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Der dicke Bauch stört Melli nicht - dass ihr Freund keinen Job findet, schon.

© Illustration: Birgit Lang

Teenie-Eltern in Berlin: Minderjährig, verliebt - und schwanger

Melli ist 16, Justin ist 17. Dazu kommt Lotte, ihr Baby. Eine Langzeitreportage über den Versuch, eine Familie zu werden.

Zweimal pro Woche ist Melli Mama. Für anderthalb Stunden. Unter Aufsicht.

Das Wetter ist schön an diesem Tag, aber sie darf mit Lotte nicht auf den Spielplatz. Irgendwann vielleicht mal, sagt die Frau, die das Jugendamt beauftragt hat, um Melli beim Muttersein zu helfen, irgendwann, wenn alles besser läuft. Vorne geht die Tür auf, Lotte wird heute von Justins Stiefvater gebracht. Vielleicht konnte sich Justin wieder keine Fahrkarte leisten, mutmaßt Melli. Sie dürfte ihn bei der Übergabe ohnehin nicht sehen, das haben die Leute hier verboten. Sie würden sich nur streiten, und Lotte ist noch so klein.

Begleiteter Umgang – Paragraf 18, Absatz drei, Sozialgesetzbuch für Kinder- und Jugendhilfe. Das ist alles, was der 17-jährigen Melli zehn Monate nach der Geburt ihrer Tochter Lotte geblieben ist. Während dieser Zeit, in der Melli, Justin und Lotte versuchen, eine Familie zu werden, erzählte Melli regelmäßig, wie es ihr ergeht. Nur ihren echten Namen und ihr Gesicht will sie nicht in der Zeitung sehen. Darum heißen Melli, Justin und Lotte in Wahrheit anders.

Lotte schwebt auf den Armen der Frau vom Amt ins Zimmer: ein pausbackiges Baby mit aschblonden Haaren und sonnengebräunter Haut, Speckrollen wie ein Michelinmännchen, ständig zeigt sie auf etwas. Melli dagegen: zerbrechlich ist sie, blasse, zerkratzte Haut an den Beinen. Die Frau beobachtet sie kritisch. „Bitte, ich habe es Ihnen doch schon gesagt, Sie müssen den Nacken stützen, wenn Lotte versucht, sich aufzurichten.“ Melli rollt mit den Augen.

Melli lebt irgendwo in Berlin - bei ihrer Mutter ist sie früh ausgezogen.
Melli lebt irgendwo in Berlin - bei ihrer Mutter ist sie früh ausgezogen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Das Fläschchen mit Tee ist die nächste Fehlerquelle

Lotte purzelt über den Raufaserteppich, will an Mellis Tasche und beschwert sich nicht, wenn Melli sie wegzieht. Lotte scheint mit allem zufrieden zu sein. Zufrieden damit, immer wieder hochgehoben, umgesetzt und mahnend gerufen zu werden. Zufrieden auch mit dem Maracujabrei, den Melli meistens kauft, weil sie selbst gern davon nascht. Ein Gläschen soll sie zu jedem Treffen mitbringen und ein Fläschchen mit Tee. Die nächste Fehlerquelle. „Ich habe Ihnen doch gesagt, kein gezuckerter Tee. Frau Schuster, noch mal – stützen Sie den Kopf. Lotte möchte vielleicht mehr trinken, Frau Schuster.“

Wenn die Frau vom Amt mit Lotte spricht, säuselt sie: „Ja, das findest du lustig, was? Oh, da reibt sich aber jemand schon die Äuglein. Du bist eine ganz Süße.“

Wenn Melli mit Lotte spricht, sagt sie: „Du hast gefurzt, du Sau.“

Heute läuft es nicht so gut. Melli fummelt an dem Ring in ihrer Nase und spricht kaum mit der Frau, die oft seufzt. Als Lotte wieder abgeholt wird, setzt die Frau sie kurz auf Mellis Schoß. Die beiden schauen sich an. Mutter und Tochter. Melli wippt leicht mit den Knien. „Tschüss, Lotte.“ Kein Kuss. Dann ist Lotte weg, mit der Frau hinter der Tür verschwunden.

