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Die letzten Äpfel einer Ära. Im „Löffelhäusle“, so nannten die Hofsgrunder ihr Lebensmittelgeschäft, versorgt Marion Lorenz ein letztes Mal einen Kunden mit Obst.

© Marius Buhl

Strukturwandel auf dem Land: Frau Lorenz schließt ab

97 Jahre lang verkaufte Familie Lorenz in einem Schwarzwälder Dorf Brot und Karotten. Nun macht ihr Laden zu – wie Tausende andere im Land.

Klar ist heute alles anders. Aber Marion Lorenz beginnt auch den letzten Tag ihres alten Lebens wie beinahe jeden in den vergangenen 15 Jahren. Aufstehen, im Schlafanzug über die Straße tapsen, im Dorfladen Milch und Käse zum Frühstücken holen, Geld in die Kasse werfen, zurück ins Wohnhaus, umziehen. Dann, um kurz nach acht, wieder rüber in den Laden, Schlüssel ins Schloss, los geht’s.

Sie drückt auf den Lichtschalter, flackernd springen die Lampen an und scheinen gnadenlos auf die Restposten: Kekse, Glühbirnen, Schulhefte, Schaumfestiger, Wurst, Scheuermilch. Frau Lorenz legt die „Bild“ auf den Tresen. Titel: „Elektriker erwürgt sich in Porno-Raumschiff“. Sie schüttelt den Kopf, geht zu ihrem Kalender, blättert um. Ab morgen wird sie das nicht mehr tun. Frau Lorenz schließt den Laden. Für immer. Sie sagt, das sei okay so, nur glänzen ihre Augen dabei.

Lorenz’ Laden liegt in einer Talsenke im Südschwarzwald, im Ort Hofsgrund, 1000 Meter hoch, aus Freiburg schwebt eine Seilbahn hinauf. Knapp 600 Menschen leben hier, die Zahl ist seit Jahren stabil, die Bewohner treffen sich im Dorfrestaurant, in der Kirche, am Badesee, beim Bergfest des Skivereins. Den Hofsgrundern geht es gut, sie leben im reichen Baden-Württemberg, nur vier Prozent der Wahlberechtigten entschieden sich bei der Bundestagswahl für die AfD. Und doch findet auch hier statt, was überall in Deutschland stattfindet. Wissenschaftler nennen es Strukturwandel.

Vor 30 Jahren gab es in Hofsgrund eine Tankstelle, eine Grundschule, mehrere Cafés, ein Hotel, einen Schuhmacher und die Post. Einmal die Woche öffnete sogar die Bank, die Bankkauffrau verteilte Bonbons an die Dorfkinder. Übrig blieben die Bäckerei und der Dorfladen.

Eine Ära geht zu Ende

Lebensmittel Lorenz, so steht es draußen auf dem verwitterten Schild an der Straße. „Löffelhäusle“, so sagten die, die dort einkauften, warum, weiß keiner mehr. In drei Jahren wäre der Laden 100 Jahre alt geworden. Frau Lorenz hat ihn von der Schwiegermutter übernommen, sie selbst kommt aus dem Nachbardorf, was die Kunden am Dialekt hörten, ihr aber nie krummnahmen. Sie streift durch den Laden, vorbei an Regalgerippen und einem Plakat, das sie aufgehängt hat. Dort steht: „Eine Ära geht zu Ende ...“ Dann: „Ich danke Ihnen für das jahrelange Vertrauen.“ Sie weiß selbst, dass das schon länger nicht mehr stimmt.

„Erst war es nur eine Ahnung“, sagt Lorenz, rote Wangen, brüchige Stimme. „Das ist schon Jahre her. Weniger fremde Gesichter im Laden, weniger Urlauber.“ Aber bald kamen auch die nicht mehr, die stets gekommen waren. Immer seltener stand in den Abrechnungen am Monatsende ein Plus, dafür öfter ein Minus.

Sie schaffte das Radio im Laden ab, um sich die Gebühren zu sparen. Als die Kühltruhe den Geist aufgab, kaufte sie keine neue, stattdessen schrieb sie ein Schild: „Kühltruhe LEIDER defekt.“ Als sie eine neue Kasse hätte anschaffen sollen – modernes Buchungssystem, 3000 Euro – und das Geld nicht hatte, wusste sie, dass sich das Ende näherte. „Nachts lag ich wach und ging jedes Haus in Hofsgrund durch“, sagt sie. Wer kam noch? Auf wen konnte sie sich verlassen?

Die Zahl der Lebensmittelläden ist dramatisch zurückgegangen

Lorenz überlegte sich ein Experiment. Während zweier Wochen, in denen ihre Konkurrenz, die Bäckerei, geschlossen hatte, wollte sie ihrem Laden den Puls fühlen. „Hätte es einen Boom gegeben, hätte ich weitergemacht“, sagt sie. Es kamen so viele wie immer, vielleicht zehn Leute am Tag, dieselben Unbeirrbaren. Kein Boom. Eher kritisch niedriger Puls.

Wissenschaftler des Bundesforschungsinstituts für ländliche Räume ermittelten in einer Studie, dass Kaufleuten um das Jahr 2000 noch 3500 Einwohner reichten, um Filialen profitabel zu betreiben. Heute seien Dörfer mit weniger als 5000 Einwohnern uninteressant. „Immer mehr Verbraucher kaufen nicht an ihrem Wohnort ein, selbst wenn ein Angebot vorhanden ist“, schreiben die Forscher. Grund seien „die erhöhte Mobilität und das Preisbewusstsein der Konsumenten“.

