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Wohnen auf Rädern. Der Venice Simplon-Orient-Express schnauft durch die Alpen.

© David Noton

Venice Simplon-Orient-Express: Ein krimineller Zug

Dicke Polster, Tafelsilber und Champagner: Der Venice Simplon-Orient-Express rollt als Zeitkapsel durchs moderne Europa.

Abendstimmung. Der Venice Simplon-Orient-Express hält zwischen Innsbruck und St. Anton auf dem Land. Das Lammfilet wird serviert. Deckenlampen in Tulpenform erleuchten wunderbar den Restaurantwaggon, der Zug steht wie ein in der Landschaft abgestelltes Stillleben. Ein Bauer fährt auf einem Traktor vorbei. Was wird er sehen: eine Gesellschaft, die in feiner Robe Sittentheater auf dem Wartegleis spielt. Was wird er denken: spinnen die?

Zehn Stunden zuvor. Um in den legendären Zug einzusteigen, dürfen Passagiere über den roten Teppich gehen, hier eine Art Bettvorleger. Drei Damen in petrolfarbenen Kostümen rollen ihn gerade am Gleis Vier in Venedigs Hauptbahnhof aus. Darauf stehen die magischen Worte: Venice Simplon-Orient-Express. Wer sich darauf stellt, dem möchten Gepäckträger sofort Kleidersäcke und Louis-Vuitton-Koffer abnehmen. Nur Handgepäck? Nervosität macht sich bei den Hilfskräften breit. Das ist hier doch nicht Easyjet.

Der Express trägt die Erinnerung an vergangene Zeiten mit sich, an das späte 19. Jahrhundert, als eine Fahrt noch die Jahresmiete eines Hauses in der Londoner City kostete, mit 18 Passagieren als rentabel galt und mit drei Nächten zwischen Paris und Istanbul tatsächlich so schnell war wie kein anderes Verkehrsmittel. Inzwischen sind die Preise vergleichsweise gefallen. Ein Ticket kostet so viel wie die Monatsmiete eines Berliner Penthouses in Randlage, etwa 2000 Euro für knapp 24 Stunden. Man fährt vor allem die Hauptstrecke von Venedig nach London und verbringt eine Nacht an Bord.

Johnny Depp wird erstochen, Michelle Pfeiffer steht unter Mordverdacht

Die perfekte Lektüre für diese Reise ist „Mord im Orient-Express“, geschrieben 1934 von Agatha Christie. Die Schriftstellerin fuhr mehrmals mit dem Zug, um ihren Gatten bei seinen archäologischen Ausgrabungen im Nahen Osten zu begleiten. Der Kriminalfall um einen getöteten Amerikaner fesselte Millionen Leser, nun ist er wieder verfilmt worden. Kenneth Brannagh führt Regie und spielt Detektiv Hercule Poirot. Johnny Depp wird erstochen, Michelle Pfeiffer und Judi Dench stehen unter Mordverdacht.

Glamour im Gang. Michelle Pfeiffer als Mrs. Hubbard in der Neuverfilmung des Agatha-Christie-Stoffs.
Glamour im Gang. Michelle Pfeiffer als Mrs. Hubbard in der Neuverfilmung des Agatha-Christie-Stoffs.

© Fox

Um es gleich vorwegzunehmen: Bis Venedig kommen die Passagiere bei Agatha Christie erst gar nicht. Sie werden zwischen Istanbul und Triest eingeschneit, der Express hält notgedrungen an. Poirot löst das Rätsel, bevor der Zug sich wieder in Bewegung setzt. Außer einer Handvoll Tatverdächtiger und Schaffner scheint es keine Menschenseele an Bord zu geben.

Ganz im Gegensatz an diesem vernebelten Morgen in Venedig: 128 Gäste steigen ein, es gibt elf Schlafwaggons, drei für Restaurants, einen für die Bar und zwei als Lager für Gepäck und Vorräte. 400 Meter lang ist die ruckelnde Schlange, als sie kurz nach elf Uhr von Venedig losfährt.

Endlich, 50 Minuten hinter Venedig, wird es Italien

Im Wagen E sind alle acht Abteile belegt. Rory ist der cabin attendant, quasi das Zimmermädchen für das rollende Hotel. Der junge Brite hat rote Haare, Sommersprossen und tadellose Manieren. „Champagner, Sir?“ Das ist keine Frage, sondern eine Aufforderung. Rory köpft die Flasche Taittinger. Es ist schließlich schon nach elf Uhr. In seiner blauen Uniform weist er auf die Vorzüge von Kabine Sieben hin, drei Quadratmeter Gemütlichkeit. Die breite Polstersitzbank links, aus der nachts das Bett wird, das hinter einer Tür versteckte Waschbeckenkabinett rechts, den Lichtschalter an der Tür, den Servicerufknopf darunter.

