdampfbad, Panoramasauna. Im „Bella Vista“ Trafoi, ab 89 Euro Halbpension pro Person, unternimmt Stephan Gander Ausflüge mit den Gästen.

RUMKOMMEN

Unter nationalpark-stelvio.it werden Touren mit den Förstern wie die hier beschriebenen für drei Euro angeboten. In den Besucherzentren werden Natur und Geschichte anschaulich vermittelt. Im Ultental lohnt sich ein Besuch bei der traditionellen Bäckerei „Ultner Brot“. Die Reise wurde unterstützt von IDM Südtirol.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false