zum Hauptinhalt
Hinterm Strand kommt’s knüppeldick. Im Darßwald wachsen vom Wind zerzauste Eichen, Buchen und Kiefern.

© Berthold Steinhilber/laif

Auf dem Darß: Auch Hirsche wollen an den Strand

Zu DDR-Zeiten war der Darß ein beliebtes, aber gut abgeriegeltes Jagdgebiet. Nun stehen Flora und Fauna unter Schutz.

Halali! Der Hirsch darf leben. Geschützt hinter den Dünen zeigt sich der kapitale Zwölfender, begleitet von seinem Harem, neben der Einfahrt zum kleinen Nothafen von Prerow. „So etwas sieht man nur auf dem Darß“, flüstert Lutz Storm. Nicht weit entfernt vom grasenden Rotwild ankert ein Seenotkreuzer der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft bieten derartige Kontraste heute ganz besondere Naturerlebnisse. Das war nicht immer so. Vor 1989 waren Teile der Region für das Volk tabu. Das Diplomatenjagdgebiet der DDR wurde streng abgeriegelt. Doch im Zuge der Wende verwandelte sich das Haus der ehemaligen Staatsjagd in Born in den Sitz des heutigen Nationalparkamts.

Der einstige Leuchtturmwärter Alfred Kayserling erinnert sich allerdings noch gut an den damaligen Jagdalltag. An seinem früheren Arbeitsplatz, dem 160 Jahre alten Leuchtturm Darßer Ort, erzählt er: „Damals wurde vor der Jagd viel gebechert.“ Einige der Genossen seien dann „ ziemlich dun“ gewesen und hätten oft danebengeschossen. Also beugte man vor. „Da musste schon mal vorher ein Tier erlegt und irgendwo hingelegt werden“, sagt Kayserling. Derartige Frevel sind längst Geschichte. Schützen statt schießen, heißt es heute. Die Vorpommersche Boddenlandschaft ist mit 80 500 Hektar der größte deutsche Ostseenationalpark.

Der Weg zum Leuchtturm am Darßer Ort führt über neue Bohlenstege durch eine weiße Dünenlandschaft. Infotafeln erklären die Unterschiede zwischen Weiß-, Grau- und Braundüne. „Alle hundert Jahre kommt ein neuer Dünenzug auf“, erklärt Storm, der beim Nationalparkamt für Umweltbildung zuständig ist. „Wenn Sie dort zu dem Erlenbruch schauen, 18. Jahrhundert. Drüben am Leuchtturm sehen Sie das 19. Jahrhundert, und hier stehen Sie auf dem 20. Jahrhundert.“

Der Natur-Entertainer, wie er sich selbst nennt, ist in seinem Element. Storm versteht es, Geschichte und Geologie anschaulich in Beziehung zu setzen. Er liest in der Landschaft wie in einem Bilderbuch. „Hier ist Dynamik drin, das bewegt sich.“ Storm meint die Küstenlandschaft, die sich auf dem Darß auch heute noch ständig verändert. „In der Schule haben wir gelernt, dass wir die Erde im Griff haben. Aber das haben wir nicht, und wir werden sie auch nie in den Griff kriegen.“

Das Land wird an der Westküste abgetragen und im Norden wieder angespült. Von einer kleinen Aussichtsplattform blicken wir in Richtung Wellen. „Wir stehen hier auf Land, das vor 120 Jahren noch nicht da war. Und da draußen entsteht gerade das 21. Jahrhundert.“ Auf dem Neuland vor der Wasserlinie grasen schon erste Hirschkühe, dazu lässt sich auf einer der Sandbänke mit dem Fernglas ein Seeadler entdecken. Dahinter drehen sich am Horizont, als ob sie Storms geologischem Blick in die Zukunft noch eine technische Note verleihen wollen, die Räder des Windparks „Baltic 1“.