Der Champagner elektrisiert, die Diesellok schnurrt. Draußen gleitet die Lagune vorbei. Man sieht nichts außer schemenhaften Inseln. Und begreift sofort, warum diese Stadt Thomas Mann zu einem morbiden Titel wie „Tod in Venedig“ inspirierte. Dieser Vormittag fühlt sich genau so an, oder wenigstens nach: fieser Erkältung. Dafür hätte man natürlich auch in Berlin bleiben und den Regionalexpress nach Wünsdorf nehmen können.

Endlich, 50 Minuten hinter Venedig, wird es Italien. Milchigblauer Himmel über Vicenza, Weinreben an sanften Hängen, Jahrhunderte alte Kirchen. Eine Stimme knattert aus den Lautsprechern. Zwölf Uhr, Zeit für das Mittagessen. „We remind you the dresscode is smart-casual.“ Was bedeutet: T-Shirts, Jeans und Turnschuhe sind nicht gestattet. Die Begründung dafür ist entzückend. Niemand an Bord soll sich „overdressed“ fühlen.

Der Seeteufel kommt, der Zug stock

In jedem Waggon kümmert sich ein Steward um die Reisenden.
In jedem Waggon kümmert sich ein Steward um die Reisenden.

© Belmond

Im Venice Simplon-Orient-Express gibt es eine Klassengesellschaft, die der Ersten Klasse. Tom und Chris, ein Paar aus Nordengland, sitzen im Anzug auf Hockern im Barwagen und schwärmen vom „treat“, den sie sich heute gönnen. Drei-Gänge-Menüs, rote Polstersitze, Brokatvorhänge an den Fenstern, Tischlampen aus Messing und Besteck aus Silber. Es gäbe junge Leute, die gar nicht mehr wissen, was der Orient-Express sei, erzählt Tom. „Madness!“

Die Außenbezirke von Verona huschen vorbei. Romeo-und-Julia-Stadt, wie passend: ein Liebespaar auf einer Bank. Sie, jung, blond, in Jeans gekleidet, er, älter, grauhaarig, in schwarzen Hosen. Beide sitzen eng umschlungen, die Vespa neben sich geparkt. Hätte Hercule Poirot sofort eine Affäre gewittert?

Der Seeteufel kommt, der Zug stockt. Mitten in der Kurve hält er für zehn Minuten. Der Express fährt nicht nach Fahrplan, muss auf aus- und einfahrende Züge Rücksicht nehmen. Die Gäste nehmen das vorzügliche Essen in leicht geneigter Haltung ein, wie ein Schluck Wasser hängen sie in der Kurve, ein Glas Sauvignon Blanc aus Südtirol hilft. Fährt man auch gleich durch: Die Berge werden höher, schroffer, eine alte Festung rauscht vorbei, jedes Foto aus dem Fenster gerät zur Landschaftsaufnahme mit Stromleitung. Instagram #viewwithcables. Am Brenner hält der Zug. Grenzer in verschiedenen Uniformen und ein Mann mit der Weste „Sozialnotdienst“ gehen vorüber.

Wer den Express nimmt, will bummeln

Drinnen serviert Rory den High Tea im Abteil. Macaron, Zitronentarte, Tee, den restlichen Champagner hat er kalt gestellt. Vor allem Engländer und Amerikaner genießen die Nostalgie an ein vergangenes Zeitalter. Bridget und Mark sind ein Paar Mitte 50 aus Yorkshire, sie wollten schon immer mal die Strecke fahren, jetzt haben sie endlich ein „günstiges Angebot“ erhalten – über den Preis schweigen sie sich natürlich aus.

Michele Rocca ist der General Manager, der fahrende Hoteldirektor. Vor einem Jahr, so erzählt er, hätte die Schweizer Bahngesellschaft angeboten, den Zug durch den neuen Gotthardtunnel zu leiten, dann wäre er schneller am Ziel. Um Gottes willen, Rocca schlägt die Hände vors Gesicht, genau darum gehe es ja: Wer den Express nimmt, will bummeln. Er sitzt im Barwaggon, um ihn herum flitzen weißlivrierte Kellner, ein Pianist spielt Melodien für Millionen. Rocca sagt, wer rechtzeitig plant, kann ein bestimmtes Lied vorbestellen – und um die Hand seiner Angebeteten anhalten. Ist schon passiert. Rocca schwört, dass das Paar noch zusammen ist.

