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© dpa

Messie-Syndrom: Versunken im eigenen Leben

Wer faul ist, kann aufräumen, will aber nicht. Bei Menschen mit Messie-Syndrom ist es andersrum: Sie wollen, können aber nicht. In Deutschland sind fast zwei Millionen von dem häuslichen Chaos betroffen.

„Vor ein paar Jahren wäre ich im Chaos fast versunken. Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich an meine Hardcore-Phase denke: Geschirrberge, die sich in der Küche türmen. Tüten voller Abfall. Berge leerer Joghurtbecher. Hühnerknochen, die sich auf dem Mülleimer stapeln.“

Heute sieht es bei Heike auf den ersten Blick aus wie bei jedem, der die Dinge ein bisschen schleifen lässt. Ein paar Körbe mit Bügelwäsche, einige Kartons mit Krimskrams, unaufgeräumte Regale. Und dennoch gehört die 42-Jährige, die so mutig und selbstbewusst über ihre Probleme spricht,zu jenen fast zwei Millionen Menschen in Deutschland, die unter dem Messie- Syndrom leiden.

„Messies“ (von engl. „mess“ für Unordnung) können nichts wegwerfen. Sie sammeln, was ihnen in die Hände fällt. Sie stapeln sich zu mit Haufen und Türmen. Sie produzieren ein Chaos aus Kram und Krempel. Was aber bringt sie dazu, so zu leben? Warum werden sie zum Messie? Und können sie sich jemals wieder befreien?

„Es handelt sich um ein komplexes psychiatrisch relevantes Krankheitsbild“, sagt der Berliner Psychiater Gerd Teschke. Er ist einer der wenigen Experten, die sich mit dem bisher kaum erforschten Phänomen ernsthaft beschäftigen. Teschke nimmt an, dass es sich um eine Schwäche im exekutiven System des Gehirns handelt. Dieses, dem Management einer Firma vergleichbare Kommandozentrum, befindet sich im präfrontalen Cortex, dem entwicklungsgeschichtlich jüngsten Teil des Gehirns. Es ist dafür verantwortlich, dass der Mensch Ziele setzen, Urteile fällen, Handlungen planen, Entscheidungen treffen, Informationen verarbeiten und in einen Output verwandeln kann. Bei Menschen mit Messie-Syndrom sind diese lebenswichtigen Sortier- und Entscheidungsfunktionen gestört. Die Fülle von Eindrücken oder Impulsen führt zu Überforderung. „Die Menschen der Steinzeit mussten mit ungefähr 35 Gegenständen umgehen“, so Teschke, „wir sind heute mit Abertausenden konfrontiert. Entsprechend höher sind die Anforderungen an das exekutive System.“

Das innere Chaos hat ein äußeres zur Folge. „Ich kann Reize, die auf mich einströmen, nicht filtern“, sagt Heike. „Für mich ist jeder Reiz gleich stark und gleich wichtig. Andere können problemlos unterscheiden, was jetzt wichtig ist und was man erst später macht.“ So wie die Ex- Fremdsprachensekretärin Heike, die heute in einem Call-Center eine Hotline betreut, sind Messies häufig intelligente und kreative Leute, die – so paradox das klingen mag – an überzogenem Perfektionismus leiden. Aber: Absolute Ordnung herzustellen sind sie nicht in der Lage. Während faule oder unordentliche Menschen jederzeit aufräumen könnten, häufig aber nur nicht wollen, ist es bei Messies genau umgekehrt: Sie wollen durchaus, können aber partout nicht – an dieser Stelle beginnt die Störung.

