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Offiziell beim Bastelnachmittag mit dem Kind, inoffiziell auf der Wiese.

© olly - Fotolia

Wenn Eltern ihre Kinder als Ausrede benutzen: „Tut mir leid, ich habe keinen Babysitter“

Kaum jemand will sich heute noch die Blöße geben, für die Mühen des Elterndaseins kein Verständnis aufzubringen. Das erleichtert es Müttern und Vätern, ihre Kinder als Ausrede zu benutzen.

Die Frau kommt zu spät zu einer wichtigen Verabredung. Was war passiert? Sie sagt: „Das Kind hatte starkes Nasenbluten! Alles wurde eingesaut, die komplette Familie musste sich neu anziehen.“ Dafür hat schließlich jeder Verständnis. In Wahrheit allerdings war es anders. Der Mann hatte das Kind in den Kindergarten gebracht und sie selbst sich nochmal kurz hinlegen wollen, war dann eingeschlafen und erst nach zwanzig Minuten durch den Krach eines Müllwagens wieder aufgewacht. Das wäre zwar auch eine gute Entschuldigung gewesen, hätte aber weitaus banaler geklungen. Daher die Flunkerei mit dem Nasenbluten des Kindes.

Die kleine Geschichte findet sich auf der Webseite gofeminin.de in einem Artikel unter der Überschrift „Acht Situationen, in denen dein Kind die perfekte Ausrede ist“. Im Vorspann schreibt die Autorin Anne Walkowiak: „Eigentlich wollte ich nie so werden.

Die Mama, die ihr Kind vorschiebt, weil sie auf irgendetwas keine Lust hat. Oder die ihrem Kind die Schuld in die Schuhe schiebt, wenn gerade etwas Peinliches passiert ist. Und trotzdem mache ich genau das. Nicht immer, aber immer mal.“

Es folgen, gewissermaßen als anekdotische Evidenz, mehrere reale oder ausgedachte Situationen, in denen das Kind als Ausrede benutzt wurde – weil es praktisch schien, größeres Verständnis erwarten ließ, der Charme des Dramatischen mit der Last des Alltags verbunden werden konnte. Unter Punkt „Zweite Absage an die Freunde“ etwa heißt es: „Das Telefon klingelt kurz nach acht. Ob ich spontan Lust hätte, was trinken zu gehen. Ich ziehe die Hand aus der samtig weichen Jogginghose und halte meine neue Netflix-Serie mit einem Drücker auf die Pause-Taste an. Dann höre ich mich sagen: ,Ja, total, aber ich habe heute Abend Kinderdienst.’“

Der Kopf pocht, die Beine tun weh

Das Kind als Ausrede: Existiert dieses Phänomen tatsächlich? Mit Zahlen, Daten und Fakten lässt es sich jedenfalls nicht belegen. Weder gibt es repräsentative Umfragen noch Statistiken. Außerdem setzt sich jeder, der darüber schreibt, dem Verdacht aus, mütter-, väter- oder elternfeindlich zu sein. Andererseits gehen offenbar besonders Frauen und Mütter eher unbefangen mit dem Thema um. Einen ähnlichen Artikel wie auf gofeminin.de hat auch die Webseite netmoms.de veröffentlicht. Die Autorin, Pia Kotzur, schreibt über „Acht Situationen, in denen Dein Kind Dir die beste Ausrede liefert“.

„Eltern sein ist anstrengend“, heißt es da, „aber es gibt Situationen, in denen Dir Deine kleinen Racker den Alltag erheblich erleichtern, weil sie Dir die perfekte Ausrede bieten.“ Etwa für die Party-Absage: „Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht kommen kann, aber ich finde für heute einfach keinen Babysitter.“ Oder für den Fehltag bei der Arbeit: „Der Kopf pocht, die Beine tun weh, und die Motivation ist mit einer schwarzen Socke in der Waschmaschine verschwunden? Wenn es uns schlecht geht, leiden auch unsere Kinder. Und wenn unsere Kinder leiden, dann müssen wir nun mal zu Hause bleiben. Sorry, Chef!“

Der gesellschaftliche Stellenwert von Kindern und deren Betreuung ist gestiegen. Kaum jemand will sich die Blöße geben, für die Mühen des Elterndaseins kein Verständnis aufzubringen. Unternehmen werben damit, besonders familienfreundlich zu sein. Das erleichtert es Müttern und Vätern, ihre Kinder als Ausrede zu benutzen.

Für die Frauenzeitschrift „Freundin“ zählt das zu den Dingen, die jeder macht, aber keiner zugeben will. „Nicht selten kommt es vor, dass das Paar keine Zeit oder Energie mehr für andere Dinge hat“, schreibt die Zeitschrift. „Oder auch, wenn beide einfach keine Lust auf eine Verpflichtung haben, haben sie ein echtes Ass im Ärmel, denn das Kind funktioniert als Ausrede einfach immer.“ Und zwar vor allem dann, schreibt die Zeitschrift weiter, wenn es eigentlich keinen guten Grund für die Absage gebe.

Ein Vater wird für sein familiäres Engagement gelobt

Sowohl im Freundeskreis als auch in der Arbeitswelt lassen sich unterschiedliche Reaktionen auf solche Ausreden beobachten. Einer Mutter, die auf ein krankes Kind verweist, um eine Konferenz früher verlassen zu dürfen, wird hinterrücks nachgesagt, Beruf und Familie nicht auf die Reihe zu bekommen. Ein Vater, der dasselbe tut, wird hingegen für sein familiäres Engagement als vorbildlich gelobt. Vielleicht benutzen Väter das Kind als Ausrede sogar öfter als Mütter, sie sprechen bloß nicht so freimütig darüber. „Bei Vätern steigt das Ansehen, wenn sie sich um Kinder kümmern“, sagt ein Kollege, der selbst vier Kinder hat, „Mütter laufen Gefahr, überlastet zu wirken, wenn sie der Kinder wegen etwa einen Termin absagen.“

Das „Gründerlexikon“, das Tipps für Unternehmer bereithält, hat die beliebtesten Ausreden fürs Zuspätkommen im Geschäfts-Alltag untersucht. Das Ergebnis: „Das Kind als Ausrede gehört zu den funktionierenden Ausflüchten. Denn auch ein strenger Chef drückt ein Auge zu, wenn es um das Kind geht. Doch wehe, wenn diese Ausrede enttarnt wird!“

Eine Warnung stoßen auch Matthias Kalle und Tanja Stelzer in ihrem Buch „Der Eltern-Knigge“ aus. Auf die Frage, ob ein Kind als Ausrede benutzt werden darf, antworten sie: „Es ist ein großes Missverständnis, dass man mit einem Kind immer eine Ausrede hätte – in Wirklichkeit glaubt einem das keiner.“

PS: Der Autor konnte leider nicht noch gründlicher recherchieren, weil sein Kind plötzlich erkrankt war.

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