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Laut einer Studie im Auftrag des Bundesbildungsministeriums gibt es in Deutschland 7,5 Millionen sogenannte funktionale Analphabeten.

© picture alliance / dpa

Weltalphabetisierungstag: Deutschland muss mehr gegen Analphabetismus tun

Mehr als 14 Prozent aller Erwerbsfähigen in Deutschland sind so genannte funktionale Analphabeten. Sie können einzelne Sätze lesen oder schreiben, zusammenhängende Texte aber nicht.

Der Chef tobt, sein Mitarbeiter hat Mist gebaut. Im Lager der Firma hat der Arbeiter schwere Fässer genau an dem Ort abgestellt, wo sie gerade nicht hin durften. Alles ist in sich zusammengebrochen. Zwar warnt ein Schild davor. Den Hinweis konnte der Mitarbeiter aber nicht lesen – er ist Analphabet. Vor sieben Jahren wurde mit solchen Werbespots auf das Thema Analphabetismus aufmerksam gemacht. „Schreib dich nicht ab, lern lesen und schreiben“, lautete der Slogan.

Damals, im Jahr 2004, gingen die Experten von vier Millionen Analphabeten in Deutschland aus. Inzwischen, im Jahr 2011, weiß man durch eine Studie im Auftrag des Bundesbildungsministeriums, dass es in Deutschland sogar 7,5 Millionen sogenannte funktionale Analphabeten gibt. Das entspricht mehr als 14 Prozent aller Erwerbsfähigen. Die Bundesrepublik steht damit am Weltalphabetisierungstag am Donnerstag dieser Woche im Vergleich zu Großbritannien mit 16 Prozent zwar etwas besser da, liegt aber deutlich hinter Frankreich, wo etwa 9 Prozent der Erwerbsfähigen betroffen sind.

Funktionale Analphabeten können zwar teilweise einzelne Sätze lesen oder schreiben, zusammenhängende Texte allerdings nicht. 2,3 Millionen, also etwa vier Prozent der Gesamtbevölkerung, können nur einzelne Wörter lesen beziehungsweise schreiben. Sie gelten im engeren Sinn als Analphabeten. An der Studie „Level One“ (LeO) nahmen 2010 über 8000 erwerbstätige Personen zwischen 18 und 64 Jahren teil. Ältere sind in die Statistik noch gar nicht mit eingerechnet. Dass es aber auch betroffene Senioren und Rentner gibt, sei nur logisch, sagt Peter Hubertus, Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabetisierung. Oft geht es um Leute, die in ihrer Kindheit wenig Unterstützung im Elternhaus hatten. Es handelt sich meist um Familien, in denen die Eltern selbst einen geringen Bildungsstand haben und deswegen ihren Sprösslingen in Schulfragen nicht weiterhelfen können. Spaß am Lesen kommt so selten auf, das regelmäßige Üben bleibt aus und das Kind verliert die Lust an der Schule. Die Folge sind Frustrationserfahrungen und ein geringes Selbstvertrauen.

Das führt aber nicht automatisch in die Arbeitslosigkeit wie Hubertus erklärt. „Mehr als die Hälfte der funktionalen Analphabeten haben einen Job.“ Aber die Betroffenen hätten oft extreme Schwierigkeiten, ihren Beruf auszuüben. Daher müsse es auch gezielte Angebote in Betrieben geben. „Wir brauchen die Leute angesichts des demografischen Wandels. Oft sind sie qualifiziert und können auch ganz normale Stellen annehmen.“ Mit entsprechenden Programmen könnten sowohl diejenigen profitieren, die bereits einen Job haben. Für sie würde sich das Risiko deutlich verringern, im Falle einer Wirtschaftskrise als erstes entlassen zu werden. Und auch bislang arbeitslose Analphabeten hätten die Möglichkeit, überhaupt in Beschäftigung zu kommen. „Wir müssen den Leuten eine berufliche Perspektive bieten, das entlastet auch die Sozialsysteme“, sagt Hubertus. Die Muttersprache von 4,4 der 7,5 Millionen ist Deutsch. Die restlichen 2,9 Millionen haben folglich einen Migrationshintergrund.

Warum die bisherigen Bemühungen nicht ausreichen lesen Sie auf Seite 2.

Für Hubertus reichen die bisherigen Bemühungen nicht aus. Er fordert anlässlich des Welttages eine breite „bildungspolitische Debatte. Wir sind in Deutschland nicht besonders weit gekommen.“ Das Problem sei seit etwa 30 Jahren bekannt, seit 25 Jahren gebe es entsprechende Kurse. Gerade mal 20 000 Personen würden aber derzeit einen solchen besuchen. „So bekommen wir das nicht in den Griff.“ Zukünftig würden 100 000 Kursplätze gebraucht, auch Programme wie das Alfa-Telefon, bei dem Betroffene Hilfe bekommen, müssten weitergeführt werden.

Die Idee eines „Grundbildungspakts“ von Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) unterstützt Hubertus. Der Plan sieht vor, dass Bund, Länder, Kommunen, Betriebe und Unternehmen sowie entsprechende Verbände und Einrichtungen gemeinsam das Problem angehen. „Ein solch abgestimmtes Vorgehen hat es in Deutschland bislang nicht gegeben. Das ist eine historische Chance, die wir nutzen müssen.“ Hubertus warnt aber, dass der Bund und die Länder mit weiteren finanziellen Zuschüssen nicht zu lange warten dürften, auch wenn die Unternehmen noch Zeit bräuchten, um eigene Konzepte zu entwickeln. Die Fördersumme von 20 Millionen – eine Zahl, die seit geraumer Zeit immer wieder als Zuschuss vom Bund genannt wird – hält Hubertus für zu gering. Rückendeckung bekommt er dabei von Rita Süssmuth, der Präsidentin des Volkshochschulverbandes. „Schon heute sind die Volkshochschulen die wichtigste Anlaufstelle für funktionale Analphabeten. Wir brauchen mehr gezielte Maßnahmen, um den Anteil der Betroffenen drastisch zu senken“, sagte die frühere Bundestagspräsidentin und CDU-Politikerin.

Deutschland hatte im Zuge der Weltalphabetisierungsdekade der UN zugesagt, die Analphabetenrate zu halbieren. Auch andere Staaten haben damit Probleme. Weltweit gibt es 793 Millionen erwachsene Analphabeten, wie die Deutsche Unesco-Kommission am Dienstag mitteilte. Mehr als die Hälfte von ihnen leben in den vier bevölkerungsreichsten Ländern der Erde: China, Indien, Bangladesch und Pakistan. Fast zwei Drittel aller Analphabeten sind Frauen. „Weltweit geben Regierungen zu wenig Geld für Bildung aus“, sagte Roland Bernecker, Generalsekretär der Deutschen Unesco-Kommission. Die Alphabetisierung leiste einen wichtigen Beitrag, „um Wohlstand und Frieden zu fördern". Wo es ausreichend Bildungsangebote gibt, sei die Wahrscheinlichkeit geringer, dass es zu bewaffneten Konflikten kommt. Zu diesem Schluss kommt die Unesco in ihrem Bildungsbericht 2011. Von der Zielmarke von etwa 430 Millionen Analphabeten im Jahr 2015 ist die internationale Gemeinschaft aber noch weit entfernt.

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