Eben am Strand, bückt sich Storm auch schon und hebt einen versteinerten Seeigel auf. „Hier, 70 Millionen Jahre alt. Da starben die Saurier gerade aus.“ Im Nationalpark werden die Algen nicht vom Strand entfernt. Die Pflanzen nutzen deren Nährstoffe, und so formen sich auf dem Neudarß durch angewehten Sand und Pflanzen die neuen Dünen. „Vom Altdarß weiter südlich wird nichts mehr abgetragen“, erzählt Storm. „Aber hier oben, der Neudarß, das sind 2800 Jahre sich verändernde Erdgeschichte. Ich merke mir immer: 753, Rom kroch aus dem Ei. Und weiter nach vorn geblickt: In 400 Jahren wird der Strand hier durch die Entwicklung der Vegetation zum Wald werden.“

„Was heißt ‚Darß‘ eigentlich?“

Tatsächlich ist der größte Teil des Darß von Wald bedeckt, dem 5800 Hektar großen Darßwald. Wer hier im Morgennebel eintritt, den empfängt eine mystische, verwunschene Welt, in der Feen und Elfen ihr Zuhause haben könnten. Am Himmel kann es laut werden. Denn der Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft hat enorme Bedeutung für den Vogelzug. Hier befindet sich der größte Kranichrastplatz Mitteleuropas. Seit vielen Jahren legen die majestätischen Vögel auf dem Darß eine Pause ein, um sich im Frühling auf den Weiterflug in die Brutgebiete Skandinaviens oder im Herbst in die Winterquartiere vorzubereiten.

Tagsüber suchen sie nach Nahrung, abends fliegen sie zurück zu ihren Schlafplätzen in den flachen Boddengewässern. Da tausende Kraniche mit entsprechendem Hunger mühelos in der Lage wären, zahlreiche Landwirte in den Ruin zu treiben, werden sogenannte Ablenkungsfütterungen eingerichtet: Auf bestimmten Wiesen oder abgeernteten Feldern wird Mais und Weizen verteilt. Die Kraniche kriegen das schnell spitz und steuern diese Flächen zielstrebig an.

Die scheuen Tiere meiden Menschen und nehmen vor allzu ambitionieren Hobbyfotografen rasch Reißaus. Bleibt noch die Möglichkeit, sich ihnen mit dem Ausflugsboot von Seeseite zu nähern, Dicht über den Köpfen der Beobachter pflügen die Wappentiere der Lufthansa in keilförmiger Formation durch den Himmel und setzen in sicherer Entfernung auf den Landzungen im Bodden zur Landung an. Dort verbringen sie die Nacht – im Stehen schlafend.

Zum Abendessen im „Achtern Storm“ in Ahrenshoop gesellt sich Bürgermeister Hans Götze zu den Besuchern. Der Verwaltungschef – selbst ein begeisterter Maler – ist froh, dass das Kunstmuseum im Ort jüngst planmäßig eröffnet werden konnte. Ein Magnet für die Künstlerkolonie. Kulturstaatsminister Bernd Neumann hatte dem Land Mecklenburg-Vorpommern Mittel aus dem Förderprogramm „Investitionen für nationale Kultureinrichtungen in Ostdeutschland“ zur Verfügung gestellt. Mit rund 1,2 Millionen Euro wurde der Bau des Kunstmuseums Ahrenshoop gefördert, dazu kamen Landesmittel in gleicher Höhe. „Ahrenshoop ist neben Worpswede eine der bedeutendsten Künstlerkolonien im deutschsprachigen Raum, die dortige Sammlung hat kunstgeschichtlich erhebliche Substanz“, lobte Neumann.

Gab es auch zu DDR-Zeiten Tourismus auf dem Darß? „Na ja“, meint Götze, „einige Betriebe hatten schon Bungalows. Und wer hier als Einheimischer ein Ferienzimmer anbieten konnte, war durchaus gefragt. Aber das war ja Grenzgebiet. Binnen 24 Stunden musste sich der Gast ins Meldebuch eintragen. Luftmatratzen waren verboten, und nachts durfte man nicht an den Strand. Da haben uns dann die Grenzer abgefunzelt.“

Bleibt noch die Frage: „Was heißt ‚Darß‘ eigentlich?“ Da sei man sich nicht ganz einig, meint Storm. Das Wort komme aus dem Slawischen und könne sowohl „Garten“ oder „Geschenk“, allerdings auch „Dornbusch“ bedeuten. Alles passt zu diesem Fleckchen Erde.

Dirk Wegner

Zur Startseite