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Illustration aus: Tom Seidmann-Freud: Buch der Hasengeschichten. Verlag Bokelberg.com, 26 Euro.

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Vernichtet und vergessen: Das Buch der Hasengeschichten

Sie legte sich einen Männernamen zu und wurde eine berühmte Illustratorin in der Weimarer Republik. Eines der schönsten Kinderbücher von Tom Seidmann-Freud ist jetzt wieder aufgelegt worden.

Ihre Werke kosten heute antiquarisch bis zu 4000 Dollar. In den zwanziger Jahren kannte jedes Kind ihre Bücher, die heute in Museen liegen. Sie war eine der bekanntesten und erfolgreichsten Kinderbuch-Illustratoren der Weimarer Republik. 1930 wurden zwei ihrer Bücher – „Das Zauberboot“ und die „Spielfibel Nr.1“ – unter die 50 schönsten in Deutschland erschienenen Bücher gewählt. Da war sie schon ein halbes Jahr tot. Seither ist sie so gut wie vergessen – außer bei Sammlern und in Israel, wo jedes Kind zur Geburt ein Buch mit ihren Illustrationen und Chaim Bialiks Versen bekommt. Die Rede ist von Tom Seidmann-Freud. Die Nichte von Sigmund Freud – ihre Mutter Mitzi war die Schwester des Psychoanalytikers und wurde in Treblinka ermordet – wurde 1892 in Wien als Martha Gertrud geboren, gab sich aber im Alter von 15 Jahren den Namen Tom. Sie war sicher, dass der männliche Vorname ihr bei ihrer zukünftigen Arbeit als Künstlerin nützlich sein würde.

Tom Freud war eine echte Avantgardistin. Nach der Schule besuchte sie Kunstschulen in Berlin und London. Mit noch nicht einmal 22 Jahren veröffentlichte sie 1914 ihr erstes Buch: „Das Babyliederbuch“. Gleichzeitig veranstaltete sie mit ihrer Schwester Lily erfolgreiche Märchennachmittage. Ihre Freude an Märchen sollte einen nicht täuschen. Denn diese „authentische Bohèmienne“, wie Gershom Scholem die bubiköpfige Tom in seinen Memoiren beschrieb, hatte nichts Niedliches oder Tantenhaftes, nichts, was für gewöhnlich mit Kinderbüchern assoziiert wird. Ihre Bücher werden heute in einer Reihe mit den Kinderbüchern von Grosz, Schwitters oder Morgenstern gesehen, weg vom Althergebrachten hin zu neuer Klarheit.

Aufbruch der 20er Jahre

Tom Freud war ein typisches Beispiel für den umtriebigen Aufbruch der 20er Jahre. Sie war Kettenraucherin, von „fast pittoresker Hässlichkeit“ und galt nicht nur in den Künstlerkreisen Münchens und Berlins als „ans Geniale grenzende Illustratorin“.

Waren ihre ersten Bücher noch leicht vom Jugendstil beeinflusst, fand sie mehr und mehr zum Expressionismus, zur neuen Sachlichkeit, zum Bauhaus-Stil. Ihre Bilder bestechen durch ihre explosive Klarheit, geometrische Formen mit Tinte gezeichnet und mit leuchtenden Wasserfarben ausgefüllt. Pochoir-Technik nennt sich das. Zur Meisterschaft brachte sie es mit dieser Technik in den Werken „Die Fischreise“ (1923), in dem sie den Tod durch Ertrinken ihres geliebten jüngeren Bruders Theodor verarbeitete, und im „Buch der Hasengeschichten“ (1924), das mit zwölf Märchen und Fabeln aus aller Welt dem überlebenstüchtigen Hasen ein außerordentliches und wunderschönes Denkmal setzt.

