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Nordamerika: Der rastlose Maler von Maine

An Neuenglands Küste, auf Prouts Neck, wirkte Winslow Homer, Amerikas Kunstgigant.

Das Erste, was den Gästen im alten Grand Hotel The Black Point Inn auf Prouts Neck in die Hand gedrückt wird, ist ein Merkblatt, auf dem sorgfältigst die Gezeiten aufgelistet sind: Wann Flut ist, wann Ebbe und wann die Sonne auf- und untergeht. Vor der Hoteltür sitzt auf weißen, ausladenden Adirondack-Stühlen eine Familie und schaut wie betäubt in den dichten Nachmittagsnebel, der alle Sicht verschluckt hat. Aus dem Nichts rauscht tosend laut das Meer.

Angeblich saß hier auf der Veranda vor gut 100 Jahren schon der Maler Winslow Homer und genoss seinen Nachmittagstee. „The Painter of Maine“, wie der 1836 in Boston geborene Gigant der amerikanischen Malerei genannt wird. „Weatherbeaten“ (Wetterhart) aus dem Jahr 1894 ist eines seiner berühmtesten Bilder. Dramatisch brechen sich aufgewühlte Wellen an der zerborstenen Granitküste von Maine. Seine Karriere hatte Homer als Illustrator für Zeitschriften wie „Balous’s Pictorial“ und „Harper’s Weekly“ begonnen.

Die kleine Halbinsel Prouts Neck, die kaum 20 Kilometer südlich von Maines Hauptstadt Portland entfernt liegt, war noch Wildnis, als Winslow Homer hier 1875 zum ersten Mal herkam. Heute ist der sogenannte Cliff Walk, wie sich die einstündige Umrundung der Halbinsel nennt, bis zur letzten angeschwemmten Krebsschere mit Naturromantik besetzt. Auf den Spuren des Malers springt man mit Salzwasser in der Nase von Fels zu Fels. Der Spätsommergast findet sozusagen in romantischer Verklärtheit zu sich selbst.

Das Eiland, das zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch zahlreiche Luxushotels zählte, ist heute eine sogenannte Summerhouse Community, eine feudale Gemeinde, in der schmale, nach ihren Erbauern benannte Privatstraßen nur für Fußgänger geöffnet sind. Es lohnt sich übrigens, tatsächlich einen Spaziergang dort zu machen und sich mal umzuschauen; denn viele dieser Häuser sind weit mehr als 100 Jahre alt, sehr gepflegt und so gut wie unverändert. Es gibt selbstverständlich einen Country Club (established in 1907, und Mitglied kann nur werden, wer auf der Halbinsel wohnt!). Ein 18-Loch-Golf Kurs darf ebenfalls nicht fehlen.

Hotelgäste glauben zu wissen, dass es sich bei Prouts Neck um die viertwohlhabendste Ecke des Landes handelt, „old Money“, „altes Geld“ wie gemunkelt wird. Wer übrigens am Kauf eines Hauses interessiert ist, sollte besser in der Lage sein, nicht nach dem Preis fragen zu müssen. Verfügbare Baugrundstücke sind gar so rar wie Regen in Death Valley.

Doch, im urigen Maine wird die Sommerfrische seit jeher eher bescheiden verstanden. Zuzeiten des „Gilded Age“, als die ersten Karawanen Erholungsuchender Richtung Meer aufbrachen, sich die Oberen Zehntausend in Newport, Rhode Island, mit überdimensionierten Palästen überboten, genossen die Menschen in Maine den Seewind lieber zurückgezogen, eher scheinbar schlicht und dicht an der Natur.

Das Etikett „wilderness“ ist geblieben. Besonders für Neuengländer ist Maine die bevorzugte Auftankwildnis. „America’s Vacationland“ – Amerikas Ferienland, wie es plakativ auf den Nummernschildern des Bundesstaats heißt. Die Winter sind – wie überall in Neuengland – zwar hart und eisig, doch die Sommer kommen immer süß und gelassen daher, riechen nach Salz, Blaubeeren und unendlich viel Zeit.

