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Die Statue über dem Okanagan-Tal ist das Wahrzeichen des Weinguts NK'MIP.

© Jörg Michel

Kanada: Riesling aus dem Reservat

Verkosten bei Trommelklängen: Im Westen Kanadas keltern die Osoyoos-Indianer preisgekrönten Wein.

Ganz oben in den Weinbergen sitzt ein Häuptling auf einem Pferd. Über Rebhänge und Buschland blickt er hinunter zum See. Er trägt prächtigen Federschmuck, seine Arme sind weit in den Himmel gereckt, und in den offenen Händen hält er eine Friedenspfeife. So sieht ein traditioneller Willkommensgruß von Indianern aus.

Doch dieser Häuptling ist nicht echt. Er besteht ganz und gar aus Metall. Auf seinem Felssockel wacht er an der Einfahrt zum Reservat. Dahinter liegen ein Resort und das NK’MIP (ausgesprochen: »in-ka-miip«), das erste Weingut, das Indianern gehört und von ihnen geführt wird. In ihrer Sprache bezeichnet es den »Ort, wo der Bach in den See mündet«. Gemeint ist das Stück Land am Zusammenfluss von Okanagan Lake und Okanagan River, drei Autostunden von Vancouver an der kanadischen Westküste entfernt.

Die Straße zum Gut windet sich durch eine Prärielandschaft aus Gräsern, Büschen und kleinen Kiefern hinauf zu den Weinbergen. Noch hängen die Rebstöcke voller Trauben. Es geht vorbei an dem Hotel im Pueblo-Stil. Auf dem Parkplatz laden Besucher in Shorts und Sandalen gerade ihre Koffer aus, auf dem Trottoir zieht ein Golfspieler seinen Buggy hinter sich her. Im Hintergrund erhebt sich ein sandfarbiger Neubau: die Kellerei. Das Firmenlogo über dem Eingang zeigt eine Schildkröte auf einer Speerspitze.

Hinter hohen Papierstapeln sitzt Häuptling Clarence Louie an seinem Schreibtisch und erklärt: »Die Schildkröte steht bei uns für Mutter Erde, der Speer für Macht und Einfluss.« Louie sagt, das Logo wolle die traditionelle Verbundenheit seines Volkes mit der Natur zum Ausdruck bringen. Aber auch deutlich machen, dass man hier nicht nur irgendwelche Weine produzieren will – sondern Spitzenweine.

Clarence Louie hat das Weingut gegründet. Er trägt Jeans, einen Gürtel mit großer Schnalle und Cowboystiefel. Auf sein rotes Polo-Shirt hat er einen Häuptlingskopf sticken lassen. Louie ist der Anführer der Osoyoos-Indianer, deren winziger Stamm aus dem Süden der Provinz British Columbia nicht mehr als 470 Mitglieder zählt.

Das Volk mag klein sein, das Ensemble über dem Okanagan-See ist es nicht: An dem Ufer, wo der Stamm jahrhundertelang sein traditionelles Winterquartier aufgeschlagen und in Erdhäusern gelebt hat, dreht sich heute alles um Luxus, Kultur und Genuss. Die Indianer haben hier ein Museum gebaut mit Filmtheater und Artefakten aus ihrer Geschichte. Sie sind an dem Viereinhalb-Sterne-Hotel mit 226 Zimmern und dem angrenzenden Golfplatz beteiligt und betreiben ihre eigene Weinkellerei.

Indianer und Wein? Der Häuptling runzelt die Stirn und sagt: »Wir haben den Weinbau nicht erfunden. Aber das Geschäft lohnt sich.« Ihm geht es vornehmlich ums Geld, um den Weinbau als einträgliche Landnutzung. Das Häuptlingsbüro entspricht allerdings nicht gerade der Vorstellung von betriebswirtschaftlicher Organisation. Es ist vollgestopft mit Krimskrams: Bärenfiguren aus Messing, Eishockey-Trikots, bemalten Kanupaddeln, zerfledderten Federn, Plastikspielzeug. Auf dem Fenstersims steht ein Buch von Nelson Mandela: Der lange Weg zur Freiheit.

