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Blick aufs Fußballstadion in Moskau vom Gorki-Park aus.

© Christian Vooren

Vor der Fußall-WM: Abseits in Russland

Eine Reise wie ein Fußballspiel. Mit einer Hauptstadt als Baustelle, herzensguten Hooligans – und einer wodkareichen Verlängerung. Wie sich das Land vor der Weltmeisterschaft im Juni anfühlt.

HEIMSPIEL

Im Zug von Stadion zu Stadion

Natürlich könnte man von einer russischen Stadt in die nächste fliegen. Natürlich wäre das schneller. Nur ist es mit der Transsib viel schöner. Wer per Schiene von Spielort zu Spielort reist, bekommt etwas vom Land mit und lernt garantiert Leute kennen. Jeden Tag fahren in Russland 500 Züge. 2016 waren 94 Millionen Fahrgäste unterwegs. Die 9000 Kilometer von Moskau bis Wladiwostok sind ohne Umsteigen zu schaffen. Zur WM erwartet Russland mehr als 600.000 Fußballfans im Land, allein zwischen Moskau und Sankt Petersburg werden deshalb 112 Züge in einem speziell getakteten Fahrplan pendeln. In den regulären Zügen kann jeder, der ein WM-Ticket hat, kostenlos reisen. In Sonderzügen gilt das nicht, dafür kann man dort – beispielsweise auf der Transsibstrecke zwischen Moskau und Jekaterinburg – im Mehrbettsaal oder direkt im eigenen Abteil unterkommen.

Warnung: Wer oben liegt, sollte sich nicht zu sehr wälzen, sonst rollt er womöglich von der schmalen Pritsche und landet auf dem Boden. Dafür möchte man nach spätestens zwei Nächten nie wieder woanders als im Zug schlafen. Das Schaukeln und Klackern des Zugs auf den Schienen – tacktack tacktack – versetzt einen in sanften Schlaf und das Interieur des Zuges die Wachgebliebenen in eine andere Zeit. Der braune Teppichboden sieht so alt aus, den könnte Leo Tolstoi zwischen Krieg und Frieden noch selbst verlegt haben, die Holzvertäfelung und die goldenen Türgriffe glänzen wie orthodoxe Kirchendächer. In der Matrjoschka am Bett steckt eine Wodkaflasche. Abendessen wird in der kleinen Bar serviert, es gibt etwa zwölf Gänge Wurst-, Fisch- und Käseplatten – mitzählen ist hoffnungslos –, davor und währenddessen schenkt das Personal Wodka aus.

Erste Lektion von den russischen Mitreisenden: Vor jedem Schnaps ein Trinkspruch. Zweite Lektion: Wodka wird nie nach dem Essen getrunken. Vielleicht hören die Russen deshalb nie auf zu essen. Dritte Lektion: Wodka schmeckt immer eklig, aber die Wirkung zählt. Vierte Lektion: Der schlechteste Wodka ist immer der, den man alleine trinkt! Fünfte Lektion: „Wodka ist am besten bekömmlich bei 40 Prozent“, sagt der Zugbegleiter und stellt eine Flasche 38-Prozentigen hin. Sechste Lektion: Wodka in Russland wird nur aus Weizen hergestellt, nie aus Kartoffeln. Reicht für heute. Und während man bettschwer in die Kabine schlurft, ruft jemand hinterher: „Morgen früh machen wir eine Wodkaprobe!“ Und was war das dann gerade?

SPIELFREI
Ein Nachmittag auf dem Mafia-Friedhof

Jekaterinburg hätte bekannt werden können als östlichster Spielort der WM, 1700 Kilometer von Moskau entfernt, als viertgrößte Stadt Russlands, als Jelzins Geburtsort oder als Mayonnaise-Hauptstadt, dafür kennen die Russen sie jedenfalls. Aber der Ruf der Stadt ist ein anderer. Bis weit in die 90er Jahre hinein war Jekaterinburg ein Paradies für die Organisierte Kriminalität, ein Wilder Westen im Osten. So ziemlich alles in der 1,5-Millionen-Einwohner-Metropole wurde von einigen wenigen Familien gesteuert. Und weil die sich nicht mochten, eskalierte das Ganze gegen Ende des Jahrtausends. Sie schossen, schlugen und stachen sich nieder, und aus dem ehemaligen Soldatenfriedhof wurde ein Ort, der heute aussieht wie eine skurrile Filmkulisse.

In jedem Fall lohnt es sich, an einem spielfreien Tag auf dem Mafia-Friedhof vorbeizuschauen. Wer sich hier begraben ließ, machte in letzter Amtshandlung der Nachwelt unmissverständlich klar: Ich war der Größte! Nur starb schon bald darauf wieder jemand, und der ließ einen noch größeren Grabstein aufstellen. Es brauchte schließlich Platz, um die Verstorbenen in möglichst vielen heroischen Posen abzubilden. In schlecht sitzenden Anzügen, in Kickboxer-Pose, am Steuer eines Oldtimers, auf einer Harley thronend, alternativ auf einem Pferd oder Jetski. Oder nachdenklich am Schreibtisch. Als dreidimensionale Verzierung ließ einer seinen Mercedes-Schlüssel in die Grabplatte einsetzen. Auch wenn es kurios anmutet, Besucher sollten besser keine zu lauten Scherze darüber machen. Auf den Bänken sitzen noch immer Hinterbliebene, gedenken ihrer Familien und machen dabei ein Picknick.

