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Ein erster Entwurf des Architekten Kilian Enders.

© D/Form

Wiederaufbau der Synagoge in Berlin-Kreuzberg: Das Lebenszeichen vom Fraenkelufer

In Deutschland ist das Projekt einmalig: Eine von den Nazis zerstörte Synagoge soll neu gebaut werden. Was bedeutet das für Kreuzbergs Juden?

Freitagmittag stehen sie wieder vor dem Gedenkstein, so wie an jedem 9. November, dahinter der grüne Metallzaun und Laubberge, Büsche, ein paar windschiefe Bäume. Zwei Dinge sind anders als sonst: Viel mehr Menschen sind gekommen, einige müssen auf die Straße ausweichen. Und da ist diese Hoffnung. Eine Hoffnung, dass dieser Ort bald nicht mehr wiederzuerkennen sein wird.

Auf der Grünfläche am Kreuzberger Fraenkelufer, halbe Strecke zwischen Admiralbrücke und Kottbusser Straße, stand früher Berlins größte orthodoxe Synagoge. Auf den Tag genau vor 80 Jahren wurde sie verwüstet, wie so viele andere jüdische Orte in der Pogromnacht. Thorarollen wurden in Brand gesteckt, die Einrichtung demoliert. Nun soll das jüdische Gotteshaus wieder aufgebaut werden. Es wäre das erste in Deutschland, das von den Nazis zerstört wurde und nun erneut errichtet wird. Einer der Männer, die daran mitwirken wollen, tritt diesen Freitag mit Wollmütze und schwarzer Lederjacke vor den Gedenkstein. Dekel Peretz, 39, ist Israeli. „Vor einem Jahr“, sagt er, „hätte ich unser Vorhaben noch als vagen Traum bezeichnet.“

Es wäre ein nicht zu übersehendes Zeichen. Gerade in diesen Zeiten, in denen jüdische Kinder im Unterricht so gemobbt werden, dass sie die Schule wechseln müssen, in denen jüdische Restaurantbetreiber Morddrohungen erhalten und Kippa-Träger auf der Straße mit der Gürtelschnalle geschlagen werden. Und dazu noch mitten in Kreuzberg, ausgerechnet hier, wo so viele Muslime leben. Kann das gut gehen?

„Das jüdische Leben hat in Kreuzberg nie aufgehört“, sagt Dekel Peretz. „Bloß war es kaum sichtbar.“ Seit Ende des Zweiten Weltkriegs nutzt die Gemeinde das schlauchförmige Nebengebäude der einstigen Synagoge, es wurde in der Pogromnacht nur teilweise beschädigt. Während das Hauptgebäude unnutzbar war und in den 1950er Jahren komplett abgerissen wurde, feierten die Überlebenden der NS-Zeit hier bereits vier Monate nach der Befreiung Berlins ihren ersten Gottesdienst. Es waren Juden, die sich lange in der Stadt versteckt hatten, die aus dem Exil zurückkehrten oder aus Konzentrationslagern gerettet worden waren. Dazu jüdische Soldaten der Siegermächte. Dekel Peretz hat viel dazu recherchiert, er hat Bücher gelesen und mit Menschen gesprochen, deren Biografien auf die eine oder andere Art mit dem Ort verbunden sind.

Ein Gemeindeleben hinter Zaun und Wachschutz

Jonathan Marcus, 38, zum Beispiel. Seine Großeltern gehörten zu den ersten, die sich 1946 im umfunktionierten Nebengebäude trauen ließen. Auch Marcus’ Eltern haben hier geheiratet, er selbst hatte in den Räumen seine Beschneidung und später die Bar-Mizwa, die Feier zur religiösen Mündigkeit. Er sagt, er bedauere, dass viele Kreuzberger mit dem Gebäude und der großen Freifläche vermutlich gar nichts anfangen könnten. „Sie sehen nur die Mauern, die Zäune und den Wachschutz. Auf Außenstehende wirkt es wie eine Festung.“ Wer herein will, muss durch eine Sicherheitsschleuse, und auch das geht nur während der Gebetszeiten oder mit einem Termin.

