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Nach dem Putsch werden 150 000 Staatsbedienstete freigestellt oder entlassen, 50 000 Menschen landen im Gefängnis.

© Huseyin Aldemir/Reuters

Zwei Jahre nach dem Putschversuch in der Türkei: Nachtgedanken: Alles begann mit Stillstand

Als das türkische Militär vor zwei Jahren putschte, saß unsere Autorin in einem Kleinbus in Istanbul fest. Nur noch eine Mitreisende traut sich heute über ihre Erinnerung zu sprechen.

Da ist dieses Licht, das sich in meinen Kopf eingebrannt hat. Wie ein Filter liegt es über allen Bildern aus jenen Tagen. Und immer, wenn sich die Erinnerungen an die Nacht des Putsches ins Gedächtnis drängen, kommt das Gefühl wieder hoch: Wie Unbeschwertheit von einem Augenblick auf den anderen in Verunsicherung umstürzen kann. Es war, als hätte die Welt damals noch ein bisschen an Tempo zugelegt. Dabei begann alles mit Stillstand.

15. Juli 2016. Freitagabend. Seit gut einer Stunde hat sich unser Kleinbus nicht bewegt, auch die Autos auf den anderen drei Spuren der Autobahn Richtung Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke, einer der Verbindungen über den Bosporus, stecken fest. Wir im Bus sind Studenten, Akademiker, Menschenrechtler, Mitte 20, kommen aus der Türkei, Italien, Deutschland oder Mazedonien. Gerade erst haben wir uns am Istanbuler Flughafen Sabiha Gökçen kennengelernt, vor uns liegen fünf Tage Konferenz zum Thema Konfliktlösung. Hinter den Fensterscheiben weicht die Hitze des Tages langsam einer kühleren Nacht, im Bus schwitzen wir. Stau passiert eben. Nichts zu machen. Selin, die unsere Konferenz mitorganisiert hat, versucht uns zu beschwichtigen. In der Stimme der Frau mit den dunklen kinnlangen Locken schwingt leiser Witz. Da wissen wir noch nicht, dass heute Nacht Menschen sterben werden.

Wir warten. Irgendwann sagt Selin: „Es geht nicht weiter, weil das Militär die Zugänge zu den Brücken kontrolliert.“

Wie sieht ein Putsch aus?

Noch glauben wir, es gehe bei den Kontrollen um die Suche nach den Hintermännern des IS-Anschlags auf den Atatürk-Flughafen zwei Wochen zuvor. Um elf Uhr dann erklärt Selin, die wie alle anderen Personen in diesem Text eigentlich anders heißt: „Leute, es sieht so aus, als gäbe es einen Putschversuch.“ In ihrer Stimme liegt nun kein Witz mehr, sondern Panik.

Mein Handy leuchtet auf. „Militär beruhigt die Lage.“ Eine SMS aus Deutschland. „Nein“, schreibe ich zurück, „der Putschversuch geht von einem Teil des Militärs aus, sagen die hier.“ Alles ist wirr.

Wir schauen uns an, beunruhigt und aufgekratzt. „Ich hatte keine Ahnung, wie ein Putsch überhaupt aussehen würde“, sagt Selin. Wir kennen das nur aus Geschichtsbüchern, manche hier noch aus Erzählungen ihrer Eltern: In der Türkei putschte das Militär 1960, 1971 und 1980. Doch niemand von uns ist so alt, dass er es selbst miterlebt hätte. Auch wenn wir in den vergangenen Jahren sahen, wie an vielen Orten der Welt Freiheiten eingeschränkt und Demokratien bedroht wurden, gehören wir zu einer Generation, die bewaffnete Konflikte nur in den Nachrichten sieht. Globalisierung ist für uns keine Bedrohung, sondern ein Versprechen. Oft haben wir mit Gleichaltrigen aus Boston, Beirut oder Bangalore mehr gemeinsam als mit Freunden aus der Kindheit. Ein Militärputsch scheint wie aus der Zeit gefallen. Unwirklich. Das verbindet uns jetzt im stickigen Bus.

Zivilisten prügeln einen Soldaten tot

Niemand ahnt, dass in dieser Nacht fast 300 Menschen sterben und 2000 verletzt werden. Putschisten werden das Parlamentsgebäude in Ankara bombardieren. Auf der Bosporusbrücke werden Zivilisten einen aufständischen Soldaten totprügeln. Die türkische Regierung wird einen Ausnahmezustand erklären, den sie sieben Mal verlängern wird. Er endet erst jetzt, nach zwei Jahren – am 19. Juli.