Auf dem Mafia-Friedhof in Jekaterinburg.
Auf dem Mafia-Friedhof in Jekaterinburg.

© Alamy Stock Photo

ANPFIFF
Stimmungskanone mit Schalldämpfer

Stell dir vor, es ist WM, und keiner geht hin. Beim Confed Cup im vergangenen Sommer wurde ein solches Szenario durchaus denkbar. In Städten wie Moskau und Sankt Petersburg musste man selbst an Spieltagen, ja sogar am Finaltag schon einigermaßen wachen Auges durch die Straßen flanieren, um jemanden zu finden, der sich für das Turnier interessiert. Da spielte Chile gegen Deutschland in Sankt Petersburg. Der Confed Cup galt als russische Generalprobe für die WM im Sommer. Ungeachtet der Stimmung wurde deutlich: Russland will zeigen, dass es eine Veranstaltung in der Größenordnung stemmen kann. Moskau gleicht einer riesigen Baustelle. Ganze Wohnblöcke am Stadtrand wurden abgerissen und neu gebaut, Parks und Plätze saniert, die Infrastruktur verbessert. Mittelfristig profitieren die Moskauer davon, derzeit fluchen sie jedoch darüber, dass Putin Dutzende Straßen zur gleichen Zeit habe aufreißen lassen. Dass bis Juni alles fertig wird, daran zweifeln sie gleichwohl nicht.

Die Abläufe rund ums Stadion sind jedenfalls perfekt durchchoreografiert. Schnurstracks werden die Zuschauer die lange Allee entlang zum Stadion geleitet. Niemand singt, ließe jemand sein Ticket fallen, man könnte es wohl hören. Die wenigen Verwegenen, die sich für ein paar Rubel ihre Landesflaggen auf die Wange malen lassen, fallen damit schon als Stimmungskanonen auf. Die Einlasskontrolle läuft ab wie am Flughafen, nur zügiger. Ordner weisen die Gäste schneller ins nicht ansatzweise ausverkaufte Finalstadion, als die Deutsche Bahn einen einzelnen Zug zu füllen vermag. Eine Logistik wie im Postamt, aber eben auch die gleiche Stimmung. Wird bei der Weltmeisterschaft sicher noch besser, dafür werden Pavel und Roman schon sorgen.

Zwischen Ultras und Clubkultur

Von Stadion zu Stadion lässt es sich gut mit der Transsibirischen Eisenbahn reisen.
Von Stadion zu Stadion lässt es sich gut mit der Transsibirischen Eisenbahn reisen.

© REUTERS

FOULSPIEL
Begegnung mit Ultras

Roman ist ein bleicher Schlacks von 32 Jahren, der ein selbst für seinen drahtigen Körper viel zu enges T-Shirt trägt, auf dem „Der Pate“ aus dem Gangsterfilm zu sehen ist. Sein Freund Pavel, der Eventmanager, kurz geschorenes Haar und breit wie drei Romans. Beide mögen Spartak Moskau. Also: sehr. Böse Zungen könnten auf den Gedanken kommen, sie Hooligans zu nennen. Und irgendwie sind sie ja auch herzensgut, klingen wie Frischverliebte, wenn sie über den Sport, ihren Verein reden. Darüber, dass Spartak gerade Meister geworden ist, dass Fußball leider noch immer keinen hohen Stellenwert im Land habe. Er steht gerade mal auf Platz vier der beliebtesten Sportarten, Eishockey führt die Liste mit weitem Abstand an.

Trotzdem schwärmen Pavel und Roman davon, dass sie zur WM alle Spiele im Stadion sehen und dafür ihren gesamten Urlaub und so viel Geld wie möglich sparen wollen. „Wir hatten noch nie so ein großes Ereignis im Land“, schwärmen sie im Chor. Blöde Sache nur, das mit den Sitzplätzen. Im Stehen könne man viel besser Stimmung machen. Nett aber von der Fifa, mit Budweiser eine Brauerei als Hauptsponsor mitzubringen. Sonst herrscht in russischen Stadien striktes Alkoholverbot, zur WM ist das gekippt. Pawel und Roman sagen, sogar die Fans der verhassten Vereine Spartak und ZSK hätten sich bereits für den Confed Cup zusammengetan, um ihren Verein, Russland, anzufeuern. Sind dann die Engländer wieder der Feind? So wie zur EM 2016, als russische und britische Hooligans sich gegenseitig und alles um sie herum kurz und klein schlugen?

