zum Hauptinhalt
Immer im Takt: Eine Gruppe von Freundinnen feiert Geburtstag in den Wasserspielen am Granary Square. Im Hintergrund der renovierte Getreidespeicher.

© John Sturrock

London: Ein Spielplatz fürs Volk

In London entsteht Europas aufregendstes Bahnhofsviertel. Die Baustelle ist riesig – und voller Leben.

Das Wasser hüpft, die Fontänen tänzeln, kreischend rennen die kleinen Mädchen über den Platz. Der Kitzel scheint auch nach dem 50. Mal nicht zu versiegen: Nie zu wissen, wann und wo es gleich hochsprudelt. Einige Kinder springen in voller Montur durch die Wasserspiele, ein paar tragen Badehose und Bikini. Ihre Mütter sind präpariert, haben Handtücher und Bademäntel mitgebracht. Für ein solches Gratisvergnügen kommen sie selbst aus entfernten Stadtteilen angereist.

Die Angestellten, die im Anzug an gelben Gartentischchen sitzen, haben es nicht so weit. In der Büropause holen sie sich von den Foodtrucks Burger und Frozen Joghurt, genießen ein paar Sonnenstrahlen, bevor sie sich wieder hinter die Computer klemmen.

Man trifft vor allem Londoner auf dem Granary Square, kaum Touristen. Wie auch, die meisten wissen gar nicht, dass es diesen Ort gibt, das Herzstück des derzeit wohl aufregendsten Bahnhofsviertels Europas, die lebendigste Langzeit-Baustelle, die man sich denken kann: eine Mischung aus Arm und Reich, Wohnen und Arbeiten, Kultur und Kommerz, altem Backstein, neuem Glas und viel Grün, aus Lernen, Essen, Trinken – und neuerdings sogar Schwimmen. Der Naturpool auf einem kleinen Hügel, mit Blick auf Baukräne, ist eins der Kunstprojekte, mit der die auf 20 Jahrzehnte angelegte Baustelle fast von Anfang an bespielt wurde, um das neue Viertel zum Anziehungspunkt zu machen.

Schwimmen auf der Baustelle: der neue Naturpool einer Künstlerin
Schwimmen auf der Baustelle: der neue Naturpool einer Künstlerin

© John Sturrock

Schon vor Jahrhunderten strömten Londoner hierher

Argent, die Firma, die das 271 000 Quadratmeter große Areal in Partnerschaft mit der Bahn und DHL und unter Aufsicht des Bezirksamts, Camden Council, maßgeblich entwickelt, geht einen anderen Weg als die meisten Investoren: Die öffentlichen Räume stehen nicht am Ende, sondern am Anfang eines Projekts. Und in einer Stadt, in der die Immobilienpreise in so irrwitzige Höhen jagen, dass sie wohl bald in Quadratzentimetern berechnet werden, sind öffentliche Räume so kostbar wie die Luft zum Atmen.

Inmitten des Londoner Kommerzes ist es eine Wohltat, sich einfach hinsetzen zu können, auf schön gestaltete moderne Bänke oder Liegestühle, unter Bäumen, ohne etwas konsumieren zu müssen, sein eigenes Picknick mitbringen zu dürfen.

Schon vor Jahrhunderten strömten Londoner hierher, um sich zu erholen, damals noch im Grünen, auf Feldern außerhalb der großen Stadt. Mit der Industriealisierung entstand 1820 der Regent’s Canal als Frachtweg, Mitte des Jahrhunderts folgten die beiden Bahnhöfe King’s Cross und St. Pancras. Nördlich des Kanals wurde die ganze Logistik aufgebaut, Lagerhallen für Kohle und Kartoffeln, Lokschuppen … Die Industrienation boomte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, ging’s bergab: mit dem Empire, der Industrie und der britischen Bahn. Die Gebäude verfielen, die Gegend wurde berüchtigt für Drogen und Kriminalität, in den 90ern gab’s ein paar Clubs. Für viele Londoner war das Gebiet Terra incognita, zum Teil der Zugang sogar verboten.