Es ahnt auch noch niemand, dass 150 000 Staatsbedienstete freigestellt oder entlassen werden, 50 000 Menschen ins Gefängnis kommen, Zeitungen und Radiosender schließen müssen. Unter den 150 Journalisten in Haft werden eine Zeit lang auch die Deutschen Deniz Yücel und Mesale Tolu sein. Bei einem Verfassungsreferendum im April 2017 werden unter anderem die Rechte des türkischen Parlaments eingeschränkt.

Die türkische Regierung wird die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen für den gescheiterten Militärputsch verantwortlich machen. Die USA und das britische Parlament werden die Beweise dafür anzweifeln. Im Mai dieses Jahres werden mehr als 100 Militärs zu lebenslanger Haft verurteilt, davor schon mehrere hundert Putschbeteiligte zu langen Strafen.

So hört sich das an, wenn Panzer rollen

Noch während des Aufstandes beschwört Erdogan die Türken, gegen die Putschisten zu demonstrieren.
Noch während des Aufstandes beschwört Erdogan die Türken, gegen die Putschisten zu demonstrieren.

© Bulent Kilic/AFP

Es ist fast Mitternacht. Wir steigen aus, Luft schnappen. Der Busfahrer kramt Wasserflaschen und ein paar Kekse hervor. Wir teilen. Vor uns steht ein Kleinlaster, auf der Ladefläche türmen sich Melonen. „Die wären für das Militär gewesen, aber ich schätze, die brauchen sie jetzt gerade nicht“, sagt der Lieferwagenfahrer. Galgenhumor. Wir müssen lachen. Hier im Stau haben wir keine Angst, noch nicht, spüren nur diese nervöse Neugier, mit der man einer absurden Situation begegnet. Was, wenn die Flughäfen eine Woche lang oder länger lahmgelegt sind?, denke ich. „Hoffentlich komme ich hier wieder weg“, tippe ich in mein Handy.

Plötzlich vibriert der Boden. Ein Erdbeben? In der Ferne grollt metallenes Scheppern. Es kommt näher. Auf den vier Spuren der Gegenfahrbahn, aus der Stadt heraus, ist schon seit Stunden kein Auto mehr gefahren. Das Dröhnen wird lauter, und plötzlich rattern vier, fünf Panzer als Geisterfahrer vorbei. Verstärkung. So hört sich das also an, denke ich, wenn Panzer rollen.

Das Internet wird nicht zensiert, wir lesen auf Twitter mit, was nur wenige Kilometer entfernt passiert. CNN überträgt ein Interview, das Präsident Recep Tayyip Erdogan via Facetime gibt. „Ich rufe unser Volk auf, sich auf den Plätzen und am Flughafen zu versammeln“, sagt er. Eine Fernsehkamera filmt ein verpixeltes Handyvideo des Präsidenten, der nicht selten soziale Netzwerke zensiert. Die Türken im Bus, die das schon selbst erlebt haben, wundern sich.

Plötzlich donnern Kampfjets heran

Irgendwann fließt der Verkehr wieder. Langsam. Warum, wissen wir nicht. Gegen drei Uhr fahren wir von der Autobahn ab. Jetzt nur noch in das nächstgelegene freie Hotel, bloß nicht mehr draußen unterwegs sein. Jederzeit könnte etwas passieren. Vor den Fenstern unseres Kleinbusses ziehen die Menschen durch die Straßen, wie sie Erdogan dazu aufgerufen hat. Junge Männer und Frauen schwenken Fahnen, hupende Autos kommen uns entgegen.

Wir können das Hotel schon sehen, als plötzlich Kampfjets herandonnern. Etwas knallt, ich ducke mich auf meinem Sitz, wie alle anderen. Ein paar Stunden vorher hatten wir gelesen, dass in Ankara aus Helikoptern in Menschenmengen geschossen wurde. Ausgeliefert, so fühlen wir uns. Mein Herz hämmert, ich habe Angst um mein Leben. Sekunden später blicken wir hoch und aus dem Fenster. Nichts ist passiert. Die Flugzeuge hatten nur die Schallmauer durchbrochen.

Später lese ich, dass Menschen sich auch auf dem Taksim panisch auf den Boden warfen oder hinter Autos duckten, als Kampfjets im Tiefflug über den Platz jagten. Eine instinktive, hilflose Reaktion. Wer weiß schon, was man in so einer Situation tun soll? Ich weiß es nicht.

