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Unverbaute Strände werden auch in Albanien selten. Doch es gibt sie noch. Etwa am Ionischen Meer wie hier, der Gjipe Beach zwischen Dhërmi und Himara.

© Marcin Szala

Albanien: Das letzte Geheimnis

Reisen in Europa bergen kaum noch Überraschungen. In Albanien ist das allerdings ganz anders.

Seit knapp zwei Stunden kurvt der Minibus älteren Baujahrs durch die gewundenen, von Pinienwäldern gesäumten Gebirgsstraßen Südalbaniens. Der Bus ist voll besetzt, die Luft stickig. Eine Klimaanlage gibt es nicht – also lässt der Fahrer einfach die Tür offen stehen. Improvisation gehört hier zum alltäglichen Geschäft.

Bis in die 1990er war Albanien jahrzehntelang von der Außenwelt abgeschnitten. Die Diktatur des paranoiden Steinzeitkommunisten Enver Hoxha, der tausende Menschen zum Opfer fielen, führte das Land in die totale Isolation. Hoxha brach nach und nach mit allen sozialistischen Verbündeten und ließ – für den Fall eines Angriffs – mehr als 700 000 Betonbunker bauen. Überall ragen sie wie mahnende Warzen einer längst vergessenen Krankheit aus dem Boden.

Doch mit den Folgen der Diktatur haben die Menschen bis heute zu kämpfen: Zwar verzeichnet das Land ein stetiges Wirtschaftswachstum, dennoch leidet Albanien weiterhin unter Korruption, Armut sowie einer schlechten Infrastruktur.

All das schadet dem für die wirtschaftliche Entwicklung wichtigen Tourismus, auf den sich Albanien trotz steigender Besucherzahlen immer noch nicht so recht eingestellt hat. Zwar werden auch hier manche Küstenabschnitte von Bausünden zugepflastert, sie sind ebenso wie vermüllte Strände Zeugen einer bisher nicht vorhandenen politischen Gesamtstrategie für den Tourismus. Stattdessen führt das durch Geldwäsche und Korruption bedingte Klein-Klein oft zu illegalen oder halbfertigen Betonburgen.

Shqipëria ist alles andere als finster

Außerhalb der touristischen Zentren wiederum fehlt die Infrastruktur. Abseits der Hotelanlagen ist man in Albanien bisher weitgehend auf sich alleine gestellt. Das mag viele Besucher abschrecken – genauso wie die Vorurteile, mit denen das kleine Land im Westbalkan zu kämpfen hat: Bei Albanien denken die meisten zuerst an Kriminalität, Drogenhandel oder Blutrache. Und an finstere Gestalten, wie sie schon Karl May in seinem Buch „Durch das Land der Skipetaren“ beschreibt.

Busfahrt auf albanisch. Keine Klimaanlage? Dann Tür auf.
Busfahrt auf albanisch. Keine Klimaanlage? Dann Tür auf.

© Timo Reuter

Was der fantasievolle Autor mit den meisten Westeuropäern gemein hat: Er überzeugte sich selbst nie vom Gegenteil. Denn Shqipëria, wie die Albaner ihr Land nennen, ist alles andere als finster. Neben der beeindruckenden, oft unberührten Landschaft begeistert vor allem die Gastfreundschaft, mit der Fremde empfangen werden. Und das Unfertige, Schlichte, die in Europa rar gewordene Chance, kein Tourist zu sein, sondern ein Reisender. Ein geduldiger, neugieriger Entdecker eines unbekannten Landes.

Die Fahrt von Vlorë nach Sarandë entlang der Südküste dauert mit dem Minibus bis zu vier Stunden – für 130 Kilometer. Viel Zeit also, um zu entschleunigen. Auf Albanisch heißt das „rehat“ und ist eine Art Lebensgefühl. Alles geht hier etwas langsamer – und entspannter – voran. Der Busfahrer, der geduldig eine Kurve nach der anderen nimmt, unterbricht die Fahrt für einen älteren Mann, weil dieser sich bei einem Imker am Wegesrand ein Glas frischen Honig kaufen will.