Auch die Bahnhöfe vergammelten. St. Pancras, das neogotische Märchenschloss mit seinen unzähligen Bögen und Zinnen und Erkern, wie die meisten alten Bauten hier aus Backstein, sollte sogar abgerissen werden. Seine Rettung verdankte es vor allem einem großen Fan, dem Dichter John Betjeman, der erfolgreich eine Kampagne anführte.

Bahnhofshotel: das renovierte St. Pancras Renaissance
Bahnhofshotel: das renovierte St. Pancras Renaissance

© mauritius-images/Alamy

Den Anfang machte King’s Place

Und dann, mit dem 21. Jahrhundert, kam die Wende. Argent ließ von Architekten und Landschaftsarchitekten einen Masterplan für das neue Viertel King’s Cross entwickeln, der Bezirk, Camden Council, gab 2006 sein Okay, ein Jahr später wurde mit dem Bauen begonnen.

Gleichzeitig wurde St. Pancras renoviert, zur schicken Endhaltestelle des Eurostars. Und John Betjeman bekam ein lustiges Denkmal: ein Mann mit dickem Bauch, wehendem Mantel und Aktentasche, neben dem Besucher sich gern fotografieren lassen. Das dazugehörige Grand Hotel, das seit den 80er Jahren leerstand, wurde ebenfalls prächtig restauriert. King’s Cross, das etwas schäbigere Gegenüber, war später dran, wurde 2012 zu den Olympischen Spielen aufgehübscht.

Das Viertel am Rande von Bloomsbury hatte schon vorher kulturell einiges zu bieten. Gleich neben St. Pancras liegt die British Library, etwas weiter die Euston Road runter (die ihren Namen dem dritten Bahnhof, Euston Station verdankt) folgt die spannende Wellcome Collection. Selbst zum British Museum kann man laufen. Aber jetzt ging es weiter.

Den Anfang machte King’s Place, ein cleveres Modell für die Verbindung von Kultur und Business. Die Redaktionen von „Guardian“ und „Observer“ zogen in den Neubau ein, zwei Orchester fanden ein Zuhause. Die beiden Konzertsäle im Untergeschoss werden von ihnen und anderen Musikern sowie für Lesungen genutzt, tagsüber werden die Räume für Tagungen und Geschäftstreffen vermietet. Dass Paare gern im King’s Place heiraten, versteht man sofort, wenn man auf der Rückseite durch die Restaurantbar nach draußen tritt: Dort glitzern die Lichter und das Wasser des kleinen Hafens romantisch um die Wette.

Das Essen im Grain Store ist sensationell

Nach einer Veranstaltung muss man nur den Menschen folgen, die alle in eine Richtung strömen. Die einen, um mit der U-Bahn nach Hause zu fahren, die anderen um sich weiter zu amüsieren. Die Fontänen am Granary Square tanzen, nun leuchtend blau, weiter im rhythmischen Takt. Wassermusik.

Wer Glück hat, findet auf der Terrasse des Grain Store einen Platz. Wenn nicht, ist es auch nicht schlimm, das Interieur kann mithalten, nackte Backsteinwände, offene Küche, gläserne Lampen, weiße Stühle. Das Essen: sensationell, die Preise: zivil. Es gibt außergewöhnliche Gerichte wie indisches Kartoffelpüree mit Lammconfit, selbst Klassiker kommen ungewöhnlich daher: Zu den knusprigen Pommes wird knallgrüne Kräutermayonnaise serviert.

Das preisgekrönte, grüne Restaurant liegt im riesigen alten Getreidespeicher, dessen Hauptbewohner Central Saint Martins ist. Die renommierte Kunst- und Designhochschule, zu deren Absolventen Stella McCartney und Lucian Freud gehören, 2011 als Erste an dem neuen zentralen Platz anzusiedeln, war ein geradezu genialer Schachzug.

Ein solcher Mieter, so die Überlegung der Entwickler, würde sich nicht so an der Dauerbaustelle stören, den Ort gleichzeitig aufs Schönste beleben, mit Ausstellungen, Modeschauen, Theateraufführungen und schillernden, äußerst attraktiven jungen Akteuren. Die Hochschule wiederum, verstreut auf diverse Gebäude im West End, war froh, endlich alle Fakultäten unter einem Dach zu haben.

