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Babyschildkröten auf dem Weg Richtung Meer.

© Kenneth Tingman

Schildkröten: Das große Schlüpfen

Wenn Babyschildkröten das erste Mal den Weg ins Meer finden, ist das ein einzigartiges Naturschauspiel. In South Carolina helfen Freiwillige nach. Denn die Tiere sind vom Aussterben bedroht.

Strandabschnitt 5, Edisto Island, South Carolina. Es ist 22 Uhr, noch immer 29 Grad und schwül. Die Nächte im August sind hier kaum kühler als die Tage. Kaum. Denn einen kleinen Temperaturunterschied gibt es schon – und der ist entscheidend. Wie an jedem dieser Sommerabende zwischen Juli und Oktober haben sich gut zwei Dutzend Männer, Frauen und Kinder versammelt. Sie warten, manche stundenlang. Andere kommen morgens um vier Uhr, um vielleicht doch noch eine Chance zu haben, das kleine Wunder mitzuerleben. Sie sitzen im Sand, auf Strandstühlen, oder stehen um das eingezäunte, lange Rechteck im Sand herum, das nur nach unten offen ist und damit den Weg zum Atlantischen Ozean weist. Hier könnte es passieren, genau jetzt, in dieser sternklaren Nacht. Immerhin ist es bereits Tag 49.

Und da, auf einmal bewegt sich der Sand. Oder war es eine Sinnestäuschung? Die Unruhe steigt, Minuten vergehen. Doch, da ist Bewegung, aufgeregtes Flüstern. „Es geht los!“, ruft eine Frau leise und leuchtet mit dem roten Lichtkegel ihrer Lampe auf eine Stelle. Und tatsächlich: Der Sand rutscht nach unten, ein kleiner Krater entsteht. Eine neue Generation der Loggerhead Turtle (auf deutsch: Unechte Karettschildkröte) schlüpft in dieser Nacht aus ihrem Nest.

Erst zeigt sich ein kleines Köpfchen, danach ein weiteres, dann ein Füßchen. Was langsam beginnt wird schlagartig zu einem Brodeln, einem Strudel, der sich ausbreitet. Der Sand gibt auf einer Fläche von 30 Zentimetern nach. Dutzende kleine Schildkröten kämpfen sich gleichzeitig an die Oberfläche und benutzen sich gegenseitig als Kletterhilfe. Innerhalb von nur wenigen Sekunden sind sie raus und krabbeln wie auf Kommando los – leider in die falsche Richtung. Dann aber orientieren sie sich, bewegen sich in Richtung Brandung. Eine ist besonders schnell: Sie führt ihre Geschwister an, alle folgen brav.

Zuschauer feuern die Schildkröten an

Es ist ein einzigartiges Schauspiel, die Zuschauer feuern die etwa zehn Zentimeter großen Schildkröten mit „Go Baby go!“- und „Hier lang, du schaffst das!“-Rufen an. Nach rund 15 Metern und einem kleinen Abhang erfassen die Wellen die Kleinen und tragen sie mit sich. Es ertönt der verdiente Applaus. Die Zuschauer sind beglückt - und ein bisschen verzaubert. Sie haben einem Wunder der Natur beigewohnt, das noch immer Fragen aufwirft. Denn vieles, was die Loggerhead Turtle betrifft, ist ein Mysterium. Zum Beispiel, wann genau und unter welchen Umständen sie schlüpfen. Sicher ist nur, dass sie meist dann rauskommen, wenn die Temperaturen zurückgehen. In der Regel in der Nacht, denn dann sind sie sicher vor der stechenden Sonne und vor allem auch vor den Vögeln und anderen Tieren, die es auf die kleinen Leckerbissen abgesehen haben.

Mehr als 100 Eier hat die Schildkrötenmutter an dieser Stelle vor 49 Tagen vergraben. Dann verabschiedete sie sich wieder ins Meer. Die Geburt ihrer Babys wird sie nicht erleben, aber sie hat dafür gesorgt, dass die Kleinen eine gute Chance haben, aus eigener Kraft den Atlantik zu erreichen. Das gelingt nicht immer. Manchmal verbuddeln die Mütter ihre Eier zu nah am Meer, dann muss das Nest umgesetzt werden. Dafür gibt es in South Carolina Freiwilligendienste. Es sind vorwiegend Rentner, die in der Nähe wohnen, manchmal auch Touristen, die einfach nur mithelfen wollen, weil sie von den magischen Nächten der Loggerhead Turtle gehört haben. In Edisto sind es in diesem Sommer 45 Frauen und Männer. Sie tragen weiße Polo-Shirts mit dem Aufdruck „Turtle Patrol“. Und sie nehmen ihre Aufgabe sehr ernst.

