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Kostspielige Aussicht: Blick auf die Zürcher Altstadt und den Fluss Limat.

© Huber/Eigstler

Zürich: Das Leben ist schön teuer

Was unsere Autorin schon lange ahnte, macht ein Städtevergleich nun offiziell: Zürich hat die höchsten Preise der Welt. Bilanz einer ganz persönlichen Finanzkrise.

Es gibt Momente, in denen ich nicht daran denke. Wenn ich über den Zürichsee fahre, mit einem der Schiffe, die zur Halbinsel Au schippern (8,10 Franken) oder ins hübsche Rapperswil (24 Franken). Tuckernd lassen sie die Goldküste mit ihren Villen hinter sich, alles wirkt weit entfernt. Bis ich im Schiffsbistro einen Teller Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti bestelle – und 36 Schweizer Franken dafür bezahle, rund 30 Euro. Schlagartig bin ich auf dem Boden der Realität. Genauer: auf dem sauteuren Pflaster, auf dem ich mich bewege, seitdem ich vor drei Jahren von Berlin nach Zürich gezogen bin.

Wer mal vom Flughafen Kloten mit dem Taxi das kurze Stück in die Innenstadt gefahren ist (60 Franken), hat es bereits geahnt: Teurer geht’s nicht. Seit Februar ist das nun offiziell. Im Ranking der Zeitschrift „Economist“ (10 Franken), die jedes Jahr die teuersten Städte der Welt listet, landete Zürich auf Platz 1. Die Stadt ist gleich um vier Ränge nach vorne gerutscht: Tokio, lange unangefochten an der Spitze, liegt nun auf Platz 2, gefolgt von Genf, Osaka, Oslo und Paris.

Fairerweise muss man sagen, dass Zürich seinen Sieg auch dem Wechselkurs verdankt. Beim „Economist“ wird nämlich in Dollar gerechnet, und der ist ziemlich schwach. Aber das ist auch egal. Wenn Berliner Freunde fragen, wie das Leben in Zürich so ist, sage ich nur: Miete 2700 Franken, zwei Kitaplätze à 1850 Franken. „Im Monat?“, fragen dann die entgeisterten Berliner. Wenn ich nicke, sagen sie nichts mehr, und ich merke ihren Gesichtern an, dass in ihnen etwas arbeitet. Als sei ich in ein schlimmes Land zwangsverheiratet worden.

Immerhin ist es für mich sehr einfach geworden, Partygespräche in Berlin zu bestreiten. Ich muss nur ein paar Zahlen nennen: Babysitter 20, Putzfrau 25. Es ist wie in dem Witz mit den drei Witze-Erzählern, die sich gegenseitig nur noch die Nummern ihrer Witze an den Kopf werfen, weil sie die Pointen ja alle schon kennen. Anders als die Witze-Erzähler kann ich über die Zahlen aber nicht lachen. Die Preise für den Babysitter und die Putzfrau zahle ich nämlich pro Stunde.

Touristen ahnen wenig von den Problemen der Einheimischen

Schlimm war auch der Moment, als ich bei der Stadt Zürich einen Zuschuss zu den Kinderbetreuungskosten beantragte. Der Bescheid kam prompt, darin stand, dass ich nur noch die Hälfte zahlen muss. Ich war im Rausch, als hätte ich im Lotto gewonnen. Dann fiel mein Blick auf die Zeile „Einkommen Ehefrau“. Daneben stand eine fette Null. Verdammt, dachte ich, die haben vergessen, mein Einkommen einzurechnen, jetzt muss ich den Antrag noch mal stellen. Dann las ich das Kleingedruckte und begriff, warum mein Euro-Gehalt, das ich aus Berlin beziehe, nicht aufgeführt war. Es liegt unter der Nachweisgrenze. Für Zürcher Einkommensverhältnisse existiert es gar nicht.

Wenn man als Tourist nach Zürich kommt, ist das alles halb so schlimm. Man kann die paar Tage Urlaub, die ungefähr so viel kosten wie ein Weltreiseticket, als Abenteuer verbuchen. Wo sonst bekommt man als Westler schon die Gelegenheit, sich zu fühlen wie ein Migrant aus einem Entwicklungsland, der in der Ersten Welt landet und nicht weiß, ob er sich eine Einzelkarte für die Straßenbahn (4,10 Franken) oder eine Zahnfüllung (mindestens 150 Franken) leisten kann.