Endlich darf Melli raus, auch aus der Rolle

„Melli, wie fühlst du dich jetzt?“

„Ich bin müde, hab’ zu wenig geschlafen.“

„Und wegen Lotte? Wie geht es dir nach dem Treffen?“

„Hab’ mich dran gewöhnt. Mir bleibt ja nichts anderes übrig.“

Die Frau kommt zurück, ihre Augenbrauen formen einen Dachgiebel. Melli muss besser auf Hinweise achten, sie umsetzen. „Frau Schuster, Sie wollen doch auch, dass die Situation nicht so bleibt, wie sie ist?“ Melli nickt, so wie man nickt, wenn man Ärger für vergessene Hausaufgaben kriegt. Die Frau, die alles besser weiß, hebt hilflos die Hände.

Endlich darf Melli gehen, raus. Auch aus der Rolle. Erst mal durchatmen, Kippe an. Handy checken. „Wollen wir zu Burger King?“ Da ist sie auch mit Justin gerne hingegangen, als noch alles gut war zwischen ihnen, als diese Geschichte begann. Das ist lange her.

Kurz vor Silvester ahnte Melli etwas

Frühjahr 2016. Melli und Justin sitzen im Jugendclub. Sie sind oft hier. Heute sind sie ein bisschen aufgekratzt und machen die ganze Zeit Witze, die nicht jeder im Raum versteht. Melli ist 16, Justin 17. Melli ist ungeplant schwanger geworden. Sie freuen sich, vor allem über sich, über das Verliebtsein. Das mit dem Baby dauert ja. Melli – 1,59 Meter, blasslila gefärbte Haare, Rehaugen – ist im sechsten Monat. Sie sind jung, ihre Familien haben kaum Geld. Aber hier, auf dem quietschenden Kunstledersofa im Jugendclub, fühlt es sich gerade leicht an.

Wie lange die beiden zusammen sind, wissen sie genau. Ein Jahr, acht Monate, sechs Tage. Sie halten sich aneinander fest, als versuchten sie zwei Puzzleteile zu sein, deren Ränder perfekt ineinanderpassen. Sie legt ihre Füße auf seinen Beinen ab, er umfasst ihre Schultern. Das ist Liebe. Oder? Es muss so sein. Sie wissen ja genau, wann es anfing.

Und dann fing das andere an. Kurz vor Silvester, kurz vor ihrem Geburtstag, beginnt Melli, etwas zu ahnen. Sie und Justin hatten nicht aufgepasst. Sie merkt, dass sie sich verändert. Etwa zwei Monate lang sagt sie nichts. Warum? Auf schwierige Fragen antwortet Melli mit einem Schulterzucken, dann dreht sie mit den Fingern an ihrem Nasenpiercing.

Melli geht nicht mehr zur Schule, da lief es ohnehin nicht so besonders, sie war genervt von den anderen in ihrer Klasse. Als sie Justin endlich erzählte, dass sie schwanger ist, musste er mit zum Direktor, allein wagte sie es nicht. Sie hatte Angst vor ihren Mitschülern. Dass die lästern und blöd gucken, das traute sie ihnen zu. „Die Leute in der Schule denken jetzt, dass ich ein Praktikum mache.“ Das Praktikum soll mal Lotte Vanessa Schuster heißen. Sie lacht.

Drei Monate vor der Geburt - und die Skinny Jeans passen

Melli darf also zu Hause bleiben – das heißt: in der betreuten WG. Mit Mama gab es nur Stress, da ist sie schon vor einiger Zeit raus. Ist besser so, sagt Melli.

Ansonsten sagt sie nicht viel. Muss sie auch nicht, Justin antwortet gern für sie. Reden kann er gut. Über die Musik, die er macht, oder darüber, dass er anderen aus dem Jugendclub hilft, ihre Fahrräder zu reparieren. Und über Mellis Ernährung. Er hat viel gelesen, mehr als Melli. Justin erklärt, dass Käse, Wurst, bestimmte Sorten, jetzt eben nicht gehen. Melli schaut ihn belustigt an. Sein Gesicht mit der feinporigen Kinderhaut, das bisschen Babyspeck an den Wangen, die braunen Haare, ein Cap obendrauf. Sie mag ihn.