Es ist bald 19 Uhr, Abendessen. Frauen in schulterfreien Cocktailkleidern, Männer im Smoking. Rocca sagt, nur mancher Amerikaner halte die Kleiderordnung für Auslegungssache. No, Sir, das Empire mag untergegangen sein, seine Etikette nicht. Sollte sich ein Gast nicht daran halten, wird er aufgefordert, dem Kellner in ein Abteil zu folgen – um sich Hemd oder Hose vom Personal auszuleihen. Das geschehe zum Glück nicht so oft, sagt Rocca.

Tina Turner könnte sich bestimmt ein Ticket leisten

Luxuriöse Schlafwagen für 180 Passagiere.
Luxuriöse Schlafwagen für 180 Passagiere.

© Helen Cathcart

Neben ihm sitzt ein Mann, ein mächtiger Amerikaner, dessen weißes Hemd aus dem Bund herausschaut. Mag auch daran liegen, dass in den Gläsern vor ihm nicht allein Tonic schwimmt. Er dreht sich auf dem Sofa um und liegt plötzlich halb auf dem Boden. Die anderen Gäste steigen in ihren Lackschuhen und High Heels über ihn hinweg.

Drinnen im Waggon füllen gedämpfte Geräusche den Raum. Gläser klirren mezzopiano, Silberbesteck zerteilt vorsichtig das Lammfilet, nur eine Amerikanerin unterhält alle in fortissimo. Sie stünde bei Poirot sofort unter Generalverdacht. Wer so viel plappert, hat etwas zu verbergen. Man denkt an Mrs. Hubbard aus dem Agatha-Christie-Krimi. Eine Amerikanerin, die mit lautstarken Beschwerden nervte. Ihre reale Nachfahrin plappert von Rabatten in feinen Hotels, 200 Dollar, 500 Dollar, oh dear, wie vulgär. Der ältere britische Gentleman neben ihr, stellt sich heraus, ist schwerhörig. Man beneidet ihn ein wenig.

Der Express fährt durch die Schweiz. Graham Greene hat einmal über eine Tagesfahrt auf diesem Abschnitt geschrieben. „Wie kann ein so schönes Land nur so langweilig sein?“, heißt es in „Die Reisen mit meiner Tante“. Ebenfalls nachzulesen in dem Roman von 1969 ist der Verfall der einst mondänen Verbindung in den Orient. Ende der 60er Jahre setzte die Konkurrenz der Flugzeuge dem Express zu. Es gab drei Klassen statt nur einer, kein Restaurant an Bord mehr, Gastarbeiter und nicht Kronprinzen saßen in den Abteilen. 1977 fuhr der letzte reguläre Express. Fünf Jahre später rollte er wieder als Erlebniszug für Schwerreiche von London nach Venedig. Nicht das Original, aber restaurierte alte Waggons, mit Mahagoni und Rosenholzintarsien.

An eine gewisse Klientel kommt man nicht heran

Lichter, viele Lichter blitzen plötzlich auf. Der Express fährt nun südlich des Zürichsees entlang, man sieht das dunkle Gewässer und verschwommene Spiegelungen. Da drüben muss Tina Turner wohnen. Die könnte sich bestimmt ein Ticket leisten. Aber Tina Turner, wie sie nachts vor der Gemeinschaftstoilette Schlange steht, das kann man sich auch nicht vorstellen. Michele Rocca weiß das. An eine gewisse Klientel kommt man nicht heran ohne den nötigen Raum für Privatsphäre. Deshalb baut die Muttergesellschaft Belmond gerade an größeren Abteilen mit eigenen Toiletten. Ab nächstem Jahr werden sie eingesetzt.

Mitternacht in Zürich, der Zug parkt eine Stunde am Hauptbahnhof. Lautsprecherdurchsagen verhindern, dass man durchschläft. Wenigstens ist man in der Einzelkabine weich gebettet. Das ältere Ehepaar nebenan teilt sich ein Abteil. Das bedeutet, einer hat das kürzere Streichholz gezogen und muss oben im Etagenbett schlafen. Der Rest vom Champagner dient nun als Einschlafdroge. Morgen früh um sieben klingelt schon der Wecker. Dann erreicht der Zug den Gare de l’Est in Paris – und die Reise in die Komfortzone der Vergangenheit ist vorbei.

Reisetipps für den Orient-Express

Hinkommen

Mit Easyjet von Berlin nach Venedig fliegen und zurück von Paris mit Air France oder Eurowings.

Zugfahren

Der Venice Simplon-Orient-Express verkehrt zwischen März und November. Die Hauptstrecke Venedig-Paris kostet etwa 2000 Euro pro Person, wer bis nach London weiter möchte, zahlt noch einmal 400 Euro drauf. Inklusive sind alle Mahlzeiten und der Willkommens-Champagner. Die Reisezeit beträgt etwa 21 Stunden bis Paris und 30 Stunden bis London. Alle Infos unter belmond.com/trains

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