Im Süden gibt es die fast unberührte Mittelmeerküste

Kurz darauf erreicht der Bus den Llogara-Pass, wo der Fahrer die Tür schließt. Nun beginnt die Abfahrt: über 1000 Höhenmeter bis zum Meer. Der Blick schweift erhaben über leicht begrünte Hügel bis zur griechischen Insel Korfu. Hier, an der Wasserscheide zwischen der Adria und dem Ionischen Meer, beginnt die Albanische Riviera.

Sie ist inzwischen ein beliebtes Reiseziel für inländische wie ausländische Besucher – vor allem Menschen aus dem Balkan sowie aus Italien und Griechenland verbringen hier ihren Badeurlaub. Dennoch konnte sich Tourismus in größerem Stil nur an wenigen Orten wie Himarë und Sarandë durchsetzen. Im Süden Albaniens gibt es sie noch, die fast unberührte Mittelmeerküste. Doch das könnte sich auch hier bald ändern: Hinweisschilder auf klobige Hotelprojekte verkünden ebenso wie halbfertige Bauruinen den holprigen, aber stetigen Umbruch. Dieser wird dem Beispiel der spanischen Beton-Politik folgen, sollten die Kinderkrankheiten des albanischen Tourismus nicht doch noch geheilt werden.

Mit dem Minibus geht es weiter zur zweiten Ortschaft nach dem Llogara- Pass, dem hoch über dem Meer gelegenen Dhërmi. Während im alten Ortskern orthodoxe Kirchen von der griechischen Bevölkerung zeugen, hat sich weiter unten am Strand ein Touristendorf entwickelt – und es wird weiter gebaut. Kurz nach Verlassen des Busses bietet ein Privatmann sein Auto als Taxi an. Auch wenn in Albanien vieles nicht reibungslos funktioniert, es wird immer eine Lösung gefunden. Es sind die Spontaneität und die Herzlichkeit der Menschen, die so manche Reisestrapaze schnell vergessen machen.

Albaner lieben das Auto mit dem Stern

Die Altstadt von Gjirokastër zählt seit 2005 zum Unesco-Weltkulturerbe.
Die Altstadt von Gjirokastër zählt seit 2005 zum Unesco-Weltkulturerbe.

© Timo Reuter

Umgerechnet vier Euro soll die Fahrt nach Drymades kosten, einem Küstenabschnitt wenige Kilometer weiter nördlich. Da die Straße dorthin gerade erneuert und geteert wird, muss das „Taxi“ einen Umweg über eine holprige Piste aus Stein und Sand nehmen. Der Fahrer, der eigentlich Kioskbesitzer ist, nimmt es gelassen: „Rehat.“ Der Mann Anfang 50 fährt wie so viele seiner Landsleute einen Mercedes. „Good quality“, erklärt er, während er stolz auf sein Auto zeigt, das über Steine und durch Schlaglöcher schrammt.

Albaner lieben das Auto mit dem Stern, vermutlich ist Albanien das Land mit der relativ höchsten Benz- Dichte der Welt. Vor allem ältere, unverwüstliche Modelle aus vorelektronischer Zeit, die es mit den schlechten Straßen aufnehmen können, sind hier unterwegs.

Am Strand von Drymades warten neben den zwei Luxus-Hotels etliche kleine, sympathische Campingplätze, wo auch preiswerte Bungalows vermietet werden – direkt am türkisblauen Meer. Je weiter man am Strand in Richtung Norden läuft, desto einsamer wird es.

Zum Abendessen gibt es frisch gefangenen Fisch – und eine Unterhaltung mit dem Koch. Sofern sich die sprachliche Barriere überwinden lässt – besonders auf dem Land wird nur selten Englisch oder Deutsch gesprochen –, kommt man mit den kontaktfreudigen Einheimischen schnell ins Gespräch.

Dazu gehört der Raki, ein meist aus Trauben hergestellter traditioneller Schnaps. Den ersten Schluck nutzt der stämmige Glatzkopf, um klarzustellen, dass es die Albaner, von denen ein kleiner Teil Christen und ein großer Teil Moslems sind, mit der Religion nicht so genau nehmen. „Wir trinken Alkohol und essen mehr Schweinefleisch als ihr“, meint er in nahezu perfektem Deutsch mit Schweizer Akzent. „Die Religion der Albaner ist das Albanertum“, sagt der Koch in Anspielung auf den Schriftsteller und Vordenker des albanischen Nationalgedankens, Pashko Vasa.

