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Impresaria. 1980 gründete Irene Moessinger das Tempodrom am Potsdamer Platz.

© Stefan Nowak

Stadtrundgang mit Irene Moessinger: Zeltbürgerin: Die Frau, die das Berliner Tempodrom erfand

Sie holte Tom Waits und den Dalai Lama in ihr Tempodrom. Irene Moessinger über Campen im Tiergarten, West-Berliner Hausbesetzer und Singen im Knast.

Von Barbara Nolte

An diesem heißen Morgen Anfang August schieben sich die Autos in vier Spuren über den Potsdamer Platz. Schwer vorstellbar, aber Irene Moessinger hat hier mal auf einem Zeltplatz gelebt und Tiere gehalten. Auf der einst verkehrsreichsten Kreuzung Europas streiften Pferde, Schweine und ein Elefant umher. 1980 war das. Jim Rakete machte damals ein Foto von Moessinger. Es zeigt eine junge Frau mit langen Haaren, die rauchend am gedeckten Campingtisch in einer Wüstenlandschaft sitzt. Im Hintergrund ragt die Staatsbibliothek empor.

Mittlerweile ist Irene Moessinger – kurze Haare, dunkle Stimme – Ende 60 und begeisterte Großmutter, die immer noch etwas Verwegenes ausstrahlt. „War schön damals: archaisch und anarchisch zugleich“, sagt sie. „Wenn es heiß war, fegte der Wind den Sand über die Brache, und wenn es regnete, war der Platz eine einzige Pfütze.“

Mit geschultertem Rucksack klettert sie jetzt die steile Treppe zum erhobenen Rasenstreifen empor, der den Potsdamer Platz an seiner Ostseite begrenzt. Ungefähr hier, sagt sie, habe ihr Zirkuszelt gestanden, das sie mit Kulturveranstaltungen bespielte: das Tempodrom. Gleich daneben wohnte sie mit ihrer fünfjährigen Tochter im Bauwagen. Nach vier Jahren musste die Tempodrom-Belegschaft mit ihrem Vieh umziehen: neben die Kongresshalle, ungefähr dorthin, wo das Kanzleramt heute steht. „Auch toll. Ich kam überall mit dem Fahrrad hin“, sagt Moessinger. Und ihre Tochter konnte mit dem Pferd und dem Esel, die sie dort hielten, im Tiergarten ausreiten.

Das Tempodrom hat ihr schwere Jahre beschert

Wildes Campen West-Berlin. 1998 war Schluss. Irene Moessinger lebt jetzt im Umland. Wo, sagt sie nicht. Sie arbeitet dort als Reittherapeutin. Außerdem hat sie ihre Autobiografie geschrieben, die jetzt bei Galiani unter dem Titel „Berlin liegt am Meer“ erschienen ist. Ein detailreiches, reflektiertes Buch, lesenswert auch als Geschichte der letzten beiden Jahrzehnte der Mauerstadt, wo Moessinger zu den prägenden Figuren der linken Szene gehörte. Sie war Hausbesetzerin, bei Plattenaufnahmen von Ton Steine Scherben sang sie die Refrains mit. Von einer Erbschaft kaufte sie sich 1980 das Zirkuszelt, das sie zu einem der profiliertesten Veranstaltungsorte der Stadt machte: Johnny Cash, Bob Dylan oder Nick Cave traten im Tempodrom auf, und Berlins Subkulturszene traf sich dort zu ihren legendären Festivals wie beispielsweise dem „Geniale Dilettanten – Bild und Ton im Tempodrom“.

Der Potsdamer Platz ist eine von vier Stationen auf einem Rundgang, zu dem man sich mit ihr verabredet hat. Er führt durch ihr West-Berlin, eine verschwundene Welt. Endpunkt ist das Tempodrom, das heute steinern etwas weiter südlich am Anhalter Bahnhof steht und Moessinger schwere Jahre beschert hat: Der Bau wurde um 16 Millionen Euro teurer als zunächst veranschlagt. Es folgten ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, ein Ermittlungsverfahren und schließlich sogar ein Prozess wegen Veruntreuung gegen sie und ihren Ex-Freund Norbert Waehl, der mit „einem Freispruch erster Klasse“ endete, wie der Richter es damals ausdrückte.

„Sie werden verstehen, dass ich noch ein bisschen traumatisiert bin“, sagt Moessinger lachend, während sie am Potsdamer Platz die Treppe von der Wiese zurück zur Straße hinunterklettert. Deshalb die Geheimniskrämerei um ihren Wohnort. „Auf dem Land fand ich damals meine Zuflucht.“

„Bullenschweine, zieht doch Leine“

Mit dem Auto geht es zum Paul-Lincke-Ufer. Als Irene Moessinger im Frühjahr 1971 von München nach Berlin gezogen war, kam sie auf der gegenüberliegenden Seite des Landwehrkanals in der WG eines Bekannten aus Süddeutschland unter. Vom Fenster in der Graefestraße aus, sagt sie, beobachtete sie die über dem Landwehrkanal kreisenden Möwen. Dabei sei es ihr so vorgekommen, als liege Berlin am Meer.