Meeresschildkröten stehen auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Tierarten, die die UN führen. Hier in South Carolina gelten sie nur als gefährdet, ein kleines bisschen weniger bedroht. Sind es an anderen Stellen der Atlantikküste andere Wildtiere, die die Eier und die kleinen Schildkröten bedrohen, sind es am Strand von Edisto vor allem die Menschen. Ihr Müll, vor allem das Plastik, schadet den Tieren. Aber auch das künstliche Licht, zum Beispiel von den Häusern direkt am Strand: Dadurch wird der Schildkrötennachwuchs in die falsche Richtung gelockt, weg vom rettenden Meer, und manchmal hin auf die Straße, auf der sie überfahren werden können. Darum gibt es in Edisto ein Gesetz, das den Hausbesitzern am Strand vorschreibt, ab 22 Uhr das Licht zu löschen oder es zumindest so zu dimmen, dass es nicht auf den Strand hinausstrahlt. Nur der Mond soll den Baby- Schildkröten den Weg weisen. Wer dagegen verstößt, muss mit einer Geldstrafe von bis zu 1.000 Dollar rechnen.

Es wirkt wie ein heiliger Ort

„Unsere Aufgabe ist es, die Schildkröten zu beschützen. Wenn sie es mit unserer Hilfe ins Meer schaffen, haben wir gewonnen“, sagt Ann Little. Die 23-Jährige ist eine Sea Turtle Technician. Sie lebt den Sommer über in Botany Bay und ist für die Schildkröten am dortigen Strandabschnitt verantwortlich. Außerdem leitet sie das wissenschaftliche Projekt, das die Freiwilligenarbeit hier in der Gegend finanziert.

Botany Bay ist eine riesige ehemalige Plantage, auf der vor allem Reis und Baumwolle angebaut wurde. Der letzte Eigentümer hat es dem US-Bundesstaat South Carolina vermacht, angeblich, weil er zu Lebzeiten eine Strafe nicht bezahlen konnte. Nun ist es ein einzigartiges Naturschutzgebiet, das vom South Carolina Department of Natural Ressources verwaltet wird. Der Eintritt ist frei, aber die Regeln sind streng. Am Strand darf nichts verändert werden. Die umgefallenen Bäume bleiben einfach liegen und bilden eine bizarr-schöne Kulisse. Überall liegen Muscheln herum, manche sind mehr als 20 Zentimeter groß. Die Besucher dürfen seit ein paar Jahren nichts mehr vom Strand mitnehmen, es wird streng kontrolliert. Auch hier drohen empfindliche Geldstrafen. Dafür drapieren die Besucher viele der Muscheln in den Palmen und anderen Bäumen nahe am Meer. Es wirkt wie ein heiliger Ort. Kürzlich wurden an diesem Strand mehr als 3.000 Jahre alte Spuren der Ureinwohner gefunden.

Hier in Botany Bay wird auch über die Loggerheads geforscht. In einer Datenbank ist genau festgehalten worden, wann welche Mutter ihre Eier wo abgelegt hat. Wie viele Eier es sind, ob sie an einer geeigneten Stelle liegen oder versetzt werden müssen. Auch Fehlversuche werden notiert. Dann wird gezählt, zwischen 45 und 70 Tage dauert es, bis die Babys schlüpfen. 80 bis 140 Eier liegen in einem Nest, das keine 90 Zentimeter breit ist. Von jedem Nest, das die Freiwilligen von der „Turtle-Patrol“ finden, und sie finden die meisten, nehmen sie ein Ei mit und senden es an die Universität von Georgia. So werden genetische Proben aller Weibchen archiviert. Die Männchen sind in diesem Fall nicht so wichtig, denn sie kommen nicht an Land.

Weibchen kehren an den Ort ihrer Geburt zurück

Nur die Weibchen kehren zur Eiablage an den gleichen Strand zurück, an dem sie selbst geboren wurden. Es sind riesige Tiere: Der Rückenpanzer der bräunlichen Loggerheads wird bei ausgewachsenen Exemplaren bis zu 120 Zentimeter lang, die Tiere können bis zu 110 Kilogramm wiegen. Ihre Eier erinnern an Tischtennisbälle, nur mit weicher Schale. Am Strandabschnitt Edisto Beach hat die Turtle Patrol in diesem Sommer 112 Nester gezählt, am Strand von Botany Bay sind es 196, deutlich weniger als in anderen Jahren. „Aber die Weibchen legen auch nur alle zwei bis drei Jahre ihre Eier“, sagt Ann. Sie rechnet damit, dass es im kommenden Jahr wieder mehr Eier sein dürften.

Mehr als die Hälfte sind in diesem Jahr an den Stränden von Edisto bereits geschlüpft, sorgsam bewacht von den freiwilligen Helfern. Und moralisch unterstützt von Touristen wie Adrien und John Pepper aus North Carolina. Ihnen ist gelungen, was nur ganz wenige erleben: Sie haben in zwei aufeinanderfolgenden Nächten beim „Turtle Hatching“ dabei sein dürfen. John kann es kaum glauben. „Das ist das Unglaublichste, was ich je erlebt habe“, sagt er. Und beide sind entschlossen, auch die dritte Nacht in Folge auszuharren. Denn noch gibt es ein Nest am Strandabschnitt, das nicht geschlüpft ist. Das Warten kann wieder beginnen.

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