Jonathan Marcus ist in der Gemeinde am Fraenkelufer aufgewachsen.
Jonathan Marcus ist in der Gemeinde am Fraenkelufer aufgewachsen.

© Thilo Rückeis

Die Gemeinschaft, die sich in dieser Festung trifft, ist in den vergangenen zehn Jahren deutlich gewachsen – und hat sich verjüngt. Das liegt vor allem an den vielen Juden, die aus dem Ausland herzogen, aus den USA, Ungarn oder Israel, einige auch aus Lateinamerika. Bei diesen Neuankömmlingen, sagt Dekel Peretz, seien logischerweise – wie bei vielen anderen Zugezogenen in ihren Zwanzigern und Dreißigern – Viertel wie Kreuzberg oder Neukölln beliebt. Und die Gemeinschaft am Fraenkelufer ist die einzige jüdische Anlaufstelle weit und breit. „Dieser Zuwachs bringt uns an den Rand unser Kapazitäten.“ Weil sie im Nebengebäude außer dem Gebetsraum nur einen weiteren haben, der so groß ist wie ein Klassenzimmer. Beim Schabbatessen freitagabends müssen sich die Gemeindemitglieder inzwischen drängen wie im Supermarkt.

Es war der Wunsch nach Räumen für eine eigene Kita, der Dekel Peretz und seine Mitstreiter schließlich dazu brachte, sich an die Politik zu wenden. „Und es war ein Riesenglück, dass wir auf Raed Saleh trafen.“ Der SPD-Fraktionsvorsitzende mit palästinensischen Wurzeln schlug vor, man könne doch einmal gemeinsam Humus essen.

Sie trafen sich im „Azzam“, einem Lokal am nordwestlichen Ende der Sonnenallee. Der Laden wird von Palästinensern betrieben und ist bekannt dafür, dass auch viele Israelis regelmäßig hier speisen. Sie diskutierten über mögliche Projekte, freundeten sich an, blieben in Kontakt. Bis dann im Sommer vergangenen Jahres Raed Saleh auf sie zukam und sagte: „Lasst uns doch gleich die ganze alte Synagoge wiederaufbauen.“

Nina und Dekel Peretz vor dem Nebengebäude.
Nina und Dekel Peretz mit ihrer Tochter vor dem Nebengebäude.

© Thilo Rückeis

Nina Peretz ist die Frau von Dekel. Sie wuchs ohne Religion auf, vor Jahren konvertierte sie zum Judentum. Die 35-Jährige sagt, sie seien alle sehr überrascht gewesen, als ihnen Raed Saleh seinen Vorschlag unterbreitete. „Wir hätten niemals gewagt, so groß zu denken.“ Aber sie fanden Gefallen daran. Vorausgesetzt, der Neubau werde kein reines Gebetshaus, in dem wie einst 2000 Menschen Platz finden. „Das wäre unsinnig“, sagt sie, „es wäre ein großes, aber meist leeres Haus, wie ein Museum.“ Stattdessen wünschen sie sich ein Gemeindezentrum. Neben Platz zum Beten soll es ein Café geben, eine Bibliothek, die Kita, dazu Raum für Konzerte und Ausstellungen. Und zwar unbedingt solche, die auch Gäste besuchen können, ohne sich vorher anmelden zu müssen. „Unser jüdisches Leben soll nicht mehr abgeschlossen sein, es soll nicht wirken, als kapselten wir uns hinter verriegelten Türen ab.“ Dann sagt sie noch: „Wir sind doch auch bloß Kreuzberger. Wie toll wäre es, wenn wir mehr Berührungspunkte zu unserer Nachbarschaft hätten.“

Sie könnten zum Beispiel die Ausstellung zeigen, die derzeit kaum einer zu Gesicht bekommt. Der Kriegsfotograf Robert Capa, weltberühmt durch seine Aufnahme eines sterbenden Soldaten im Spanischen Bürgerkrieg, hielt sich im Herbst 1945 in Berlin auf und wurde Zeuge des ersten Gottesdienstes. Seine Aufnahmen von diesem Tag hängen jetzt als Dauerleihgabe im Gemeinderaum, auf einem Schrank daneben steht ein Gemälde der brennenden Synagoge. Eine Nachbarin hat es ihnen geschenkt, sie war 1938 ein Kind und hat die Verwüstung mit angesehen.