Ihr Bekannter hatte sich den Autonomen angeschlossen. Sie ging zu den Treffen mit. Erst drei Monate in der Stadt, erlebte sie, was Hausbesetzer-Romantik bedeutete. Ein leer stehendes Fabrikgebäude in einem Hinterhof am Mariannenplatz war frisch besetzt worden, um ein Jugendzentrum draus zu machen. Moessinger und ein paar andere weißelten die Wände, als Sirenengeheul die Polizei ankündigte. Die Besetzer skandierten: „Bullenschweine, zieht doch Leine“. Die Polizisten steckten sie zu fünfzigst in eine Gemeinschaftszelle. Dort hockten sie auf dem Boden und sangen „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, gemeinsam mit den Musikern von Ton Steine Scherben, die ebenfalls inhaftiert waren. „Wir hatten solchen Spaß“, sagt Moessinger. „Damals war ich fast enttäuscht, als wir am nächsten Morgen ohne Erklärung wieder freigelassen wurden.“

Zehn Minuten sind es zu Fuß vom Paul-Lincke-Ufer zum Mariannenplatz, der heute Morgen fast verlassen daliegt. 80 000 Wohnungen standen in der Stadt leer, so hat Moessinger es für ihr Buch recherchiert. „Teilweise gehörten die Wohnungen Juden, die von den Nazis umgebracht worden waren. Berlins Wohnungsbaugesellschaften hatten nach Krieg und Mauerbau noch keinen genauen Überblick über ihren Bestand gewonnen“, sagt sie, während sie am Mariannenplatz den Gehsteig auf- und abläuft. Sie ist sich nicht mehr sicher, wo das Jugendzentrum war, was, wie sie glaubt, daran liegt, dass das Vorderhaus von damals nicht mehr steht. Sie überquert den Platz in Richtung Künstlerhaus Bethanien, damals ein gerade aufgegebenes Krankenhaus. Das dazugehörige Schwesternwohnheim hatten sie wenige Monate später besetzt: Das Georg-von-Rauch-Haus, benannt nach einem kurz zuvor von der Polizei erschossenen Mitglied der Bewegung 2. Juni, wurde gewissermaßen zur Zentrale der Hausbesetzerbewegung.

Dass Großprojekte teurer werden, passiert oft

Seit 2001 ist das Tempodrom am Anhalter Bahnhof zu finden. Irene Moessinger mag den umzäunten Sportplatz vor dem Eingang nicht.
Seit 2001 ist das Tempodrom am Anhalter Bahnhof zu finden. Irene Moessinger mag den umzäunten Sportplatz vor dem Eingang nicht.

© Kai-Uwe Heinrich

Zu Anfang teilte sie sich ein Zimmer mit ihrem Freund. „Mitunter schliefen wir auch auf Matratzenlagern. Uns ging es ums Gemeinschaftsgefühl“, sagt Moessinger. Arbeiten zu gehen, war Pflicht für alle im Rauch-Haus. „Wir brauchten Geld, denn wir wollten jugendliche Trebegänger aufnehmen – ohne Geld vom Senat.“ Gleichzeitig sollten in den Betrieben „die Arbeiter agitiert“ werden. Zu siebt ließen sie sich beim Bekleidungsfabrikanten Ertex am Moritzplatz anstellen. Moessinger strickte die Rollkragen an die Pullover. Ihre kleine Betriebsgruppe erkämpfte eine Raucherpause. „Das war nicht besonders revolutionär, das Verhältnis zu den anderen Arbeiterinnen war eher herzlich. Wir waren nur Frauen, und Sie wissen ja, wie das ist: Die Ideologen sind doch meistens die Männer.“

Dann machte sie die Erbschaft, die ihr Leben prägte. Erst war es ihr gar nicht recht. Besitz lehnte sie ab. „Der Druck war enorm groß, der Werktätigenklasse anzugehören“, sagt Moessinger. Nur war ihr Vater Manager, und die 800 000 Mark, die er ihr hinterließ, markierten diesen Klassenunterschied. Ihre Mutter war Aristokratin, entsprach aber nicht dem Klischee. Sie hatte sich von ihrem untreuen Ehemann getrennt und war mit ihren beiden Töchtern nach Torremolinos in Spanien ausgewandert, wo sie zu dritt ein kleines Häuschen bewohnten.

Trotz Erbe ließ sich Moessinger im Kreuzberger Urbankrankenhaus zur Krankenschwester ausbilden. Erst Jahre später, als sie einen Amerikaner kennenlernte, der bei einem Clownsfestival auftrat, kam sie auf die Idee mit dem Zirkus. Das Zelt kaufte sie dem Berliner Traditionsbetrieb Busch ab. Aufgebaut wurde es immer Ende März, abgebaut im November. „Die Resonanz war von Anfang an groß“, erzählt sie. „Mit der Geschichte ,Krankenschwester erbt Millionen und erfüllt sich einen Traum‘ konnte man immer Schlagzeilen machen.“

Das Geld reichte nicht, sie waren insolvent

Heute, sagt Moessinger, würde man das Tempodrom ein Schwarmprojekt nennen. Monika Doering, die die Konzertbühne Loft betrieb, holte beispielsweise die Punkbands ins Zelt. Moessinger selbst organisierte das Revue- und Theaterprogramm. Und beim nachmittäglichen Kinderzirkus trat sie im Glitzerkleid als Minnie Maus mit einem dressierten Schwein auf. Abends war ihr Stammsitzplatz auf dem Kühlschrank in der Zeltbar.