Melli hingegen ist jetzt, drei Monate vor der Geburt, immer noch gänzlich frei von Speck. Es scheint, ihr Körper tüftele das alles im Geheimen aus. Die Mädchenbeine ragen wie Äste aus ihrem Körper, die Skinny Jeans passen. Nur die weiße Daunenweste ist vorn ein wenig ausgebeult.

Der Bauch kommt, unausweichlich. „Meine Freunde“, erzählt Melli im Juli 2016, „finden, ich habe so einen Schwangerengang. Aber ich finde, ich gehe ganz normal.“ Ihr Körper – ein wichtiges Thema. Die Sonnenallergie vor allem, das Kratzen an den Beinen, der Wunsch nach mehr Piercings. Die schon immer kaputte, schmerzende Hüfte. Ihr schwaches Herz. Der große Bauch aber, der geht weg, das kümmert sie nicht.

"Ich hab Angst, was falsch zu machen."

Melli fühlt sich ungerecht behandelt - von der Frau beim begleiteten Umgang und von Justin.
Melli fühlt sich ungerecht behandelt - von der Frau beim begleiteten Umgang und von Justin.

© Illustration: Birgit Lang

Mellis dünne Beine tragen diesen Bauch durch die Hochsommerhitze, rüber zum Burger King, auch so eine Art Jugendclub. Sie und Justin bestellen Hähnchennuggets, Pommes, Cola. Melli zieht dicken Milchshake durch den Strohhalm.

Wasser in den Beinen: Kennt sie nicht. Sodbrennen, Schlafstörungen? „Hmm, eigentlich nicht. Mir geht’s gut“, sagt Melli. „Als ob ich immer ein bisschen viel gegessen hätte.“ Es reicht jetzt trotzdem bald mal mit dem Schwangersein, findet sie. Sind sie und Justin allein, dann sagt er: „Drei schöne Kugeln.“

Wenn Melli zwischen den beigefarbenen und hellgrauen Wohnblöcken entlangläuft, zwischen Basketballplatz und Tram-Haltestelle, dann zündet sie sich manchmal eine Zigarette an. Drei Stück am Tag, das ist die erlaubte Dosis, sagt sie. Justin, der alles kontrolliert, nickt. Er zieht die Packung aus seiner Tasche und zählt ab. Ja, eine geht noch. Melli verdreht die Augen, doch sie grinst dabei. Ist auch schön, wenn sich jemand kümmert. Melli und Justin sind ein Team.

Aber die Leute, echt ein Problem. Sie gucken komisch, glotzen auf den Bauch und auf die Zigarette. Was wissen die schon? „Meine Ärztin sagt, das ist in meinem Fall besser als ganz aufzuhören.“ Vor der Schwangerschaft hat Melli viel geraucht, bestimmt eine Packung am Tag. Als aus der Ahnung eine Gewissheit wird, dass da etwas in ihr wächst, das mal einen Namen haben wird, ist es zu spät, ganz aufzuhören. Ihre Ärztin erklärt, der komplette Entzug wäre zu anstrengend für sie und das Baby. Sollen die Leute halt schauen. „Also, hast du mal ein Feuer?“

Wieder bei Mama einziehen? Kommt nicht infrage

Würde Melli woanders leben, wäre diese Geschichte vielleicht ganz anders verlaufen. Schwangere Mädchen unter 18, sagt eine Beraterin von Pro Familia, gibt es in allen Berliner Bezirken. Arm oder reich, egal. Aber in Zehlendorf kommen die Babys nicht auf die Welt.

Melli lebt nicht in Zehlendorf, und abtreiben kam für sie nicht eine Sekunde infrage. Hast du nicht mal darüber nachgedacht? Sie dreht das Nasenpiercing zwischen ihren Fingern.