Die bisherigen Kontakte zur Nachbarschaft seien größtenteils positiv, sagt Jonathan Marcus, der Ur-Berliner. Ihm sei bewusst, dass für viele Juden gerade im Berliner Westen Kreuzkölln als „No-Go-Area“ gelte. Als Ort, den man als Jude besser meide oder an dem man zumindest sein Jüdischsein verstecke, um keine Übergriffe fürchten zu müssen. „Es gibt solche Übergriffe natürlich, das will ich nicht wegreden. Aber ich persönlich habe andere Erfahrungen gemacht.“ Nach dem Anschlag von Pittsburgh, bei dem Ende Oktober ein bewaffneter Mann in eine Synagoge stürmte und elf Menschen erschoss, hätten sie eine Menge Beileidsbekundungen erhalten, gerade von muslimischen Bewohnern des Kiezes. „Da kommen Menschen auf uns zu und sagen ausdrücklich: Wir wollen uns mit euch solidarisch zeigen.“

Ein Molotow-Cocktail und eine dreiste Forderung

Andererseits kam es im Laufe der Jahre immer wieder zu Anschlägen. Ein einzelner Mann warf 14 Mal hintereinander die Scheiben ein, ehe er gefasst wurde. Er war geistig verwirrt. Ein anderes Mal flog ein Molotow-Cocktail aufs Gelände, es wurde niemand verletzt, der Täter konnte nicht ermittelt werden. Jonathan Marcus glaubt trotzdem: „Wäre unser Wachschutz von einem Tag auf den anderen fort, würde unser Gebetsraum eine Woche später trotzdem noch stehen.“ Das sei sowieso ein Missverständnis: Die Sicherheitsvorkehrungen der Gemeinde richteten sich ja nicht gegen die Anwohner, sondern seien wegen der globalen Bedrohungslage nötig – und würden meistens nach Terrorattacken in anderen Ländern verschärft, etwa nach den Anschlägen von Paris und Brüssel.

Das Grundstück, auf dem die Synagoge einst stand, gehört dem Land Berlin. In den 80er Jahren wurde es besetzt, zusammen mit den angrenzenden Altbauten. Das Verhältnis zu einigen dieser Besetzer war zeitweise kompliziert. Etwa als 1988 auf dem Bürgersteig der Gedenkstein für die zerstörte Synagoge geplant wurde, vor dem sich die Menschen an diesem Freitag versammeln. Unter den Besetzern gab es Widerstand. Manche stellten eine abenteuerliche Forderung auf: Falls der Stein tatsächlich kommen sollte, müsse der Bezirk in unmittelbarer Nähe einen weiteren Stein errichten. Dieser müsse die Politik Israels gegenüber den Palästinensern verurteilen. Daraufhin luden Gemeindevertreter die Bewohner zum Kennenlernen in ihr Nebengebäude ein. Erst nach Gesprächen verwarfen diese ihre Forderung.

Der Innenraum der alten Synagoge.
Der Innenraum der alten Synagoge.

© Pisarek/akg-images

Von außen wird die Synagoge wohl nicht exakt dem Original entsprechen, sagt Jonathan Marcus, das gehe schon allein wegen heutiger Brandschutzbestimmungen nicht. Aber es sei klar, dass die Fassade deutliche Anleihen an das zerstörte Gotteshaus haben wird.

Das hatte in den 1910er Jahren Alexander Beer entworfen. Der Berliner Architekt, der auch die jüdische Mädchenschule in der Auguststraße und eine weitere Synagoge in Wilmersdorf baute. Letztere wurde im November 1938 vollständig niedergebrannt, die Nazis zwangen Beer, der Zerstörung zuzusehen und am nächsten Tag beim Wegräumen der Trümmer zu helfen. Er starb 1944 in Theresienstadt.

