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Saigon

© Mauritius

Vietnam: Goldfische auf dem Moped

Koloniales Erbe, grausame Kriege, kommunistisch-kapitalistischer Spagat: Saigon spiegelt die Entwicklung Vietnams. Und ist dabei romantisch geblieben.

Am ersten Abend sitzen wir draußen, öffnen ein Bier und freuen uns: an der warmen, wattigen Luft, dem schrillen Glitzern der Bar und dem Knattern der Mofas unter uns. Der Kellner bringt Frühlingsrollen, außen Reispapier, innen Krabben und Frühlingszwiebeln. „Saigon ist ein schöner Ort, um ein paar Tage zu vertrödeln“, wusste schon 1923 der Romancier William Somerset Maugham. „Es ist so angenehm, auf der Terrasse des Hotel Continental unter der Markise zu sitzen, einen Ventilator direkt über dem Kopf, einen unschuldigen Drink vor sich, und in der Lokalzeitung von den hitzigen Debatten über die Angelegenheiten der Kolonie und von den Geschehnissen in der Nachbarschaft zu lesen.“

Die Kolonie ist längst keine mehr, die Terrasse weg, das Hotel immerhin noch da. Mittlerweile gehört das 1880 erbaute Continental der staatlichen Saigon Tourist Company – schließlich wird Vietnam seit 1975 kommunistisch regiert. Die Rue Catinat heißt seither Duong Dong Khoi (Straße des Generalaufstands), Saigon offiziell Ho-Chi-Minh-City. Obwohl: Saigon hat sich im allgemeinen Sprachgebrauch längst wieder durchgesetzt.

Trotzdem stimmt, was Maugham einst bemerkte, und eine koloniale Terrasse ist zum Vertrödeln so geeignet wie die nächste. Die Wechselfälle der Geschichte, der Vietnamkrieg, der hier der Amerikanische Krieg heißt, und der Neubeginn im sozialistisch vereinigten Staat haben der Stadt, in der die Kathedrale Notre Dame heißt und die Cocktails „B 52“ oder „Good Morning, Vietnam“, wenig von ihrem kolonialen Zauber genommen. Auch wenn sie sich schnell verändert, die Rikschas von den Straßen verschwunden sind und auch die Mofas ihren waghalsigen Slalom auf den breiten französischen Alleen zwischen immer mehr Autos fahren: Saigon ist ein romantischer Ort.

Deshalb wohl wurde hier auch immer viel geliebt, viel gelitten und viel über beides geschrieben. „Es war ein langes Liebeswerben voll Enttäuschungen gewesen“, lässt Graham Greene seinen Protagonisten im Roman „Der stille Amerikaner“ seufzen. Denn der in England verheiratete Fowler kann Phuong, dem schönsten Mädchen Saigons, keinen Antrag machen, was den Flirt erheblich erschwert: „So vergingen drei Monate, ehe ich sie auch nur für einen Moment allein sprechen konnte. Es war auf einem Balkon des Majestic…“ Folgenschwerer für die Romanze des englischen Korrespondenten Fowler mit der Vietnamesin ist indes das „Continental“. Denn dort begegnet er dem stillen Amerikaner, der sich ebenfalls in Phuong verliebt. In dem Traditionshotel gegenüber der Oper logierte auch Graham Greene, als er 1951 seinen Roman über die Dreiecksgeschichte vor dem Hintergrund der Anfänge des amerikanischen Eingreifens in Indochina begann.

Wie es damit weiterging, erzählt das „War Remnants Museum“, das früher deutlicher „Museum für Kriegsverbrechen“ hieß. Es ist die Geschichte zweier grausiger Kriege. Nachgebaute „Tigerkäfige“ zeigen, wie Gefangene der Franzosen auf der Insel Con Son gehalten wurden – in Verschlägen im Boden. Fotos von Folteropfern und durch Entlaubungsmittel missgebildeten Kindern, als Spielzeug getarnte Bomben, Gasmasken, Gewehre und Kleider mit Brandspuren dokumentieren das amerikanische Eingreifen in den Konflikt zwischen Nord und Süd, Kommunismus und Kapitalismus. Die Abteilung für Kriegsverbrechen kommentiert die Taten der Amerikaner mit einem Zitat aus der Unabhängigkeitserklärung: Alle Menschen sind gleich geschaffen, jeder hat ein Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.

Der Umgang mit der siegreichen Ideologie ist pragmatisch. Nach Jahrzehnten des Kommunismus erlebt Vietnam einen Wirtschaftsboom. In Saigon ist fast jeder Unternehmer. Auf Mofas sind Imbissbuden montiert, auch Buchhandlungen, aus denen „Der stille Amerikaner“ und andere Geschichten verkauft werden, und Zierfischgeschäfte. In Plastiktüten voll Wasser schweben Goldfische durch den ewigen Fluss des Straßenverkehrs.

Jeden Tag werden mehr als 450 Mopeds und hundert Autos zugelassen. Dabei ist ein neues Moped mit 2000 US-Dollar nicht eben billig. Der Straßenbau kommt gegen diese Flut nicht an. Für ausländische Investoren hat jede Provinz Industrieparks angelegt, in denen der Kommunismus aufgeweicht wird. Der spiele nurmehr eine theatralische Rolle, erklärt der deutsche Generalkonsul Heinz-Peter Seidel. So ist zwar aller Grund und Boden Volkseigentum. Doch gebe es durchaus wohlhabende Menschen, die mit Immobiliengeschäften zu Geld kämen. Und obwohl die meisten Menschen in Saigon mit 100 US-Dollar im Monat zurechtkommen müssen, sei Sozialneid praktisch unbekannt.