Das Chaos täuscht. Seine Vision von einem florierenden Weingut hat der Häuptling nämlich zielstrebig umgesetzt. Er erzählt, wie er als junger Mann selbst lange als Erntehelfer geschuftet und Erfahrung im Weinbau gesammelt hat. Anfangs kelterten die Indianer noch nicht selbst, alle Trauben wurden verkauft: »Die Qualität war bestenfalls mittelprächtig.« Als Louie Mitte der Achtziger im Alter von 23 Jahren zum Häuptling gewählt wurde, handelte er mit der Regierung Entschädigungszahlungen für verlorenes Land aus und investierte einen Teil der Erlöse in den Weinberg. Die Qualität der Trauben verbesserte sich, bald flossen die ersten Gewinne. Vor acht Jahren eröffnete die Kellerei.

»Jeder Weinbauer hat den Traum, irgendwann seine eigene Kellerei zu besitzen«, erklärt Clarence Louie. Heute produzieren seine Leute 18.000 Kisten pro Saison: Riesling, Pinot Blanc, Chardonnay, Merlot, Cabernet Sauvignon, Syrah, Meritage. Über 50.000 Touristen kommen jedes Jahr. Eine Besuchergruppe verkostet gerade im Verkaufsraum Wein. Eine andere lässt sich von einem Indianer durch die Kellerei führen. Oft übernachten die Gäste im Hotel am Ort, nehmen Wellness-Angebote wahr, verbringen den Tag beim Golfspielen. Mit diesem Konzept hat Louie sein Volk zu bescheidenem Wohlstand geführt. Die größte kanadische Tageszeitung Globe and Mail nennt ihn bereits einen »Wunder-Häuptling«. Die Fachzeitschrift Wine Spectator zählt seine Trauben »zu den besten des Landes«.

Clarence Louie weiß, wie heikel es ist, dass sein Stamm das Geschäft mit dem Wein betreibt. Immerhin hat der Alkohol, den die Weißen vor fast zwei Jahrhunderten in das Okanagan-Tal brachten und gegen Waren der Indianer eintauschten, sein Volk beinahe ausgerottet. Auf dem Weg in den Weinberg, wo die Grillen zirpen und der Duft von wildem Salbei und Holunder in der Luft liegt, erzählt der Häuptling, wie umstritten die Gründung der Weinkellerei war. Besonders bei den Älteren. Noch immer halten viele von ihnen Alkohol für einen Dämon. Erst nach langen Diskussionen konnte Clarence Louie die Skeptiker vom Nutzen des Projekts überzeugen.

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In vielen Reservaten Nordamerikas ist Alkoholabhängigkeit bis heute ein Problem. »Das gilt auch für uns«, räumt Clarence Louie ein und führt es auf die fehlenden Zukunftsperspektiven zurück. »Gerade aber der Weinbau wird uns dabei helfen, den Alkoholismus zu besiegen. Wir schaffen hier Jobs und können mit dem Erlös in unsere Schulen investieren.« Die meisten seiner Leute trinken den Wein nicht, den sie produzieren. Fast 200 Stammesangehörige hat er in der Kellerei und den anderen Betrieben untergebracht.

Sam Baptiste ist einer von ihnen. Er steht im Rebacker mit der Parzellennummer 169-3309. Schroff ragen die Felswände drumherum mehrere hundert Meter hoch in den Himmel. Hier, auf den Osthängen des Tals, bauen die Indianer Cabernet-Sauvignon-Trauben an. Gegen den Vogelfraß haben sie die Weinstöcke mit Alustreifen bestückt, die jetzt in der Sonne flimmern. Einzelne Rebblätter sind schon rot, die Trauben tiefblau. Baptiste probiert, spuckt die Kerne auf den Boden und brummt: »Noch nicht reif.« Der Sommer war zu kühl. Baptiste ist mit der Lese drei Wochen in Verzug. Das drückt auf die Stimmung.