Dem früheren „Stern“-Fotografen und Sammler Werner Bokelberg ist zu verdanken, dass dieses Buch nun in einer Neuauflage erschienen ist und dem Vergessen entrissen werden kann. Die fast holzschnittartigen Tierfiguren, die Pastelltöne schaffen Bilder von wundersamer Leichtigkeit. In ihren Aquarellen präsentiert Tom Freud auch Symbole der Weltgegenden, aus denen die Fabeln stammen. Das Märchen zeigt Eskimos und einen Schneehasen in polarer Landschaft, das Märchen aus Westafrika etwa eine verzierte Kalebasse, das Märchen aus dem Sanskrit einen Elefanten und Palmen. Die Kinder nicht nur zu unterhalten, sondern auch geografisch-kulturell zu bilden, war kein Zufall.

Reformpädagogischer Hintergrund

Tom Freud hat bis 1930 zahlreiche Bücher gemacht, die nur auf dem zeitgemäßen reformpädagogischen Hintergrund entstehen konnten. Die interaktiven Fibeln „Hurra, wir lesen! Hurra, wir schreiben!“, „Hurra, wir rechnen!“ oder die „Spiel-Fibel“ mit Denk- und Spielaufgaben, deren Gestaltung in der „Frankfurter Zeitung“ von Walter Benjamin als „seltene Vereinigung gründlichsten Geistes mit der leichtesten Hand“ gelobt wurde, Bücher, die jedem Kind „Selbstvertrauen und Sicherheit“ geben. Insbesondere haben Werke wie „Das Zauberboot – Ein Bilderbuch zum Drehen, Bewegen und Verwandeln“ oder „Das neue Wunderhaus“ – heute nennt man so etwas schnöde Pop-up-Books – Kinder und Eltern zu Zigtausenden begeistert. Ähnlich wie Maurice Sendak vierzig Jahre später, hatte Tom Freud die alte Idee der Verwandlungs- und Kulissenbücher mit ihren Dreh- und Ziehbildern nicht nur wiederentdeckt, sondern fortentwickelt. Die kleinen Leser waren nicht mehr nur passive Betrachter, sondern mussten mitdenken und -spielen. Sie durften, so heißt es in Tom Freuds Klappentext, „mitdichten, Reime erfinden, an einer Geschichte Veränderungen vornehmen, die Personen eines Kasperltheaters nach Belieben auftreten lassen und vieles mehr“.

Aus dem Bewusstsein verschwunden

Einige ihrer Bücher erschienen im Peregrin Verlag, dem Verlag, den ihr Mann Jankew Seidmann gegründet hatte. Er verlegte vor allem Übersetzungen jüdischer Religionsphilosophen. Tom und Jankew Seidmann hatten zusammen mit Chaim Bialik ihr ganzes Geld in den Verlag gesteckt. Bialik, der nach Palästina ausgewandert war, kam seinen Verpflichtungen nicht nach, und beim großen Börsenkrach machte der Peregrin Verlag pleite. Seidmann war über das Scheitern seines Verlages so unglücklich, dass er sich das Leben nahm. Tom Freud verfiel darauf in tiefe Depression, aus der auch Onkel Sigmund ihr nicht helfen konnte. Gerade 37-jährig nahm auch sie sich 1931 das Leben. Ihre Tochter wurde von ihrer Schwester Lily adoptiert und wanderte 1939 nach Palästina aus, wo auch heute ihre Nachkommen leben. Unter der Nazi- Herrschaft wurden Tom Freuds Bücher verboten und vernichtet. Sie verschwanden völlig aus dem Bewusstsein.

Bevor jetzt Werner Bokelberg das „Buch der Hasengeschichten“ wieder verlegte, gab es nur wenige Neuauflagen in Deutschland. Man kann sich Tom Freuds zuweilen „seltsam apokalyptischen“ Bildern, wie einst ein Kinderbuchkenner über die „Hasengeschichten“ schrieb, nur schwer entziehen.

Tom Seidmann-Freud: Buch der Hasengeschichten. Verlag Bokelberg.com, 26 Euro.

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