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Reise: Schön unter Druck

Am Donnerstag beginnt die Leipziger Buchmesse. Lesen, Schreiben und Verlegen hat Tradition am Ort. Um 1900 hatten 850 Verlage hier ihren Sitz. Eine Spurensuche mit köstlichen Überraschungen

Ein bisschen scheint es ihr peinlich zu sein, diese ganzen Superlative immer. Wo man geht und steht in Leipzig. In der Stadt wurde vor 360 Jahren die erste Tageszeitung der Welt gegründet, der erste Musikverlag, eines der bekanntesten Wirtshäuser steht hier, Auerbachs Keller. Eva Maria Müller, Stadtführerin seit vielen Jahren, bekommt von Straßenecke zu Straßenecke immer rötere Wangen. Denn stolz ist sie schon. „Früher war Leipzig eine der bedeutendsten Städte für den Buchhandel“, sagt sie. Früher. Heute ist das nicht mehr so. Und deshalb soll die in wenigen Tagen beginnende Buchmesse Anlass sein, bei einem Spaziergang mit Eva Maria Müller vergangene Zeiten heraufzubeschwören. Rekordzeiten.

1493 findet die erste Buchmesse in Leipzig statt. Damals ist die Stadt bereits ein bedeutendes Handelszentrum in Europa, das Güter aus aller Welt anbietet und von wichtigen Handelsrouten durchkreuzt wird. Also lotst die Stadtführerin den Besucher erst einmal in die einstigen Messehöfe der Stadt.

Wenn zur Buchmesse vom kommenden Donnerstag an für mehrere Tage der Hauptbahnhof vor lauter literaturbegeisterten Ankömmlingen überquillt, wenn die Stadt nicht schläft, weil zu allen Tages- und Nachtzeiten in Geschäften und Cafés, Kellern und Hallen Schriftsteller aus ihren neuesten Werken vorlesen – dann kann man nachvollziehen, wie das früher einmal war, als in Leipzigs innerstem Kern noch neun Mal im Jahr eine Messe stattfand und die Waren mit Kutschen in die gepflasterten Höfe gezogen wurden. Ein so buntes Treiben muss das gewesen sein, dass sich darüber die Steine erhitzten. Denn seitdem spricht man vom „heißen Pflaster.“ Die Redewendung, behauptet Eva Maria Müller, kommt aus Leipzig.

Die Stadtführerin zieht durch die typischen Passagen weiter ins Barfußgässchen und stößt die Tür zum „Coffe Baum“ auf. Hier wird seit 1711 Kaffee ausgeschenkt, es ist damit eines der ersten Kaffeehäuser Europas. Auch wieder so ein Superlativ. Kellnerinnen balancieren dampfende Teller mit Hausmannskost an die Tische der Touristen und „Kaffeesachsen“, wie die Einheimischen wegen ihrer angeblichen Vorliebe für das Heißgetränk genannt werden. Eva Maria Müller grinst. Und lässt nur einen kurzen Blick in die Vitrine mit den sahnigen Torten werfen. Sie will woanders hin: „Sehen Sie die holzvertäfelte Ecke da? Dort war der Stammtisch von Robert Schumann“, sagt sie. Der Komponist gründete 1834 in Leipzig die „Neue Zeitschrift für Musik“, arbeitete selbst als Redakteur. Das Magazin existiert noch heute.

Nicht weit vom Café entfernt, in der Hainstraße, einer der quirligen Einkaufsstraßen, die direkt zum Markt führen, stand einst das „Haus zum Birnbaum“, ein prächtiges Palais aus dem 19. Jahrhundert, das zur Zeit hinter Baugerüsten verschwindet und saniert wird. Hier wohnte der Drucker Melchior Lotter, er verlegte Reformationsschriften Martin Luthers, der auch gern bei ihm abstieg.

Einige Meter weiter macht Eva Maria Müller die Besucher mit einem weiteren Autor bekannt. In der Adler Apotheke absolvierte Theodor Fontane seine Ausbildung, bevor er sich entschloss, doch lieber Dichter zu werden. Eine Hinweistafel im Geschäft erinnert daran. Fontane liebte seinen Arbeitsweg in Leipzig: „Ich war ganz benommen und möchte behaupten, dass, soweit Architektur und Stadtbild in Betracht kommen, nichts wieder in meinem Leben einen so großen, ja komisch zu sagen, einen so berauschenden Eindruck auf mich gemacht hat wie dieser in seiner Kunstbedeutung doch nur mäßig einzuschätzende Weg vom Post- und Universitätsplatz bis in die Hainstraße“, heißt es in seiner Autobiografie.

Die Universität ist heute ein moderner Bau. Man gelangt zu ihm am besten durch den Innenhof des ersten Mustermessehauses von 1894, ein Monument des Kaufmannsstolzes. Am Neumarkt 9 geht es hinein, die großzügige Freitreppe hinauf bis zum nächsten Durchgang. In der Universitätsstraße passiert man die Fahrräder der vielen Studenten. Eine Plakette am Boden erinnert an das hier einst stehende Haus des goldenen Bären. Es war die Adresse des Breitkopf & Härtel Verlags, des ersten Musikverlags der Welt. Noch heute schmückt er sich mit einem Bären im Logo – auch wenn der Hauptsitz inzwischen in Wiesbaden ist.

Übrigens, auch Johann Christoph Gottsched, Schriftsteller und Theatermann aus dem 18. Jahrhundert, hat im Goldenen Bären logiert. Und er gründete die erste Frauenzeitschrift Deutschlands. Sie trug den hübschen Titel: „Die vernünftigen Tadlerinnen.“ Wenige Jahre danach, 1735, schob Gottsched noch die erste Literaturzeitschrift hinterher. „Ach“, sagt die Stadtführerin, unmöglich könnte sie all die Geschichten bei einem Rundgang wiedergeben.