Während der Häuptling das Geschäftliche erledigt, kümmert sich Baptiste als Weinberg-Manager um den Anbau auf einer Fläche von insgesamt 140 Hektar. Er sorgt für Bewässerung, Düngung und Ernte. Wie die meisten Indianer lebt der Mittfünfziger im Reservat. Früher war er selbst mal der Häuptling. »Dann habe ich aber gemerkt, dass Politik nichts für mich ist.« Seither bewährt er sich als Fachmann für Böden und Wetter.

»Wir profitieren vom Wüstenklima«, sagt Bapitiste. Er erklärt, dass es im Okanagan-Tal mit Sommertemperaturen bis zu 40 Grad außergewöhnlich heiß ist. Im Juni und Juli scheint die Sonne durchschnittlich zwei Stunden länger als im kalifornischen Weinanbaugebiet Napa-Valley. Der Okanagan-See ist tief und speichert die Wärme. Die Nebengebirge der Rocky Mountains schirmen die Kälte ab. Dieses Klima hat den Wein-Boom in dem 250 Kilometer langen Tal ausgelöst. Wo vor zwanzig Jahren nur ein paar Obstbauern ein karges Dasein fristeten, wetteifern heute 150 Weingüter um Qualität.

Auf der kleinen Restaurantterrasse der Kellerei wartet Justin Hall. Es riecht nach gebratenem Knoblauch und Olivenöl. Man hört das Klappern von Geschirr. Ein paar Besucher sitzen unter einer Pergola beim Mittagessen. Sie haben einen weiten Blick über die Weinberge auf den See und das Örtchen am Ufer. Es trägt denselben Namen wie der Indianer-Stamm: Osoyoos. Auf der Karte steht frischer Wildlachs aus dem Okanagan-Fluss.

Der 29-jährige Justin Hall, der im Reservat aufgewachsen ist, arbeitet seit fünf Jahren in der Kellerei. Inzwischen wurde er zum stellvertretenden Kellermeister befördert. Seine Frisur hat er mit Gel gestylt und trägt zwei silberne Ohrringe. Wenn er sich mal nicht um Wein kümmert, geht er jagen oder fischen. Manchmal fängt er wilde Pferde ein in der Prärie. Dafür allerdings hat er immer weniger Zeit. »Ich lebe in zwei Welten«, sagt er. »Ich bin ein Indianer, arbeite aber nach den Gesetzen der Weißen.« Sein Vorgesetzter ist ein weißer Kanadier von der Weinfirma Vincor, die noch mit einer Minderheit an der Kellerei beteiligt ist. Neun von insgesamt 24 Führungskräften im Resort sind indianischer Abstammung.

Auf dem Rundgang stoppt Hall im kühlen Weinkeller. Hunderte Eichenfässer lagern hier übereinander. Ordentlich aufgestapelt. In Fass 7052 reift gerade der 2009er Merlot. Mit einer Pipette zieht Hall etwas Flüssigkeit aus dem Fass und füllt sie in ein Glas. Er hält seine Nase darüber und sagt: »Gutes Bouquet. Braucht aber noch..« Erst nächstes Jahr werden Hall und seine Leute den Merlot in Flaschen abfüllen. An großen, stählernen Gärfässern vorbei geht es nach oben in den Verkostungsraum. Speere mit Steinspitzen schmücken die Wand. Darunter steht die Plastik eines indianischen Tänzers im traditionellen Fellkostüm. Nebenan im Verkaufsraum haben die Indianer ein geschnitztes Kanu aus Birkenholz aufgestellt. Im Hintergrund läuft eine CD mit Trommelmusik.