Je attraktiver die Gegend, desto höher die Mieten

Chillen auf der Freitreppe. In die Backsteinhäuser zieht Jamie Oliver.
Chillen auf der Freitreppe. In die Backsteinhäuser zieht Jamie Oliver.

© John Sturrock

Das Foyer des innen modern gestalteten Baus ist für jedermann zugänglich. An den Tischtennisplatten jagen die Spieler einander, Bälle kann man sich im King’s Cross Visitors Centre ausleihen. Dort gibt es auch Ausstellungen über das Viertel zu sehen, von dort starten Führungen, deren Teilnehmer sich begeistert im Gästebuch verewigen. „Spektakulär“ findet eine Yvette, die seit 40 Jahren in der Gegend wohnt, die Transformation.

Eine neue Brücke über den Kanal verbindet den Norden, in dem etliche Wohnbauten entstehen, mit dem Büroviertel im Süden, durch das ein Boulevard zu den Bahnhöfen führt. Auf der einen Seite ist noch eine riesige Brache, dort will Google seine Europazentrale errichten.

Argent ist ein kommerzielles Unternehmen, es macht das, was es macht, nicht aus purem Altruismus. Dahinter steht ein ehrenwertes Programm, nämlich Orte für Menschen zu schaffen, und zwar nachhaltig, aber auch geschäftliches Kalkül: Je attraktiver die Gegend, je mehr Leute kommen, desto höhere Mieten können sie von Geschäften und Lokalen verlangen, desto teurer die Wohnungen verkaufen. Eine Win-Win-Situation. Zudem gab es klare Vorgaben vom Bezirk, vor allem nicht nur Luxusappartments hochzuziehen, sondern auch bezahlbaren Wohnraum, darunter ein Studentenwohnheim. Oder Community Gardens anzulegen.

Zum Heulen: Die Gegend um den Hauptbahnhof

Auf den breiten Stufen der Freitreppe am Kanal sitzend, mit Blick auf die Hausboote und den kleinen, zauberhaften Naturpark am anderen Ufer, neben sich die alten Backsteinhäuschen, die Starkoch Jamie Oliver sich gesichert hat, könnte man heulen, wenn man an die Umgebung des Berliner Hauptbahnhofs denkt. An die Chance die dort verspielt wurde: kein Plan, kein Konzept, nur ein großes Desaster. Da wird ein Hotel neben das andere gesetzt, viele billig, lauter Solitäre. Eine Touristendurchgangsstation, kein städtischer Raum. Die Dauerbaustelle im Norden ist die Pest, die Lage an Tram- und Bushaltestelle eine Zumutung, die gastronomische Versorgung katastrophal.

Am liebsten würde man einen Billigflieger chartern und Berliner Politiker und Städteplaner reinsetzen, zusammen mit Immobilienentwicklern, Investoren und Kulturmanagern, aber auch jenen Aus-Prinzip-Nein-Sagern, die gegen jede Form der Bebauung protestieren. Hier würden sie viele Beispiele finden, wie man’s richtig macht, große ebenso wie kleine.

So ist der Abschnitt des Treidelpfades am Kanal zur Zeit wegen Bauarbeiten gesperrt. Aber statt Fußgänger, Radler und Jogger einfach abzuweisen, wurde ein provisorischer Ponton aufs Wasser gesetzt, um die Lücke zu überbrücken.

Ein echter Chipperfield: Im Parterre des Bürobaus liegt eine Vinothek.
Ein echter Chipperfield: Im Parterre des Bürobaus liegt eine Vinothek.

© John Sturrock

Es gibt immer wieder Neues zu gucken

Beispiel Vernetzung: Wenn der Edel-Supermarkt Waitrose im Herbst in den alten Kartoffelmarkt mit einer Kochschule einzieht, werden dort auch Workshops für die Schüler der öffentlichen Grundschule stattfinden, die ins Erdgeschoss eines luxuriösen Wohnhauses zieht und sich den Pausenhof mit einer Taubstummenschule teilt. Das nennt man Inklusion. Überhaupt, das Erdgeschoss, bei Berliner Neubauten oft sträflich vernachlässigt, wird hier grundsätzlich mit Cafés, Lokalen, Ausstellungen und Läden belebt.