Das seien ja Einzelfälle gewesen, und außerdem hätten die Engländer angefangen, die Lügenpresse BBC würde das ständig verdreht darstellen. Aber zur WM im eigenen Land, verspricht Roman, werde nichts passieren. „Der große Vater Staat schaut auf uns.“ Russland weiß um die Brisanz des Themas. Wer bei der EM 2016 auffällig wurde, hat diesmal Stadionverbot. 380 Namen sollen auf der schwarzen Liste stehen. Zur WM würden vermutlich sogar Spezialeinheiten eingesetzt. Und mit denen will sich nicht einmal Pavel, der dreifache Roman, anlegen.

VERLÄNGERUNG
Durch die Nacht in Moskau

Es gibt zwei Varianten, zur „Bar Disko 90“ zu gelangen. Entweder jemand hat sie empfohlen, oder man stolpert versehentlich vorbei und bleibt bei jenen stehen, die gerade vor der Tür eine Zigarette rauchen, und denen, die mit dem Türsteher vergeblich diskutieren, weil sie keinen Ausweis dabeihaben. Es ist gleichermaßen unerklärlich und ein großes Glück, dass dieser Laden in keinem Reiseführer auftaucht, wohl auch, weil das Moskauer Nachtleben an Konkurrenz stark ist. Hier kann man wunderbar einen Blick werfen in die jüngere russische Seele. Die Küche reicht von ganz tief im Westen (Burger) bis weit nach Fernost (Sushi), was misstrauisch machen sollte. In der Theorie müssen Gäste vorher einen Tisch reservieren. Da sitzen aber nur wenige, trinken Cocktails und lassen den Blick von den Fernsehern an der Wand zur Tanzfläche und zurück schweifen.

Einheimische schauen eher zur Tanzfläche, Touristen starren auf die surreale Bildergalerie auf den Monitoren, die willkürlich Bilder aus 90er-Serien, von Spielzeug und Superhelden zeigen. Sowjetischer Game Boy trifft Alf trifft russischen Zeichentrick. Selbst wenn man keine Ahnung hat, wer die russischen Posterboys eigentlich sind, erahnt man, die Jugend der 90er war sich in West und Ost ähnlich. Das hört man hier auch, während man denkt: Hey, da dröhnt Whigfield aus den Boxen, um schnell festzustellen, dass die Dame Russisch singt. Und drei Songs später läuft Rednex. Das Highlight hier ist das Publikum. Männer in Trainingshosen flirten mit Frauen, die aussehen wie Prinzessinnen. Jungs in Anzügen klemmen sich iPads unter den Arm, während sie mit Frauen tanzen, auf deren T-Shirts „Sweetie“ steht, das Mädchen in knappem Kleid knutscht am Durchgang zum Klo mit dem bierbäuchigen Punk. „Tui gawarisch pa russkij?“ – Nein, kein Russisch, falls das die Frage war. Macht nix, den Wodka trinken wir jetzt trotzdem am Tresen, gibt der Mann zu verstehen. Und den nächsten auch. Zusammen mit all seinen Freundinnen und schon bald dem halben Club. Wer während der WM die ausgelassene Stimmung vermissen sollte: Hier ist sie.

Reisetipps für die Weltmeisterschaft

Von Stadion zu Stadion lässt es sich gut mit der Transsibirischen Eisenbahn reisen.
Von Stadion zu Stadion lässt es sich gut mit der Transsibirischen Eisenbahn reisen.

© REUTERS

HINKOMMEN

Nonstop-Flüge ab Berlin nach Moskau bekommt man für knapp 130 Euro bei S7, bei Aeroflot ab 170 Euro. Der Flug dauert etwa zweieinhalb Stunden. Nach Jekaterinburg gehen Flüge via Moskau mit Aeroflot für 340 Euro in knapp sieben Stunden oder mit Turkish Airlines für rund 100 Euro weniger, dafür knapp zehn Stunden mehr Reisezeit.

RUMKOMMEN
Fahrkarten für viele Regelzüge und den Nahverkehr sind in der Fan-ID erhalten, die jeder Zuschauer zum Ticket beantragen muss. Diese ID dient der Sicherheit rund ums Turnier, etwa, um Hooligans abzuhalten. Wer es komfortabler mag, kann einen der Sonderzüge von Moskau bis Jekaterinburg buchen – oder gleich weiterfahren in 16 Tagen bis Peking. Etwa im Zug „Zarengold“ ab 4150 Euro über Lernidee Erlebnisreisen: lernidee.de

REINKOMMEN
Die erste Runde Ticketverkauf ist vorbei, die zweite läuft noch bis 31. Januar. Bewerben sich mehr Fans, als es Karten gibt, entscheidet das Los. Eine Last-Minute-Runde startet Ende April. Die günstigsten Karten für die Gruppenphase kosten etwa 90 Euro, für das Finale werden zwischen 380 und 920 Euro fällig: de.fifa.com/worldcup

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