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© Cinetext

Schulfreunde: Ferien im alten Leben

Wer über die Feiertage heim fährt und seine Schulfreunde wiedertrifft, erlebt nicht nur Spannendes

Noch zwei Wochen bis zum Weihnachtsexodus. Noch zwei Wochen, dann werden Mietautos vollgeladen mit Geschenken und Dreckwäsche. Mitfahrgelegenheit.de wird unter explodierenden Zugriffszahlen ächzen, die Züge unter dem Weihnachtsgepäck der Heimfahrer. Berlin bleibt ein wenig blutleerer und stiller zurück. Vor allem in Kreuzberg und Friedrichshain wird abends jedes zweite Fenster blind sein. Die Studenten pilgern heim – einer der wenigen Momente, in denen die Einheimischen uns nicht wegen unserer Herkunft sticheln, sondern sogar ein wenig darum beneiden.

Ihr Weihnachten ist nur ein paar BVG-Haltestellen entfernt. Für sie ist es ein Heimspiel, für uns ein kleines Abenteuer. Ein Ausflug nach Hause ist aber nicht aufregend, weil man Neuigkeiten erwartet. Was soll sich schon groß geändert haben, außer vielleicht dem Busfahrplan oder dem ausgebaute Dachboden bei den Nachbarn? Die Statik ist das Spannende: Weihnachten ist eine Gelegenheit, das alte Leben anzuprobieren und zu gucken, an welchen Nähten es spannt.

Der beste Referenzpunkt ist die alte Clique. Ich sage mit Absicht Clique, auch wenn das nach Fotolovestory und Pausenhof klingt. Es ist vermutlich trotzdem die treffendste Bezeichnung für meine Zuhausefreunde: Kumpels wäre zu wenig, beste Freunde zu viel. Und wenn man ehrlich ist, haben wir schon immer am besten als Grüppchen funktioniert. Wir wuchsen alle in einer Kleinstadt in Süddeutschland auf – genauer: in Ulm. Die Häuser unserer Eltern waren höchstens zehn Fahrradminuten voneinander entfernt. Wir waren fünf oder manchmal auch zwölf, wenn es die Gruppendynamik verlangte. Das Grundgerüst war aber das Fünfergespann aus Dina, Michaela, David, Christian und mir. Wir Mädchen waren seit dem Cheerleadingverein befreundet, um den sich unser Leben im Alter von 15 bis 18 drehte. David und Christian haben währenddessen zusammen Rauchen und Biertrinken im „Pott“ geübt, einem siffigen Jugendraum. Bei einer Oberstufenparty stießen die Jungs zu uns, keiner kann genau rekapitulieren, wie es kam, dass sie blieben.

Michi jobbt immer noch im Café, David trägt immer noch die gleiche Frisur

Der letzte Sommer, in dem wir unzertrennlich waren, der Sommer zwischen Abi und Studium, ist in über 500 Fotos protokolliert. Es sind Gruppenschnappschüsse am See, beim Zelten, im Club, in der Stammbar, wo Michaela, genannt Michi, bediente. Oder auf Davids Couch, weil er der Einzige war, der damals schon alleine wohnte. Es sind glückliche Schnuten, die auf den alten Aufnahmen grinsen, fotografiert mit dem Selbstauslöser oder dem ausgestreckten Arm und meist hoffnungslos überbelichtet. Auf dem letzten Foto sind die Augen der Mädchen vom Heulen klein, die der Jungs schielen betrunken. Die Münder grinsen trotzdem fleißig, es ist schließlich die Abschiedsparty, das große Finale. Einer hält eine Werbepostkarte einer Reiseagentur ins Objektiv. „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“, steht da.