Reden. Das, was da gerade passiert, in Worte fassen. Nicht einfach. Obwohl sie gern will.

Ein paar Tage später piept das Handy. Melli.

„Könntest du mir nicht ein paar Fragen über WhatsApp stellen? Das ist leichter für mich.“

„Klar. Wie geht’s dir?“

„Ich hab’ Wehen, am Geburtstag von Justins Mutter.“

„Geht’s los?“

„Nein, erst, wenn sie alle zehn Minuten kommen. Ich glaub, noch ’ne Woche. Sie kann sich Zeit lassen.“

„Obwohl du ja meintest, du hast keinen Bock mehr.“

„Ich hab Angst, was falsch zu machen.“

„Was denn?“

„Keine Ahnung.“

Und dann später doch: Melli sagt, sie habe Angst vor der Zeit nach der Geburt. Dass die Betreuer im Mutter-Kind-Heim oft eingreifen müssen. Aber wieder bei Mama einziehen? Kommt nicht infrage. Bevormundet werden ist das Letzte, was Melli will.

"Wusstest du, dass Babys ihre eigene Pisse trinken?"

Meistens, in diesen Tagen vor der Geburt, ist sie zuversichtlich, sie werde das schon alles hinkriegen. Sie ist keine von diesen Mamas, die alles aufsaugen, was sie zum Thema Schwangerschaft in Onlineforen und in Büchern finden können. Keine von diesen Babykursbesucherinnen, Schwangeren-Yoganistas, autodidaktischen Laktationsexpertinnen. Hier und da schnappt Melli etwas auf. „Wusstest du, dass Babys vom Fruchtwasser trinken? Ihre eigene Pisse.“

„Melli, was meint die Ärztin, wenn sie sagt, es läuft noch nicht alles optimal bei dir?“

„Keine Ahnung.“

„Warum hat das Baby im Bauch vielleicht aufgehört zu wachsen?“

„Da fragst du die Falsche, ich verstehe bei der Ärztin nur Bahnhof.“

Mellis große Schwester ist ebenfalls jung schwanger geworden. Ihre Mutter hat sich darüber nicht gefreut. Irgendwann war die Schwester weg, mitsamt dem Kind. Auch Mellis Papa fehlt. Wo ist er jetzt? Melli sagt nichts, scrollt durch ihre WhatsApp-Nachrichten.

Pärchen-Selfies, Liebesbriefe und Streitereien

Ende Juli schickt Melli ein Handyfoto. Mit einer App hat sie eine pinkfarbene Schleife über das Bild gelegt, dort, wo sonst der BH zu sehen wäre. Ihr Bauch gleicht einem überdimensionalen Hühnerei, auf dem sich feine dunkle Risse abzeichnen. „Die gehen bis runter zu den Beinen.“ Es stört sie nicht, sagt sie.

Was sie stört: Justin schafft es nicht, sich einen Job zu besorgen. Die Eisdiele im Center, bei der er anfangen wollte, hat er nicht gefunden, das Vorstellungsgespräch verpasst. So eine Eisdiele in einem Einkaufscenter, die findet man doch? Er ist einfach faul, sagt Melli, wenn er es richtig gewollt hätte, hätte er es weiter versucht. Hilfst du ihm ein bisschen? „Ist nicht mein Bier.“

Streiten, irre verknallt sein, sich anmotzen, immer aufeinanderglucken. Der Ausnahmezustand ist der Normalzustand. Die beiden schießen Pärchen-Selfies, vor dem Spiegel, auf dem Sofa, er steht hinter ihr, sie macht einen Kussmund. Auf einem Schwarz-Weiß-Foto hält Justin Mellis Bauch. Er ist so verliebt. Die Zimmerwand, die ihm gehört, hat er mit Briefen von Melli tapeziert. Sie schreibt „Schatz“ und malt drum herum Herzen. Die andere Wand gehört Justins Schwester. Die Wohnung seiner Mutter ist klein. Kein Platz für ein Baby, auch nicht für ein sehr winziges.