Typisch albanisch: rehat

All dies, das ausgeprägte Nationalgefühl, die Pluralität der Religionen sowie deren geringe Bedeutung, ist Ausdruck der von Fremdbestimmung geprägten albanischen Geschichte: Nach römischer, bulgarischer und serbischer Herrschaft stand das Land 500 Jahre weitgehend unter osmanischer Kontrolle, deren kulturelle Einflüsse deutlich zu spüren sind. Schließlich folgte die Diktatur Enver Hoxhas, der jegliche Religionsausübung verbieten ließ.

„Rehat“ heißt also nicht nur Entspannung und Entschleunigung, sondern ist auch Ausdruck innerer Emigration, die den Albanern trotz Fremdherrschaft und Diktatur etwas Eigenständiges, Selbstverständliches bewahrt hat. Das mag in manchen abgeschiedenen Orten im Norden des Landes das archaische Gesetz der Blutrache erklären. In den meisten Gegenden ist das typisch Albanische aber vielmehr eine ganz eigene Originalität, ein stolzes Lebensgefühl zwischen Orient und Okzident, eine sympathische Mischung aus Offenheit und Entspanntheit.

Die Reise führt schließlich über das touristische Sarandë ins Landesinnere nach Gjirokastër, dem Geburtsort des Diktators Hoxha und des populären albanischen Schriftstellers Ismail Kadare. Wegen der einzigartigen balkanisch-osmanischen Architektur mit den steingedeckten Häusern zählt die an einem Steilhang gelegene Altstadt seit 2005 zum Unesco-Weltkulturerbe. Hier kann man bei türkischem Kaffee oder einem Raki den Trubel hinter sich lassen und das tun, wofür sich Albanien besonders gut eignet: rehat.

Arm und Reich liegen nah beieinander

Alte und Junge, vor allem Männer, sitzen in den engen Gassen rauchend in Cafés. Ganz ohne Smartphone, es wird geschwiegen – oder diskutiert. Zum Beispiel über das nur wenige Kilometer entfernt gelegene Lazarati, die Marihuana-Hauptstadt Albaniens, vielleicht ganz Europas. Bis vor Kurzem wurde dort in einer Art rechtsfreien Zone Cannabis mit einem geschätzten Marktwert von jährlich 4,5 Milliarden Euro angebaut – was fast der Hälfte des albanischen Bruttoinlandsprodukts entspricht.

Ende Juni vergangenen Jahres rückte die Polizei mit einem Großaufgebot in das Dorf und gegen die Mafia vor und konnte Lazarat trotz bewaffneten Widerstands – Granatwerfer und Maschinengewehre inklusive – einnehmen. Viele Einheimische glauben, dass dies auf Druck der EU geschah, denn nur wenige Tage nach der Polizeiaktion bekam Albanien den EU-Kandidatenstatus verliehen. Das sehen viele mit gemischten Gefühlen – denn fremdbestimmt will hier niemand mehr sein. Der Tourismus ist davon eigentlich nicht betroffen. Eigentlich, denn es sind wieder die finsteren Geschichten, die über Albanien erzählt werden.

Von Gjirokastër aus kann man für albanische Verhältnisse problemlos mit einem Bus direkt bis in das kulturelle und politische Zentrum des Landes reisen: die Hauptstadt Tirana (Tiranë). An diesem geschäftigen Ort des Wandels zeigen sich besonders gut die Gegensätze des Balkanlandes. Arm und Reich liegen hier nah beieinander, um die schicke Innenstadt herum formieren sich bunt bemalte sozialistische Plattenbauten neben zahlreichen in den Himmel ragenden Minaretten, in den Außenbezirken findet sich manche Wellblechhütte. Während junge Menschen im ehemaligen Viertel der kommunistischen Elite, dem angesagten Blloku, feiern gehen, sieht man ältere Männer, die Eselskarren ziehen.

Die „New York Times“ hat Albanien im vergangenen Jahr auf Platz 4 der „Places to go“ gewählt. Die Tage der einsam Reisenden im Land der Skipetaren sind also womöglich gezählt.

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