Im Hotel Asia Princess treiben die Angestellten mitten in der Nacht Toastbrot und Weißkäse auf. Außer uns ist niemand in der Lobby. Wir starren auf den Fernseher. Vor laufender Kamera marschieren junge Soldaten mit Maschinengewehren ins türkische CNN-Studio. Sie zwingen die Journalisten, die Redaktion zu verlassen. Es ist fast fünf Uhr, erste Gerüchte kursieren, dass die Putschisten scheitern. Wir beschließen, zu schlafen, wir wissen ja nicht, wofür wir morgen gerüstet sein müssen. Als ich im Hotelbett liege, höre ich einen Muezzin rufen, während die Fensterscheiben wegen der Druckwellen der Militärjets zittern.

Wurde die Demokratie gerettet?

Tagelang feiern Erdogans Anhänger die Niederschlagung.
Tagelang feiern Erdogans Anhänger die Niederschlagung.

© Murad Sezer/Reuters

Am nächsten Morgen flimmert die Luft schon früh vor Hitze. Vom Balkon des Asia Princess schaue ich auf eine Kreuzung, die verlassen daliegt. Die Autos sind fort. Auf einer Infotafel am Straßenrand, die sonst Verkehrsmeldungen zeigt, steht: Die Demokratie hat gewonnen. Ein Spruch, den Tausende in den nächsten Tagen auf Plakaten lesen werden. Abends, bei den Demonstrationen auf dem Taksim-Platz, werden ihn die Menschen rufen – für die Republik, gegen den Putsch. Am Rand der zweiten Bosporusbrücke parkt ein verlassener Panzer.

Eigentlich wollte ich für diesen Text mit allen Türken sprechen, mit denen ich damals im Bus saß. Darüber, wie sie heute jene Nacht des 15. Juli sehen, und was seit dem in der Türkei passiert ist.

Nur Selin wollte reden. Zeynep antwortete: Sie fühle sich nicht wohl, darüber zu reden. Esra sagte: Sie habe gerade viel zu tun auf der Arbeit. Andere wollten nicht mal, dass ich erwähne, warum sie absagen. Haben sie Angst?

Oder ist es gar keine Angst, und sie sind nur enttäuscht, wie Deutschland seit jener Nacht auf die Türkei blickt?

Schon kurz nach dem gescheiterten Putschversuch gab es hierzulande Schlagzeilen wie: „War der Putsch inszeniert?“ In der Türkei wurde das häufig als Enttäuschung darüber verstanden, dass Erdogan nicht abgesetzt wurde. Das machte nicht nur AKP-Anhänger wütend, auch Oppositionelle, erklären mir Menschen, mit denen ich spreche. Gleiches lese ich immer wieder in der Zeitung, wenn Türken und Deutschtürken befragt werden. Die Menschen seien doch auf die Straße gegangen und haben die Demokratie gegen die Militärdiktatur verteidigt – das ist die offizielle Erzählung der Regierung. Für viele entspricht sie der Wahrheit.

Selin glaubt, sie kann etwas verändern

Doch es tut weh, von der Verteidigung der Demokratie zu sprechen, wenn sich diese seit jener Nacht immer schneller in Richtung Autokratie wandelt. Wo Menschen ohne Prozess im Gefängnis landen und die Meinungsfreiheit beschnitten wird.

Wurde die Demokratie gerettet, oder ist sie nun erst recht bedroht?

Deutschland kritisiert, dass es in der Türkei keine Rechtssicherheit mehr gibt. Erdogan wirft Deutschland vor, Putschisten und Terroristen Unterschlupf zu gewähren.

„So lange die Wahlen noch fair und frei sind, und die Menschen eine gute Ausbildung bekommen können, geht es weiter“, sagt Selin. Kurz nach dem gescheiterten Putschversuch ist sie für ein Studium nach Skandinavien gezogen, es war lang geplant. Doch jetzt wird sie zurückgehen. Sie glaubt, dass die Türkei gut ausgebildete Menschen wie sie braucht. Dass sie noch etwas verändern kann.

Vergangenes Jahr stimmten 51 Prozent der Türken dafür, ihre Verfassung so zu ändern, dass Erdogan mehr Machtbefugnisse erhält. Mit seinem Wahlsieg am 24. Juni dieses Jahres wird er zukünftig an der Spitze eines Präsidialsystems regieren.

52 Prozent stimmten für ihn.

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