Als die Fruchtblase platzt, ist Justin dabei

In der 40. Schwangerschaftswoche revidiert die Ärztin ihre Schätzung, dass das Mädchen nicht altersgemäß gewachsen ist – 52 Zentimeter, fast 3200 Gramm. Alles normal. Melli freut sich. Sie ist gerade aus der WG ins Mutter-Kind-Heim umgezogen. In den letzten Tagen, bevor Lotte kommt, darf Justin ausnahmsweise auch hier wohnen. Melli erhält jetzt 64 Euro Taschengeld, mit denen sie machen kann, was sie will. Dazu gibt es kleine Beträge für Hygieneartikel, Kleidung, Lebensmittel. Erwachsensein light. Irgendwann, sagt Melli, hätte sie gern eine eigene Wohnung.

Als die Fruchtblase platzt, am 5. August 2016, ist Justin dabei. Alles geht so schnell. 38 Minuten Presswehen. Gegen Ende verliert Melli das Bewusstsein. Eine Stunde später schickt Justin ein Handyfoto. Da ist sie.

Kein süßes Duckface auf Mellis Gesicht. Kein austarierter Winkel, keine fancy Filter. Die Linse ist ganz nah dran, an diesem grellroten Bündel, das behandschuhte Hände gerade auf Mellis Brust legen. Zwei angestrengte Schlitze, wo die Augen sind, ein schreiender Mund. Und Mellis Hand, vorsichtig über dem Kind, sie berührt es nicht ganz. Aus ihrem Handrücken hängt eine Kanüle. Später wird sie sagen, dass sie sich an nichts erinnern kann. Das Foto ist völlig verwackelt. Hat Justin gezittert?

Manchmal zuckt Lotte, ein Krampf schüttelt sie

In den Tagen danach kommen weitere Fotos: Lotte mit herausgestreckter Zunge. Ganz die Mama, meint Justin. Lotte auf Mellis Bauch, Lotte auf Justins Bauch. Melli ist schwach, kann in den ersten drei Tagen kaum aufstehen, Lotte nicht selbst aus dem Beistellbettchen nehmen. Sie ist jetzt nicht mehr nur Melli, sie ist Mama. Daran muss sie sich gewöhnen, aber es geht schnell. Lotte macht es ihr leicht, sie schläft viel, schreit kaum.

Melli und Justin schieben bald den Kinderwagen vom Mutter-Kind-Heim rüber zum Supermarkt. Eines der anderen Mädchen aus dem Heim hat ein nagelneues Modell, schlichtes Design, die Bremse lässt sich leicht wieder lösen. Melli kann über ihren Kinderwagen nichts Gutes sagen, die Bremse klemmt. Immerhin hat er nichts gekostet, ein gebrauchtes Modell, geschenkt.

Im Heim belegen Melli und Lotte zwei Zimmer, die miteinander verbunden sind. Lotte liegt oft auf Mellis Bett und schläft fast rund um die Uhr. Manchmal zuckt sie, ein Krampf schüttelt ihren Körper. Das geht vorbei, sagt Justin, während er nach Windeln sucht. Das ist der Nikotinentzug.

Verliert Melli das Umgangsrecht?

Vor dem Familienrichter, sagt Melli, redet Justin schlecht über sie. Was wird nun aus ihrem Sorgerecht?
Vor dem Familienrichter, sagt Melli, redet Justin schlecht über sie. Was wird nun aus ihrem Sorgerecht?

© Doris Spiekermann-Klaas

Und es geht vorbei. Lotte isst, bekommt ein rundes Babygesicht mit vollen Lippen. Melli nennt sie Rollmops. Der Rollmops wird das liebste Fotomotiv seiner Eltern. Mehrfach täglich stellen Melli und Justin neue Profilbilder bei WhatsApp ein. Babycontent.

Was man nicht sieht: Wie Justin und Melli einander verlieren. „Sie lässt sich bedienen, alles muss ich für sie machen“, sagt Justin. Melli sagt: So bin ich halt. „Und wir streiten oft“, erzählt Justin. „Hää, wir streiten nicht. Wir diskutieren“, sagt Melli.