Schlimmer ist es, wenn man dauerhaft in Zürich lebt. Dann beginnen plötzlich alle Gedanken ums Geld zu kreisen. An jedem Augenblick scheint ein Preisschild zu kleben: Was kostet mich das, wohin kann ich überhaupt? In der teuersten Stadt der Welt zu leben, erfordert Street Credibility der anderen Art, Street-Kreditwürdigkeit gewissermaßen. Man muss wissen, was die finanziellen No-go-Areas sind, nämlich Taxis, Friseure, Restaurants, Ärzte und alles, was mit Kindern zu tun hat. Man fährt ins billige Ausland, um sich die Zähne machen zu lassen. Die Werbung dafür klebt auf den Fenstern der blauen Zürcher Straßenbahnen. Sie zeigt lachende Münder mit blitzenden Zähnen. „Zum Zahnarzt nach Deutschland!“, steht darüber.

Nach drei Jahren Zürich weiß ich aber auch, dass der Verlust der Kaufkraft ein Verlust ist wie jeder andere auch. Man kann ihn bewältigen, und diese Bewältigung verläuft in verschiedenen Phasen.

1. Phase: Verdrängung. Wer in Zürich ankommt, erlebt einen Schock, der sich aus der Gleichzeitigkeit von zu viel und zu wenig Geld ergibt. Das Zuviel an Geld ist allgegenwärtig: Einer Basler Studie zufolge wohnt jeder zehnte Milliardär dieser Welt in der Schweiz, am liebsten in Zürich. Ich habe noch nie so viele Normalsterbliche getroffen, die Massen an Geld in der Hinterhand haben. Da ist die gute Bekannte, die ihren Neuwagen in bar bezahlt hat. Die befreundete Jungfamilie, die nicht nur eine Stadtvilla besitzt, sondern auch einen dicken Batzen Geld in ein gemeinnütziges Wohnprojekt gesteckt, einfach so. Und unglaublich nett sind die auch noch!

Das Zuwenig an Geld bemerkt man, sobald man es in Zürich ausgibt. Wobei das Wort „ausgeben“ viel zu aktiv klingt, eigentlich stürzt das Geld eher unkontrolliert aus einem heraus. Bei der Registrierung am Personenmeldeamt (65 Franken), beim Kauf einer Kinokarte (18 Franken), bei der Vorspeise im Restaurant (34 Franken). Gut, das war in der legendären Kronenhalle. Ich saß mit meinem Mann zwischen holzgetäfelten Wänden, Kellner schoben leise klirrende Servierwagen herum wie in einer anderen Zeit. Wir teilten uns die Vorspeise und einen kleinen Salat (25 Franken). Am Nachbartisch ließ sich ein Paar die Rechnung kommen. Sie betrug – ungelogen – 3489 Franken.

Ein Arzt aus Michigan, der mit seiner Frau und drei Kindern gerade ein Sabbatical in Zürich macht, erzählte mir, er sei am Anfang in eine regelrechte Schockstarre gefallen. Er habe einfach gar nichts mehr eingekauft. Inzwischen macht er es wie alle Zugezogenen: Er begreift Franken als eine Art Monopoly-Spielgeld und rechnet nicht mehr um.

2. Phase: Fassungslosigkeit. Wie jeder Mensch stelle ich mir manchmal vor, wie es wäre, eine Million zu haben. Ich male mir aus, in welcher Stadt ich leben, welche Villa ich mir kaufen würde. Das Deprimierende an dieser Fantasie ist: In Zürich bekommt man für eine Million keine Villa. Man bekommt dafür nicht einmal eine Wohnung in einem der Orte, die Rüschlikon oder Herrliberg heißen.