Nicht weit vom Mariannenplatz fährt der M29er zum Anhalter Bahnhof, seit 17 Jahren Standort des Tempodroms. Dabei kommt der Bus am Moritzplatz vorbei, wo Ertex seine Strickfabrik hatte. Das Haus ist abgerissen. Bei einer Stadtführung zu den wichtigsten Stationen in Irene Moessingers Leben braucht man Fantasie. Statt Ertex steht da jetzt das Aufbauhaus, das mit dem Kunst- und Dekorationshandel „Modulor“, den Kreativbüros und Bio-Kantinen das neue Kreuzberg symbolisiert. „Wer hätte in den 90ern gedacht“, sagt Irene Moessinger gut gelaunt, „dass Kreuzberg mal eine internationale Jugend anzieht?“

Sie will auf keinen Fall nostalgisch rüberkommen. Sie mag Veränderung. Und wenn sie jetzt ein bisschen meckert, als sie aufs Tempodrom zuläuft, dann gilt ihre Kritik dem umzäunten Sportplatz vor dem Eingang, der den Veranstaltungsort, wie sie findet, von der Stadt abschneidet. Wie oft habe sie damals bei den Politikern für eine offene Streetsport-Anlage geworben, klagt sie. „Natürlich war ich traurig, als wir aus dem Tiergarten wegmussten, aber ich bin auch Fan vom Neuen.“ Zusammen mit Norbert Waehl stand sie einer gemeinnützigen Stiftung vor, die den Bau verantwortete.

Mit seinem wuchtigen Zackendach, das an ein Zelt erinnern soll und wegen des Lärmschutzes aus Beton ist, ragt das Tempodrom hinter der Ruine des Anhalter Bahnhofs hervor. Dass Großprojekte teurer werden, passiert oft. Doch Waehl und Moessinger bürgten für 20 Prozent des Baukredits mit ihrer Firma und privat. Als das Geld nicht reichte, waren sie insolvent. Zum gravierendsten Problem wurde für sie, dass das Land Berlin für die restlichen 80 Prozent gebürgt hatte. Die Staatsanwaltschaft vermutete Berliner Filz und fing zu ermitteln an. „In der Zeitung stand immer: ,Frau Moessinger, gegen die wegen persönlicher Bereicherung und Subventionsbetrug ermittelt wird ...‘ Das muss man erst mal aushalten.“

„Die Zeit mit dem Tempodrom kann uns keiner nehmen“

Während der Affäre bestückten Moessinger und Waehl das Tempodrom weiterhin mit Programm. Dabei schrieben sie schwarze Zahlen. Dann verkaufte der Insolvenzverwalter ihre Betreiberfirma – und sie waren ganz draußen. „Das Lebenswerk war weg“, sagt Moessinger. „Irgendwann stellt man aber fest, dass das nicht stimmt. Die Zeit mit dem Tempodrom kann uns ja keiner nehmen.“

Zuerst ging sie in ein buddhistisches Retreat, der Philosophie steht sie nahe. Drei Mal ist der Dalai Lama im Tempodrom aufgetreten. Damals hat die Belegschaft mit ihren Kindern am Bühnenausgang Schlange gestanden, und der Dalai Lama hat alle gesegnet, erzählt Moessinger.

Eine Freundin schenkte ihr schließlich einen Kurs im biografischen Schreiben. Moessinger, für die Deutschaufsätze immer ein Gräuel waren, fand Gefallen daran. Sie wirkt zufrieden, dass das Leben ihr jetzt, mit fast 70, so viele neue Wendungen beschert. Gerade ist sie von einem Wanderritt mit ihren Schülern zurückgekommen. Sie fuhr mit dem E-Bike nebenher. Jetzt hat sie Muskelkater.

Sie hat eine kleine Stadtwohnung in Kreuzberg behalten. „Ich bin überrascht, wie gut es mir hier immer noch gefällt – trotz der Gewissheit, dass der Bezirk im Griff von Investoren ist.“ Letztens habe ihr Patensohn sie zu einem Treffen der Gegner des geplanten Google-Campus am Landwehrkanal mitgenommen, erzählt sie. Aktivisten aus anderen Städten erklärten dort, dass so ein Campus viele Firmen nach sich ziehe, die eine Gegend unwiederbringlich veränderten. Widerstand ist von ihr nicht mehr zu erwarten. „Das müssen jetzt die Jungen machen“, sagt sie. „Es ist ihre Zukunft.“

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