Viele der touristischen Attraktionen haben mit den beiden Indochinakriegen zu tun. Im „Ho Chi Minh City Museum“, einem luftigen zweistöckigen Palast, der erst Residenz des französischen Gouverneurs und später zeitweise Amtssitz des südvietnamesischen Präsidenten Diem war, lassen sich zarte Bräute in weißen Kleidern neben verschwitzten Bräutigamen fotografieren. Die Relikte des Kampfes gegen französische und amerikanische Besatzer, die uniformierte Wärter und vereinzelte Touristen betrachten, stauben derweil langsam zu.

Obwohl wir ja eigentlich Zeit vertrödeln wollen wie von Somerset Maugham empfohlen, verlassen wir die Stadt für einen Tag. Wir fahren an grünen Reisfeldern vorbei durch betriebsame Städtchen und Dörfer nach Long Hoa im Bezirk Tay Ninh. Dort ruht der fantastisch farbenfrohe Cao-Dai-Tempel auf von Drachen umschlungenen Säulen: 36 Meter hoch, 40 Meter breit, 140 Meter lang. Alle sechs Stunden feiert die Glaubensgemeinschaft eine Messe, die Besucher von einer Galerie aus verfolgen können.

Laien sind weiß gewandet; die Mönche bunt: Gelb symbolisiert den Buddhismus, das Blau Daoismus, das Rot Konfuzianismus; aus allen dreien setzt sich die 1926 offiziell anerkannte Religion zusammen, die außerdem Anleihen beim Katholizismus nimmt. Glocken klingen, Gesang ertönt, die Gläubigen verneigen sich. Am Kopf der Halle befindet sich eine Kugel mit dem Göttlichen Auge darauf. Es sieht jeden Schritt, den die Gläubigen tun. Hinter dem Kugel-Altar lässt sich ein Teil einer Steinstufe mit zwei Eisenringen öffnen. Während des Kriegs kamen dort Milizionäre hervor oder verschwanden auf diesem Weg. Die Cao Dai bekämpften im Ersten Indochinakrieg die französischen Besatzer; später aber machten sie mit den Franzosen gemeinsame Sache gegen die Kommunisten, deren Ho-Chi-Minh-Pfad in ihrem Gebiet endete.

Draußen ist es brütend heiß, und wir müssen einige Kokosnüsse austrinken, bevor wir die letztere Angelegenheit weiterverfolgen. 50 Kilometer südlich in Richtung Saigon liegen die Tunnel von Cu Chi: 200 Kilometer Weg, Versammlungsräume, Waffenschmieden, Küchen und Krankenstationen – alles unter der Erde. Aus dem mehrstöckigen Tunnelsystem, das seit den späten 40er Jahren von Kämpfern aus dem Norden und Einheimischen angelegt wurde und bis zu 20 Meter in die Tiefe reichte, erfolgten die Angriffe des Vietcong.

Ein für westliche Körpermaße ausgebauter Teil kann heute besichtigt werden. Tatsächlich waren die Tunnel, die die Amerikaner lange vor das Rätsel stellten, woher der Feind urplötzlich kam und wohin er genauso schnell wieder verschwand, so eng – oft gerade mal 60 Zentimeter breit und 80 hoch –, dass auch schmale Vietnamesen sich hineinzwängen mussten. Die Vietcong-Guerilla verbrachten oft Wochen in der Hitze, Finsternis und fauligen Luft der unterirdischen Schächte. Gegen Klaustrophobie und Angst vor Schlangen halfen die Bomben von oben – denn die Amerikaner wussten zwar von den Tunneln, nicht aber, wie ihnen beizukommen wäre. So bombardierten sie alles, was sie sahen, und entlaubten die Wälder, um mehr zu sehen.

Der Führer zeigt uns die unter einer Schicht Laub verborgenen Falltüren und die Fallen, die den Wald für die nach dem unsichtbaren Feind suchenden Amerikaner sehr ungemütlich machten: etwa die „Souvenir-Falle“, in die man tritt wie in einen Papierkorb, aus dem sich sechs Spitzen ins Bein bohren.

Eigentlich war Cu Chi ein Picknickziel für die Großstadtbewohner Saigons, erklärt der Guide: „Eine freundliche Landschaft.“ Mitten im Wald steht ein amerikanischer Panzer, der 1970 von einer Mine zerstört wurde. An einem Schießstand können die verschwitzten Besucher auf eine Zielscheibe ballern. Wer zweimal trifft, bekommt einen Schlüsselring, für fünf Treffer gibt es eine Offiziersmütze.

Wir reihen uns ein in die Auto- und Mofakolonne nach Saigon. Am Abend sitzen wir im „Apocalypse Now“, wo Kellnerinnen in blauen Minikleidern vor roten Lampions umherhuschen, und später auf der Dachterrasse des vornehmen Caravelle Hotels gegenüber der Oper. Nicht weit von hier, im legendären Continental Hotel, hatten die westlichen Korrespondenten gegen Ende des Vietnamkriegs die Front im Blick.

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