Mit seinen feinen Anzügen sah Homer wie ein City-Snob aus

Pemaquid Leuchtturm an der Küste von Maine. Foto: Mackie Tom, picture-alliance
Pemaquid Leuchtturm an der Küste von Maine. Foto: Mackie Tom, picture-alliance

© picture alliance / Bildagentur H

In diesem Jahr ist nicht nur der nordamerikanische Hummer günstig wie lange nicht mehr. Zwischen Fischen, Baden und Grillen vergisst das zerstrittene Land zeitweilig selbst die bevorstehende Präsidentschaftswahl. Wenn man sich vom Landesinneren auf der mäandernden Black Point Road entlang malerischer Sumpfwiesen Prouts Neck nähert, wird aus den Vorgärten der typisch neuenglischen Shingle-Style-Häuser den Gästen bullerbümäßig zugewinkt. Es hat den Anschein, als würden sich die Menschen hier irgendwie alle kennen.

Zur Idylle gehören seit Maines Entdeckung als Sommerfrische auch die vielen kunstbewegten Kolonien. Selbst Amerikas große Einzelgänger hat es immer wieder hergezogen und inspiriert – der „Volksmaler“ Andrew Newell Wyeth, der ein Stück die Küste hinauf in Rockland seine Sommer verbrachte, der 1927 in Brooklyn geborene Maler Alex Katz, der vor allem durch seine Porträts bekannt geworden ist. Und natürlich Edward Hopper, der diese berauschend meerige wie minimalistisch karge Puritanerheimat in die Moderne brachte.

Winslow Homer, dessen Reproduktionen in Amerika ungefähr so allgegenwärtig sind wie bei uns Dürers Hase oder Caspar David Friedrichs „Kreidefelsen auf Rügen“, ist in Europa im Grunde weniger bekannt. In seinem wundersamen Studio auf Prouts Neck, das seit 1966 National Historic Landmark ist, hat er insgesamt 27 Jahre verbracht und neben Alltagsszenen von den Menschen an der Küste in einem geradezu atemberaubenden Schaffensdrang unzählige Meer- und Naturbilder geschaffen. Im Kanon amerikanischer Naturmalerei lösten sie den Mythos von Prärie und Grand Canyon ab.

Homer, der nie einer Malerschule angehörte, war schon zu Lebzeiten eine nationale Berühmtheit. In New York hatte er sich früh als Illustrator einen Namen gemacht, war dann nach Paris gegangen, für „Harper’s Weekly“ an die Front des Amerikanischen Bürgerkriegs und schließlich für immer nach Prouts Neck.

Nicht anders als Henry David Thoreau war dieser „Yankee Robinson Crusoe“, wie er hieß, Prediger des einfachen Lebens. Das Wild-West-Abenteuer war damals gerade zu Ende gegangen. In Homers Meerdramen fand das Land einen neuen identitätsstiftenden Naturexistenzialismus. Er selbst entsprach dabei allerdings so gar nicht dem Ideal eines typischen Outdoor-Pioniers. Mit seinen feinen Anzügen sah Homer eher wie ein City-Snob aus. Geheiratet hat er nie. Bis heute liegt etwas Unnahbares über diesem Nationalmaler. Selbst Bonmots und Anekdoten bringen ihn nicht wirklich näher.