Die Psychologin Renate Pastenaci vertritt die These, „dass die Vermüllung als Syndrom die Reaktion auf ein Trauma darstellt.“ Dazu gehören Todesfälle wichtiger Bezugspersonen, Scheidungen, Krankheiten, Arbeitslosigkeit und andere einschneidende Ereignisse. Betroffene versuchen, verloren gegangene Beziehungen zu kompensieren, indem sie sich ausschließlich auf das Sammeln von Gegenständen fixieren, ein symbolischer Ersatz für den erlittenen Verlust. Das kann zur völligen Vermüllung der Wohnung führen und in tiefe gesellschaftliche Isolation, zum Verlust des Arbeitsplatzes – wie bei Heike – und zu erheblichen Problemen mit Behörden, weil wichtige Papiere nicht mehr gefunden oder abgeschickt werden. Im Extremfall können psychische Belastung und schwere Depressionen zum Selbstmord führen.

Wie tief Heike immer noch im Käfig steckt, symbolisiert unfreiwillig ihr Schlafzimmer. Der kleine Raum wird fast vollständig von einem Hochbett eingenommen, unter dem sie einen Arbeitsplatz eingerichtet hat. Die Kleiderschränke lassen kaum Durchgang zum Fenster, in der Ecke stapelt sich Wäsche. Der Raum unter dem Bett ist vollgestopft mit Sessel, Anrichte, Büroschrank, Nähmaschine, Nähkasten, Klamotten. In einer großen Plastikbox türmen sich Papiere, die seit mindestens fünf Jahren nicht sortiert worden sind, „obwohl darin ganz wichtige Sachen stecken", wie Heike vermutet. Übrig ist nur eben so viel Raum, wie der Drehsessel vor dem Rechner erfordert – ein winziges Cockpit, das in jedem Raumschiff komfortabler ausfallen dürfte. Hier bunkert Heike sich ein, dies ist der Zufluchtsort einer gepeinigten Kreatur, wenn sie mit Gleichgesinnten und Gleichbetroffenen chattet.

Es gibt kaum fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse, wie man sich aus den Zwängen dieses Daseins befreien kann. So viel aber ist sicher: Der Kampf gegen das Messie-Syndrom ist langwierig und schwierig. Und: Man muss das Übel an der Wurzel packen. Die Ursachen sind aber so vielfältig wie die Persönlichkeiten. Sind es Grundängste, Sozialängste oder Versagensängste? Blockaden unbewusster Routinen? Entwicklungsstörungen, Bindungsstörungen, Zwangsstörungen oder die Nichtübereinstimmung von Selbstbild und Selbst? Ist eine Verantwortungsabwehr die Ursache? Oder gar Krankheiten wie das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADS?

Für Gerd Teschke ist die Sache klar: Vor der eigentlichen Therapie müssen diese Störungen behandelt werden. Und es reicht nicht aus, zu sagen: „Räum auf! Schmeiß den Müll weg!“ Das sind nur Symptome. Grundprinzip ist die behutsame Zurückführung der Betroffenen in ein normales Leben, in dem sie wieder alltägliche Dinge verrichten können.

So gut wie alles hat Heike schon probiert: Psychotherapie, Selbsthilfegruppen, Medikamente, Zeit-Management, Stress-Reduzierung, Hilfesuche in Internet-Foren, sogar Auftritte vor TV- Kameras. Den Fernseher hat sie abgeschafft, weil die tägliche Dosis Ablenkung lähmendes Gift für sie war. Ihr größter Glücksfall: Vor vier Jahren fand sie einen Mann, der behutsam mit ihr und ihrem Problem umgeht. Und dennoch bleibt es täglich ein harter Kampf gegen sich selbst. Nach vielen Jahren hat sie das Schlimmste überwunden, doch aufhören wird die Therapie für sie nie: „Im Moment ist gerade wieder so eine Zeit, wo ich denke: Hoffentlich kriege ich alles in den Griff. Denn es breitet sich aus wie ein Krebsgeschwür. Wenn ich nicht extrem ordentlich bin und sofort alles wegräume, breitet es sich sofort aus, es kommt noch etwas dazu, und dann ist der Punkt erreicht, wo ich denke: Um Gottes willen, jetzt muss ich aufräumen. Und dann kommt wieder der Teufelskreis, dass ich mich nicht rantraue und mich nicht überwinden kann.“

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