Natürlich: es ist und bleibt privat entwickeltes Land. Deswegen ist es so sauber hier wie in einer Mall, Straßenkehrer, erkennbar an ihren knallroten Mützen, pflücken jeden Schnipsel sofort vom Boden. Das kann einem auch Angst machen. Aber Camden Council hat die Entwicklung fest im Blick: Das Bezirksamt ist selber hergezogen, an den Pancras Square. Und selbst dieses Amt ist eine Sehenswürdigkeit, mit seiner offenen Bibliothek, dem Café, Fitnessclub und Schwimmbad fürs Volk.

Dass nicht alles gleichzeitig, sondern peu à peu fertig wird, hat den Vorteil, dass es immer wieder Neues zu gucken gibt. Im vergangenen Jahr wurde das Museum für Illustration eröffnet, in diesem Sommer folgt ein Gasthaus am Kanal, im Herbst der Supermarkt und Veranstaltungsräume für den „Guardian“. Ein Ort im ständigen Werden. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, zu kommen. Noch sind die Luxusläden nicht eröffnet, wirkt King’s Cross wie eine fast konsumfreie Zone.

Tipps: Im Bahnhof schlafen und im Zeitungshaus Konzerte hören

ANREISE

Besonders stilecht mit dem Zug: Von Berlin bis Brüssel, dann mit dem Eurostar nach St. Pancras. Ab 109 Euro, www.deutschebahn.com/de/start.html

UNTERKUNFT

St. Pancras Renaissance: das prachtvolle viktorianische Bahnhofshotel an der Euston Road gehört zum Marriott, Doppelzimmer ab 293 Euro, Telefon:0044/ 20/ 784 135 40, Internet: marriott.de/hotels/travel/lonpr-st-pancras-renaissance-london-hotel

Great Northern Hotel am Bahnhof King’s Cross, ein kleines, feines Boutique-Hotel, Doppelzimmer ab 218 Euro, Pancras Road, Telefon 0044/20/ 338 808 00, Internet: gnhlondon.com

YHA London St. Pancras: Deutlich günstiger ist die Jugendherberge: ein Bett ab 32 Euro. 79-81 Euston Rd, Telefonnummer: 0044/20/8453719344, Internet: yha.org.uk/hostel/london-st-pancras

RESTAURANTS

Grain Store: Das Restaurant, dessen Einrichtung so originell ist wie die Speisekarte (mit vegetarischem Schwerpunkt), liegt direkt am Grainary Square, mit eigener Bar und Terrasse. Highly recommended. Internet: grainstore.com

Dishoom: Für alle, die indisches Essen nur aus Billiglokalen kennen. Köstliche Speisen, von morgens an. 5 Stable Street, Telefon: 0044/20/7420 9321, Internet: dishoom.com.Im Bahnhof St. Pancras gibt es eine Reihe guter Lokale, die meisten allerdings Ketten, sowie Europas längste Champagnerbar.

DAS VIERTEL

Informationen über Veranstaltungen und Führungen durch das Viertel bekommt man im King’s Cross Visitor Centre, 11 Stable Street, Telefonnummer: 0044/20/347 917 95. Auskunft über das gesamte Areal: kingscross.co.uk/discover-kings-cross

KULTUR

Im House of Illustration wird am 10. Juli eine neue Ausstellung eröffnet, über Illustrationen der populären Ladybird-Bücher. 2 Granary Square, Telefonnummer: 00 44/20/36 96 20 20, Internet: houseofillustration.org.uk

Im Kings Place finden Konzerte, Lesungen und Ausstellungen statt. 90 York Way, Telefon 0044/20/752 014 90, Internet: kingsplace.co.uk

NATUR

Wem der Trubel zu viel wird, sollte unbedingt im idyllischen Camley Street Natural Park eintauchen und Insekten fischen. 12 Camley Street, www.kingscross.co.uk/camley-street-natural-park

ANSCHAUEN

Der Bahnhof St. Pancras ist ein Muss, dort bekommt man auch feine Souvenirs. Im King’s Cross können sich Harry Potter-Fans am Gleis 9 3/4 mit historischem Gepäckwagen fotografieren lassen. Auch die uralte St. Pancras Old Church ist einen Besuch wert.

AUSKUNFT

Visit Britain im Internet: visitbritain.com/de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false