Dass Homer, um ungestört arbeiten zu können, ein Schild mit „Vorsicht, Schlangen und Mäuse“ vor seinem Studio aufgestellt hat, erscheint genauso banal und nichtssagend wie Erinnerungen, er habe schon mal zur Waffe gegriffen, um Fremde zu verscheuchen. Die von Kunsthistorikern immer mal wieder spekulativ vorgebrachte Annahme, der „Einsiedler von Prouts Neck“ sei schwul gewesen, wird anscheinend selbst 100 Jahre nach seinem Tod auf Prouts Neck im Jahr 1910 als Tabu verstanden. Homer selbst kommentierte alle Neugier sehr schlicht: „Der interessanteste Teil meines Lebens ist für die Öffentlichkeit nicht von Interesse.“

Auf Massentourismus wird keinen Wert gelegt

Während Homer die Ostküsten-Wildnis auf Leinwand bannte und zur nationalen Ikone erhöhte, beteiligte er sich selbst ohne Bedenken auch wie ein echter Yankee an Urbarmachung und Naturzerstörung. Seine geschäftstüchtige Familie kaufte damals einen Großteil der Halbinsel auf und parzellierte das Land, um es gewinnbringend an die zu verkaufen, die sich neue Sommerhäuser bauen wollten beziehungsweise es sich leisten konnten.

Homer selbst wohnte in einem großzügigen Shingle-Style-House, dessen Scheune er später einige Meter versetzen ließ, um sich dort mit direktem Blick aufs Meer sein Studio einzurichten. Umgebaut hat diesen seltsam fantastischen Bau der Architekt John Calvin Stevens (1855– 1940), bekannt als „Vater des Shingle Styles“. Von ihm geplante Häuser sind heute noch vielfach an der Küste Maines zu finden, insbesondere in der Umgebung von Portland. Die Stadt hat sogar den 8. Oktober, seinen Geburtstag, zum „John Calvin Stevens Tag“ ausgerufen.

Wie ein mittelalterlicher Wehrturm sieht das Atelier Homers mit seinem kantig umlaufenden Balkon aus. Oben auf dem Dach befand sich sein „spirituelles Nest“, wo der Künstler das Meer in seinen Launen beobachtete, gewissermaßen Wache hielt. Zwischenzeitlich brach er auch schon mal zu den Bahamas oder nach Florida auf, wo er statt Atlantikgewalten dann ferne Exotik malte, wie „The Gulf Stream“, mit allerdings etwas rührend-naiv lächelnden Haifischen.

Lobster satt in ganz Neuengland. Dieses Jahr soll er besonders günstig sein. Foto: p-a
Lobster satt in ganz Neuengland. Dieses Jahr soll er besonders günstig sein. Foto: p-a

© picture alliance / Ellen Rooney/

Homers Familie, die auf Prouts Neck noch immer ein Sommerrefugium besitzt, verkaufte das Studio 2006 an das Portland Museum of Art. Nach einer Grundsanierung wird dieser mythisch besetzte Ort erst jetzt im Spätsommer für das Publikum geöffnet. Das Museum selbst wurde übrigens bereits 1882 gegründet und befindet sich im Künstlerviertel von Downtown Portland. Als eine Art Verein finanziert es sich ausschließlich aus Spenden und Beiträgen der etwa 8000 Mitglieder. Der Bestand des Hauses erschöpft sich keineswegs in den Werken amerikanischer Künstler. Leihgaben und Geschenke von Wohltätern haben dazu beigetragen, dass heute Architektur und Kunst aus drei Jahrhunderten präsentiert wird, darunter auch Werke von Picasso und Monet.

In Homers Studio, nunmehr „Zweigstelle“ des Museums, riecht es nach frischem Zedernholz. Angelruten und Netze hängen an den Wänden neben einem großen Kamin. Auf Massentourismus wird hier keinen Wert gelegt. Homers Abneigung gegen Öffentlichkeit führt nun Prouts Necks neue Gemeinde fort. Nur zehn Besucher pro Tour sind erlaubt, und eröffnet wird nicht etwa bereits in der Hochsaison, sondern erst jetzt, Ende September, wenn die meisten Sommerfrischler längst abgereist sind, wenn es an der Küste von Maine langsam wieder kalt und einsam wird. So wie es Homer geliebt hat.

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