Als der Herbst kommt, geht alles kaputt. Die Betreuerinnen im Mutter-Kind-Heim erscheinen Melli wie Aufseherinnen. Du musst das so und so machen, du darfst das nicht machen, und erst recht nicht das. Melli flippt aus und fliegt raus. Was genau passiert ist, will sie nicht sagen. Sie zieht wieder zu ihrer Mutter. Und Lotte kommt zu Justin.

Melli ist allein, Justin erziehend

Melli meldet sich nicht mehr. Bis zum Frühsommer 2017, da verrät sie den neuen Status: Melli ist allein, Justin ist erziehend. Lotte lebt jetzt dauerhaft bei ihm. Er ist volljährig und hat eine eigene kleine Wohnung in einer betreuten Einrichtung ganz in der Nähe. Besuch möchte er nicht. Melli lebt mit ihrem Zwillingsbruder wieder bei der Mutter, sie ist einverstanden mit Besuch. Nur von Justin will sie nichts mehr wissen. Der hat schon eine neue Freundin. Luisa. Und die Alte ist echt völlig irre.

Melli ist inzwischen 17, die Zahnspange ist weg, dafür hat sie ein neues Nasenpiercing. Mit der Schule hat sie es noch mal probiert, aber für die spezielle Förderklasse musste sie weit fahren und sehr früh aufstehen. Jetzt sucht das Amt nach einer neuen Förderklasse.

Willst du das, Melli? Schulterzucken.

Ihre Mutter und ihr Bruder mögen Fleisch, sie steht gern für die beiden in der Küche. Dort türmt sich an diesem Tag der Abwasch, hier hat länger niemand mehr durchgewischt. Im Flur haben die Katzen die Tapete zerkratzt, in den Zimmern stapeln sich Stühle, Klamotten, Kassenbelege. Es riecht nach Zigaretten und nach Katzenklo.

Melli legt ein paar Handtücher zusammen, lässt sich auf den Küchenstuhl fallen und bröselt Tabak in eine Drehmaschine. Ratsch, ratsch, eine Zigarette. Ratsch, ratsch, noch eine. Sie raucht jetzt wieder richtig. Mit der einen Hand lässt sie einen Fidget Spinner rotieren. Mit der anderen gießt sie sich ein Glas Erdbeerbowle ein, die Sorte, die man unten im Supermarkt kriegt. Ihre Mutter trinkt Bier. Leere Flaschen stehen herum wie Nippesfigürchen. Auf der Kommode: ein Foto von Lotte, ganz winzig ist sie darauf.

Daneben, in einem größeren Rahmen, ein Foto aus den ersten Tagen, dazu die Ultraschallbilder, das kleine Shirt, das es zur Begrüßung im Krankenhaus gab und ein Foto von Mellis Bauch, mit roter und weißer Farbe bemalt. Jemand hat „Kinderüberraschung“ in bunten Buchstaben auf die Haut geschrieben. Gibt es mehr Bilder von Lotte hier? Auf dem Handy sind ganz viele, sagt Melli und legt weiter Handtücher zusammen.

Sie träumt davon wegzugehen, weg aus Berlin

Dass sie nicht mehr auf ihre Tochter aufpassen muss, hat auch Vorteile, erklärt Melli ein anderes Mal, als sie nach dem betreuten Mamasein bei Burger King sitzt. „Mehr Zeit für mich.“ Es ist Sommer 2017, Lotte wird bald ein Jahr alt. Melli unternimmt viel mit Luisa, die nicht mehr mit Justin zusammen ist. Der Typ kann ihnen gestohlen bleiben. Luisa hat auch ein Kind, das beim Vater lebt. So was schweißt zusammen.

Melli hat viele Termine, Melli ist beschäftigt. Beim Jugendamt, mal wegen Lotte, mal wegen sich selbst. Oder beim Psychologen. „Ich vergesse oft zu essen“, sagt sie. Und während Melli immer weniger wird, wird Lotte immer größer. Die blauen Augen behält sie.