Eva Maria Müller zählt weitere Namen auf: Die Weidmannsche Buchhandlung wurde 1680 in Frankfurt am Main gegründet und zwei Jahre später nach Leipzig verlegt. Die Weygandsche Buchhandlung, einst in Helmstedt gegründet, zog 1767 in die sächsische Hauptstadt. Johann Friedrich Weygand, der geschäftstüchtige Verleger, war auf der Suche nach neuen Autoren und stieß auf Johann Wolfgang von Goethe und seinen Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“. Ein echter Kassenschlager. Brockhaus zog 1817 von Amsterdam in die Verlagsmetropole um. 1910 gründete Ernst Rowohlt seinen Verlag – wo? In Leipzig natürlich. Fritz Baedeker liegt auf dem Leipziger Südfriedhof begraben. Ganz zu schweigen vom Insel Verlag, Gustav Kiepenheuer, Reclam, Seemann, Georg Thieme. Schon im 18. Jahrhundert besaß die Stadt die größte Buchhändlermesse Deutschlands und löste damit Frankfurt am Main als Hauptstandort ab.

Um 1900 zählte Leipzig 850 Verlage und Buchhandlungen sowie mehr als 200 Buchbindereien. 95 Prozent von ihnen hatten ihren Sitz im sogenannten Graphischen Viertel. Dorthin hatte es die Firmen im Zuge der Industrialisierung gezogen. Wer einen Spaziergang durch das Viertel machen möchte, überquert den weiten Augustusplatz mit dem Gewandhaus und geht über den Altstadtring hinaus.

Im Gegensatz zur Innenstadt warten im „Graphischen Viertel“ tatsächlich noch ehemalige Produktionsstätten auf die Besucher – auch wenn nach der Wende die Gegend an Bedeutung verlor und viele Verlage umzogen. Und so entpuppt sich der Besuch der mächtigen Bauten ebenfalls eher als eine ruhige Spurensuche. Der Gebäudekomplex an der Inselstraße 22–26 heißt noch heute Reclam-Carree, ein repräsentativer, vierstöckiger Bau aus dem Jahr 1905. Im Innenhof befindet sich das Maschinenhaus, in dem früher per Dampf die Druckerpressen angeheizt wurden. Gleich gegenüber befand sich von 1914 bis 1919 der Kurt Wolff Verlag. Eine Gedenktafel weist darauf hin, dass bei ihm die „Autoren der expressionistischen Generation“ verlegt wurden. Walter Hasenclever, Franz Kafka, Georg Trakl.

Herz des Viertels ist der Gutenberg-Platz, benannt nach dem Erfinder des modernen Drucks. 1996 wurde hier das „Haus des Buches“ erbaut, auf historischen Grund und Boden. Bis zur Bombennacht vom 4. Dezember 1943 war an dieser Stelle der Sitz der Buchhändlerbörse. Heute ist es ein lebendiger Treffpunkt, Verlags- und Tagungsort, Literaturhaus und -café.

Wer Leipzigs erstes, mit beweglichen Lettern gefertigtes, Buch sehen möchte, spaziert zurück ins Zentrum. Das Werk liegt im Stadtgeschichtlichen Museum im Alten Rathaus aus. „Ein Wanderdrucker, ein gewisser Marcus Brandis hat es 1481 hergestellt“, erzählt Eva Maria Müller.

Schräg gegenüber von Leipzigs ehemaligem Bürgermeistersitz spiegelt sich in den Fenstern der modernisierten Fassade eines klotzigen Sechziger-Jahre-Gebäudes der Rathausturm. „Messehaus am Markt“ steht noch in großen Buchstaben dort angeschrieben. Auch wenn sich hier längst Bekleidungsketten und Boutiquen breitgemacht haben und das Gebäude nun die Wochenendshopper von der trubeligen Fußgängerzone, der Grimmaischen Straße, einsaugt. „Hier hat früher die Buchmesse stattgefunden“, sagt Eva Maria Müller. Heute präsentiert sich die Schau etwas außerhalb, auf dem Neuen Messegelände. Zu DDR-Zeiten, erzählt die Touristenführerin, haben die westdeutschen Verlage ihre Bücher weder verkaufen noch verschenken dürfen. „Aber natürlich waren deren Stände für uns besonders interessant“, sagt sie und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Wir haben gestohlen wie die Raben.“

Und weil Eva Maria Müller findet, dass ein Leipzigbesuch ohne Nikolaikirche ein unvollständiger ist, führt sie ihre Besucher zum Abschluss noch zum Gotteshaus. Und selbst in dieser Kirche, bekannt für die Montagsgebete und den Beginn der friedlichen Revolution 1989, stolpert man wieder über das Thema Buch. Die Deckengemälde und Ornamente im rosa-grünen Kirchenschiff stammen vom klassizistischen Maler und Buchillustrator Adam Friedrich Oeser. Er war erster Direktor an einer der ältesten Kunsthochschulen Deutschlands, gegründet 1764, der „Zeichnungs-, Mahlerey- und Architectur-Academie“. Heute heißt sie Hochschule für Grafik und Buchkunst. Bekannte Künstler studierten hier, etwa die Mitglieder der sogenannte Neuen Leipziger Schule um Neo Rauch. Ihre Werke erzielen auf dem Kunstmarkt Höchstpreise. Wieder ein Rekord.

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