Wie man sich in Zürich hilft, erinnert an die DDR

Letztens klagte mir eine Freundin ihr Leid. Wir saßen auf einer Bank im hügeligen Rieterpark. Die Freundin hat zwei kleine Kinder und ist ziemlich erschöpft. Ihr Mann kann ihr nicht im Haushalt helfen, weil er es mit den Bandscheiben hat. Eine Putzfrau wolle der Mann aber auch nicht anheuern, erzählte mir die Freundin – sie seien schließlich keine Millionäre. Was ihr Mann denn verdiene, fragte ich frei heraus – Gehälter und Preise sind in Zürich ein Gesprächsthema wie anderswo das Wetter oder die Königsfamilie. 18 000 Franken netto, sagte die Freundin. „Im Monat?“, fragte ich. Sie nickte. Ich war sprachlos. Hätte sie mir erzählt, dass sie mit ihrem 18 000-Franken-Einkommen in einer Wellblechhütte lebe, die Situation wäre kaum unwirklicher gewesen.

Oft taucht die Frage auf, warum die Preise in Zürich so explodiert sind. Für das Kilo Weißbrot aus dem Supermarkt etwa, das die „Economist“-Leute neben 400 anderen Produkten für ihren Preisvergleich herangezogen haben. In Zürich kostet es umgerechnet 6,15 Dollar, vor fünf Jahren waren es noch 3,93 Dollar. Die einen sagen: Es hat mit den hohen Gehältern zu tun, die in den Preisen für Waren und Dienstleistungen ihre Entsprechung finden. Die anderen sagen: Es liegt am starken Franken. Der kostet inzwischen 83 Cent – als ich 2009 zuzog, waren es noch 60. Und in den Augen der Schweizer Rechtspopulisten sind wieder mal an allem die Deutschen schuld: die zugezogenen Ärzte und Ingenieure, die angeblich jede Miete bezahlen können und damit die Preise in die Höhe treiben.

3. Phase: Das Leben muss weitergehen. Die Preise sind nicht nur für Zugezogene ein Problem. Auch die Zürcher finden Zürich unverschämt teuer. Nur wissen sich die Zürcher zu helfen. Rabatte und Ermäßigungen zu erhalten, ist in Zürich ein Volkssport. Wer zum Normalpreis kauft, ist selbst schuld, alle anderen warten auf Sonderangebote. Auf denen steht dann „Action“, als sollte sich der fremdbestimmte Zürcher Verbraucher auch einmal wie ein tatkräftiger Held fühlen dürfen. Auch wichtig: Coupons sammeln. Damit man vier Pakete Windeln (je 26,90 Franken) zum Preis von dreien bekommt, oder das japanische Messer um 40 Prozent ermäßigt. Es gibt ein eigenes Wort für Leute, die das tun: „Märkli-Sammler“.

Zürich, Manesseplatz. Grüngrau plätschert die Sihl vorbei, der Üetliberg ist nicht weit. Ich kann mich allerdings nicht mit den Schönheiten der Natur aufhalten, ich bin in einem der vielen „Brockenhäuser“, so heißen in der Schweiz die Second-Hand-Läden. Eine Etage, vollgestopft mit Möbeln, Kleidern, Töpfen, Schmuck. Es gibt alles im „Brocki“, von der Couch bis zum Hochzeitskleid, und alle kaufen im Brockenhaus ein, der WG-Bewohner genau wie die Oberärztin. Hinter vorgehaltener Hand raunt man sich in Zürich zu, wo es handgestrickte Babyjäckchen gibt oder die wenig getragenen Designerklamotten der Goldküstenbewohner. Wann die Chancen am größten sind, eine Eames-Liege zu ergattern. Nämlich am 1. April und am 1. Oktober. Das sind die zwei Termine, an denen man in Zürich offiziell den Mietvertrag kündigen und somit umziehen darf, und dann füllen sich die Brockenhäuser mit all den Sachen, die ausgemustert werden. Märkli-Wissen ist Herrschaftswissen.

Ich muss dabei immer an die Geschichten denken, die Ostdeutsche über die DDR erzählen. Wie sich die Leute Tipps gaben, wo es Orangen zu kaufen gibt, wie man sich gegenseitig unter die Arme griff. Ich selbst bestreite inzwischen einen Teil meines Lebensunterhalts mit informellen Tauschgeschäften. Ich borge einer Freundin meine Skiausrüstung, sie überlässt mir ihre Monatskarte. Ich passe auf die Kinder der Nachbarn auf, sie nehmen uns mit in ihre Ferienwohnung. Es sind Verwandte und Freunde, die einem helfen, über die Runden zu kommen – das ist in der teuersten Stadt der Welt nicht anders als in der günstigsten.

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