Ursprünglich hatte Alexander Beer eine liberale Synagoge geplant. Doch es gab bereits eine in der Linienstraße. Und weil zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele osteuropäische und damit orthodoxe Juden nach Berlin einwanderten und sich häufig in Kreuzberg niederließen, wurde der Bau schließlich offiziell als orthodoxes Gotteshaus eingeweiht. Im Laufe der Jahre trafen am Fraenkelufer immer wieder Vertreter unterschiedlicher Strömungen aufeinander. Das führte zu Diskussionen und ständig neuen Kompromissen, sagt Nina Peretz. Zum Beispiel die Frage, ob der Rabbi am Schabbat durchs Mikrofon sprechen soll. Die Orthodoxen sagen, am Ruhetag dürften keine elektrischen Schaltkreise geschlossen werden. Sie haben sich irgendwann durchgesetzt. Aktuelles Debattenthema: Fotos bei Familienfeiern am Schabbat – ja oder nein?

Raed Saleh, der SPD-Fraktionsvorsitzende, ist an diesem Freitagmittag ebenfalls zum Gedenken nach Kreuzberg gekommen. Er sagt, er wäre kein guter Moslem, würde er sich nicht für die Vielfalt der Religionen einsetzen und Angehörige egal welcher Glaubensrichtung vor Anfeindungen beschützen. In die jüdische Gemeinde am Fraenkelufer mit ihren vielen Engagierten habe er sich ein Stück weit verliebt. Und er sagt: Eine Stadt, die Schlösser aufbaut, sollte auch Synagogen aufbauen.

Jetzt ist auch Michael Sommer dabei

Saleh glaubt, dass in fünf Jahren bereits der Grundstein gelegt werden kann. Dafür wurde im September ein Förderverein gegründet. Dazu gibt es ein prominent besetztes Kuratorium, der Regierende Michael Müller sitzt ebenso darin wie die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann, Gregor Gysi und Hamburgs früherer Bürgermeister Ole von Beust. Es heißt, Raed Saleh habe viele Kuratoriumsmitglieder persönlich für die Sache begeistert. An diesem Freitag, direkt im Anschluss an das Gedenken, führt er Michael Sommer durch das Nebengebäude, den ehemaligen Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Sommer wird gefragt, ob er nicht dem Vorstand des Fördervereins beitreten möchte. Sommer möchte.

Am Jahrestag der Pogromnacht wird vor dem Gedenkstein gedacht.
Am Jahrestag der Pogromnacht wird vor dem Gedenkstein gedacht.

© Thilo Rückeis

Das Projekt hat inzwischen international Aufmerksamkeit erregt. „La Repubblica“, „Times of Israel“ und die „Washington Post“ haben über den geplanten Wiederaufbau berichtet. Durch letztere erfuhr im australischen Sydney die 92-jährige Beate Hammet davon. Sie ist die Tochter von Alexander Beer. Der Architekt hatte sie 1938, kurz nach der Pogromnacht, in einem der sogenannten Kindertransporte nach England geschickt, sie sah ihre Eltern nie wieder. Nach Kriegsende wanderte sie nach Australien aus und gründete eine Familie. Beate Hammet hat sich jetzt gemeldet. Sie hofft, dass sie die Wiedereinweihung der Synagoge noch erleben wird.

Der Bau wird wohl mindestens 20 Millionen Euro kosten, Saleh möchte ihn durch Lottomittel, Stiftungsgelder und private Spenden finanzieren. Mit dem Sammeln soll bald begonnen werden. Raed Saleh sagt, dass die Projektidee auch bei den muslimischen Verbänden gut angekommen sei. Deshalb möchte er, dass bald auch in den Berliner Moscheen Spendenkollekten herumgehen. „Ich glaube, das wäre ein starkes Signal in dieser Stadt.“

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