Wenn Frau Lorenz ihren Laden verlässt, 20 Meter zur Hauptstraße geht, dann kann sie sie sehen, die Konsumenten. Sie rauschen in ihren Autos an ihr vorbei in die größeren Orte, zu Aldi, Lidl, Real, Rewe, Edeka und Penny. „Die sind billiger als ich und haben mehr Auswahl“, sagt Lorenz. „Bei denen läuft auch nix ab. Ich hab am Ende immer nur weggeschmissen.“

Oft habe sie sich gefragt, ob es an ihr liege, am Konzept, an ihren Produkten, sagt Lorenz. Die Zahlen sagen etwas anderes, das beruhigt sie ein bisschen. 35 000 Läden verzeichnete der deutsche Lebensmittelhandel 2017, 1966 waren es noch 150 000. Auf eine Anfrage der Grünen teilte die Bundesregierung schon 2013 mit, dass in Deutschland nur noch jeder Dritte der 44 Millionen Landbewohner einen Supermarkt zu Fuß erreichen kann.

Die alten Frauen waren ihre Lebensversicherung

Teuflischer Gemüsekreis. Weil kaum jemand Kartoffeln und Lauch kaufte, schimmelten die Waren. Die Kunden, die noch kamen, beschwerten sich.
Teuflischer Gemüsekreis. Weil kaum jemand Kartoffeln und Lauch kaufte, schimmelten die Waren. Die Kunden, die noch kamen, beschwerten sich.

© Marius Buhl

In Lorenz’ Laden, gleich hinterm Eingang, steht ein schwarzer Klappstuhl. Sie hat es noch nicht geschafft, ihn wegzuräumen. „Der Stuhl war für Frida“, sagt sie. Frida kam jeden Tag knapp vor Ladenschluss. Sie kaufte Brot, Butter, Käse, dann setzte sie sich auf den Stuhl und wartete, bis Frau Lorenz die Kasse abschloss und sie mit dem Auto nach Hause fuhr. „Meistens sagte sie, ich solle mich noch zu ihr setzen. Dann erzählte sie mir aus ihrem Leben“, sagt Lorenz. „Ich habe oft überlegt, ob ich neben das Ladenschild noch ein zweites hängen soll: Psychiater. Aber die Gespräche taten auch mir gut.“

Die alten Frauen waren Lorenz’ Lebensversicherung. Sie kamen zuverlässig wie der Milchabholwagen zu den umliegenden Bauernhöfen. „Ich mochte sie alle“, sagt Marion Lorenz, „aber ich wusste nie, ob ich sie duzen oder siezen soll.“ Einmal druckste sie herum, vermied die direkte Ansprache. Da sagte eine Bäuerin, weit älter als 80: „Wir sind hier über 1000 Meter, da sagt man du zueinander!“

Sie hat sich diese Sätze gemerkt, kann Dutzende dieser Anekdoten aufsagen, Lorenz endet dann immer mit denselben Worten: „Das ist halt der Lauf der Zeit.“ Der Satz ist nicht nur als Entschuldigung gemeint, sondern auch als traurige Reminiszenz an ein Früher, das es nicht mehr gibt.

„Früher kickten die Jugendlichen auf dem Bolzplatz gegenüber. In den Pausen kauften sie saure Zungen. Heute kickt da niemand mehr“, sagt Lorenz. Früher kamen auch die Jugendlichen vom Landschulheim und wollten Bier. Wenn jemand dringend etwas brauchte, konnte er selbst sonntags bei ihr klingeln. Natürlich ließ sie Stammkunden anschreiben. Am meisten vermisst sie die Kinder am ersten Schultag. Die kamen mit handgeschriebenen Zetteln: drei Hefte, vier Stifte, ein Collegeblock. „In diesem Jahr kam kein einziges.“

Um 13.07 Uhr kommt der allerletzte Kunde

An ihrem letzten Arbeitstag hat Frau Lorenz ein kleines Buffet aufgebaut. Für treue Kunden. Es gibt Sekt, Süßigkeiten, Cracker. Die Kunden sagen, dass sie traurig seien, aber dass sie den Schritt verstehen könnten. Sie stecken Garn und Schuhcreme ein, eine Frau kauft ein Dutzend Fliegenfänger. „Fliegen hat’s auch, wenn du zu hast, Marion“, sagt sie.

Lorenz weiß noch nicht, was sie jetzt machen möchte. Zuerst pflegt sie ihre kranke Schwiegermutter, kümmert sich um die Abwicklung des Geschäfts. Und dann? Sie ist 56, braucht bald einen neuen Job. Was mit Menschen, das wäre gut, am besten mit alten. Sie hat geübt.

Einer der letzten Kunden heute ist Herr Berndt. „Was haben Sie noch, was zum Feldsalat passt?“, fragt Berndt. „Sie könnten von der Landjäger reinschneiden“, sagt Lorenz. „Schmeckt das?“ – „Bestimmt, Herr Berndt. Wie geht’s eigentlich Ihrer Frau?“

Um 12.54 Uhr geht die letzte Dose Mais über den Tresen, um 13.07 Uhr kommt der allerletzte Kunde ins Geschäft. Er wohnt im Dorf, wusste aber nicht, dass der Laden schließt.

Er geht durch die leer geräumten Gänge, die Kunden mit Sektglas rufen ihm angeheitert zu, was er noch kaufen könnte: „Nimm Müsli mit! Hol noch Bier! Wollsocken!“ Er kauft viel mehr, als er eigentlich wollte, dann verlässt er eilig den Laden. „Schluss jetzt“, sagt Frau Lorenz. Sie geht zum Kühlregal und zieht den Stecker. Plötzlich ist es still im Laden.

Ein Summen, das kaum noch jemand vernommen hatte, verstummt.

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