Am Tresen schenkt Hall ein Glas mit 2008er Quam Qwmt Chardonnay ein. Auf den ist er besonders stolz. Quam Qwmt heißt in seiner Sprache »Streben nach Exzellenz«. Und der Wein hält, was der Name verspricht: Er schmeckt vollmundig, ein wenig nach Marzipan und Karamell. Auf der kanadischen Weinmeisterschaft hat er gerade eine Goldmedaille gewonnen und wurde zum viertbesten Chardonnay des Landes gekürt. Eine Flasche kostet 25 Dollar, umgerechnet etwa 19 Euro.

»Wir wollen mit den besten Weinen des Landes mithalten«, betont Hall. Er sagt aber auch, dass sie bei NK’MIP immer noch Erfahrung sammeln. Das merkt man den Weinen bisweilen an. Die kräftigen Rotweine wie der Merlot scheinen voller Sonne zu stecken, schmecken aber trotzdem etwas herb. Weißweine wie der Riesling oder Chardonnay haben eine süßliche Note und lassen manchmal Leichtigkeit und Frische vermissen.

Die Kunden scheint das nicht zu stören. »Im letzten Jahr haben wir alle Flaschen verkauft«, sagt Häuptling Clarence Louie, der in seinem Büro die Bücher aus der Schublade gezogen hat. Er weist darauf hin, dass der Umsatz stimmt, das Hotel gut ausgelastet ist. Zu Weihnachten hat jeder Stammesangehörige eine Dividende von 2000 Dollar erhalten. Und Louie plant schon für das nächste Jahr. »Stillstand ist Rückschritt«, sagt er. Er will das Hotel erweitern und sich an einem Skigebiet in den Bergen beteiligen. »Es wird Zeit, dass wir Indianer unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen und nicht dem Staat überlassen.« Vor seinem Büro hat er ein Schild angebracht. Darauf steht: »Wir Indianer haben immer für unseren Lebensunterhalt gearbeitet.«

Auf der Fahrt zurück ins Dorf streift der Blick noch einmal die Häuptlingsstatue oberhalb des Tales. Clarence Louie hat erzählt, dass die Figur von einem indianischen Künstler in monatelanger Arbeit aus Hunderten von Einzelteilen zusammengeschweißt worden ist. Mit so viel Mühe und Energie hat Louie auch sein eigenes Werk verwirklicht und den Aufbau der Kellerei betrieben. Der Name der Weine ist sein Anspruch. Quam Qwmt. Exzellenz.

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Anreise

Der Regionalflughafen in Penticton ist etwa eine Autostunde von Osoyoos entfernt. Dreimal täglich gibt es von dort eine Verbindung nach Vancouver. Für Besucher aus Übersee liegt der internationale Flughafen von Vancouver am günstigsten. Die Entfernung von Vancouver nach Osoyoos mit dem Mietwagen beträgt etwa 400 Kilometer.

Unterkunft

Das 4,5-Sterne-Resort Spirit Ridge (1200 Rancher Creek Road, Osoyoos, BC V0H 1V0, Tel. 001-250/4955445, www.spiritridge.ca) liegt unmittelbar neben der Kellerei. Es hat 226 Suiten mit maximal drei Schlafzimmern. DZ je nach Reisezeit und Ausstattung zwischen ca. 94 und 253 Euro. Zum Resort gehören ein Restaurant, ein Konferenzzentrum und ein Golfplatz. Daneben gibt es im Reservat ein Kulturzentrum und einen Campingplatz.

Kellerei

Die von den Indianern geführte Weinkellerei NK’MIP (400 Rancher Creek Road, Osoyoos, BC V0H 1V0, Tel. 001-250/4952985, www.nkmipcellars.com) liegt nur wenige Minuten außerhalb von Osoyoos. Sie ist täglich ab neun Uhr geöffnet, mit Ausnahme des Zeitraumes vom 24. Dezember bis 3. Januar. Die Restaurantterrasse ist im Winter geschlossen und öffnet wieder Anfang Mai. Im Winter bietet die Kellerei täglich eine Führung an, im Sommer vier.

Quelle: Zeit Online

Jörg Michel

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