Auch die Probleme beim Umgang bleiben. Die Betreuerin und Melli, das wird nichts mehr. Und irgendwie gibt Melli auch ein bisschen auf, was soll sie machen? Sie träumt davon, wegzugehen, nach Zwickau. Warum Zwickau? „Es ist klein, überschaubar“, sagt Melli. Hauptsache weg aus Berlin. Das hieße auch: weg von Lotte. Weg von der Tochter, die jetzt schon läuft und spricht und ständig etwas Neues kann. Die weiterhin bei Justin lebt. Bald wird sie ihr zweites Weihnachten feiern.

Melli steigt mit raspelkurzen, straßenköterblonden Haaren aus der Ringbahn. Sie streicht sich über den Kopf und lacht. Das ist letztens passiert, mit einer Freundin, einfach so, weil sie Lust hatten. Melli wirkt jetzt noch zerbrechlicher, als wäre sie geschrumpft. So weit im Zentrum wie an diesem Tag ist sie sonst selten, sie tippelt etwas orientierungslos über den Bahnsteig. Eigentlich sollte sie heute arbeiten, bei einer Art Schnuppermaßnahme für Jugendliche wie sie. Ohne Schulabschluss, ohne Arbeit. „Wir hängen eigentlich nur herum.“ Es interessiere niemanden, was sie dort trieben.

Was würdest du gern machen? „Es klingt vielleicht komisch, aber ich möchte eine Ausbildung als Putzkraft machen. Ich kann wirklich gut putzen.“

"Mir ging's nicht gut, also psychisch"

Geld verdient sie momentan keines. Sie bringt die Flaschen weg, die sich zu Hause bei ihrer Mutter ansammeln. Es ist nicht viel, was dabei rumkommt, aber manchmal gönnt sie sich was. Bald vielleicht ein neues Piercing. Und zum 18. Geburtstag ein Tattoo. Melli fährt mit einem Finger über unsichtbare Linien auf ihrem Arm. Eine Katze soll dabei sein und Symbole für die Menschen, die sie geliebt hat und die nicht mehr da sind. Auf jeden Fall eine Brille für Oma Lotte.

Nach der Oma Lotte ist auch das Baby Lotte benannt, Melli hat sie sehr gemocht. Sie ist gerade erst gestorben, und Melli hat das Bett geerbt, ihres war sowieso kaputt. Die Matratze riecht noch nach der Oma, aber das vergeht. „Darum schlafe ich im Moment auf dem Sofa.“ An einem Morgen schläft Melli zu lange. Als sie bei den Leuten von der Ausbildungsmaßnahme für Jugendliche anruft, um sich zu entschuldigen, sagt man ihr, dass sie gar nicht mehr wiederzukommen brauche.

Solche Vorfälle häufen sich. Letztens ist Melli nicht zum Umgang erschienen. „Mir ging’s nicht gut, also psychisch.“ Weil sie weniger als 24 Stunden vorher Bescheid gesagt hat, gab es Ärger. Auch Justin war wütend. Er schrieb ihr Nachrichten: „Kommst du wenigstens morgen?“ Melli stöhnt, wenn sie davon erzählt. Justin redet schlecht über sie, sagt sie, auch letztens vor dem Familienrichter. Dabei sei es Justin, der sich nicht ordentlich um die Kleine kümmert, der sie nicht genügend wäscht und der sich beim Aufräumen in seiner kleinen betreuten Wohnung von seiner Mutter helfen lässt, wenn Zimmerkontrollen anstehen.

Aber auch die Leute vom Jugendamt glauben, dass Melli ihre Rolle als Mutter nicht erfüllt, dass sie sich nicht wirklich um Lotte schert. Zum Jahresende soll die Entscheidung fallen: Melli könnte das Sorgerecht verlieren, das sie sich bislang mit dem Jugendamt und Justin teilt. Dann, erklärt Melli, sei auch ihr Umgangsrecht in Gefahr. Sie scheint nicht verzweifelt, eher matt.

Sie zuckt mit den Schultern.

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