Nach Berlin bin ich alleine gefahren. Michi fing eine Ausbildung als Krankenschwester an, David blieb auch da, und Christian schrieb sich an der Uni Konstanz ein. Dina hat es am Weitesten geschafft: nach Coburg in Oberfranken. Weil aber alle außer mir im 200-Kilometer-Radius um das Mutterschiff studierten oder arbeiteten, wurden die Freitage und Samstage trotzdem zusammen verbracht. Ich kam zuerst jedes dritte Wochenende dazu, später alle zwei Monate, dann für ein paar Tage in Semesterferien, zum Schluss nur noch im Feiertagstakt. Wenn ich dann wieder nach Berlin zurückkehrte, sagte ich mir: „Ja, war nett, aber länger als vier Tage halte ich es da nicht mehr aus.“ Und die alte Clique sagte: „So ein Wochenende Berlin ist gut. Wohnen könnte ich hier aber niemals.“

Niemand sprach es aus, aber jeder wusste, dass unsere Freundschaft nur in ihrer Entstehungsphase dynamisch war. Danach lebte sie lediglich von Ritualen. Und alten Geschichten. Es kam aber kein neuer Stoff für Erinnerungen nach. Die Bilder, auf denen ich mich mit den anderen vor das Objektiv drängte, wurden immer weniger. Der erste Urlaub, das erste Stadtfest, die erste Geburtstagsfete, die ohne mich statt fanden, taten weh – die dritten nicht mehr so ganz.

Mit der Zeit hatten unsere Leben immer weniger Schnittmengen. Ich kannte nicht mehr die Namen, über die gelästert wurde. Und meine alte Clique wurde meiner Großstadtbegeisterung müde. Nach einer Weile gab ich es auf, mein neues Leben für mein altes zu aktualisieren. Unsere Geschwindigkeiten waren zu verschieden. Und manchmal dachte ich, dass ihr Leben einem Museum für mein altes ähnelt. Oder einem Kühlschrank, der die Vergangenheit frisch hält, damit ich sie mir ab und zu anschauen kann.

Sie tragen immer noch die Frisuren vom Abi-Sommer. Am Wochenende gehen sie immer noch in den Club, in den wir uns mit 16 mit falschem Ausweisen reingeschlichen haben und der seitdem drei Besitzer und Musikrichtungen gewechselt hat. Unter der Woche trifft man sich in der Kneipe, in der Michi immer noch kellnert. Manchmal, wenn ich dazu stoße und das Wer-Mit-Wem durchgekaut ist, starren wir still auf die Getränkekarte, die wir doch alle auswendig kennen. Still, weil wir noch nie zu reden brauchten, um uns wohl zu fühlen. Aber auch, weil es nicht viel zu sagen gibt.

Man trifft sich seltener und verpasst das Leben der anderen immer öfter 

Vielleicht haben wir uns aber nicht deshalb entfremdet, weil wir uns zu wenig Mühe gaben, die anderen am neuen Leben teilhaben zu lassen. Vielleicht ist das Modell Clique einfach veraltet, weil es nur in eine Welt passt, in der alles in zehn Fahrradminuten zu erreichen ist. Kann es sein, dass man in einem ausdifferenzierten Leben spezialisierte Freunde braucht? Weggehfreunde, Unifreunde, WG-Freunde, Jogging-Freunde. Freundschaften, deren einzige Grundlage die Liebe für bärtige Musiker aus Williamsburg ist oder für ukrainischen Techno. Vielleicht ist die alte Clique, die früher alle Bedürfnisse abgedeckt hat, zu einem dieser Teilsysteme geworden: zu einer Freundschaftsform unter vielen, die aber trotzdem eine der wichtigsten ist.

Man zieht aus, geht an die Uni, gibt dämliche Hobbys auf – aber von seinem alten Ich kann man sich nicht trennen. Und deshalb ist die alte Clique so wichtig. Auch wenn unsere Zeit eigentlich schon vorbei ist. Auch wenn diese Freundschaft nur noch in Bilderkollagen konserviert ist und in Fotos auf Facebook, von denen man sich am liebsten weg-linken würde, weil man sich ein wenig für seine alten Klamotten schämt. Man ist jetzt nur noch Zuschauer im Leben der anderen und kein aktiver Teilnehmer mehr. Jugendfreunde, deren Leben immer noch die alte Postleitzahl hat, sind der Anker, die Messlatte der eigenen Entwicklung. Es sind Menschen zu denen man zurückkehrt, um sich zu vergewissern, woher man kommt. Und um zu wissen, was sich seitdem getan hat. Um es mit Take That zu sagen: „Never forget where you’re coming from.“

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