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Der britische Autor Stephen Grey kennt die Geheimnisse der Geheimagenten.

© promo

Spionage: „Dass Freunde abgehört werden, ist absolute Routine“

Spionageexperte Stephen Grey über Terrorismus, das Vorbild für James Bond und Millionen-Gagen für Informanten.

Herr Grey, Geheimdienste werden heute entweder als übermächtig oder inkompetent dargestellt. Die NSA soll jeden Telefonanschluss überwachen können, und der Mossad lässt sich von Überwachungskameras erwischen. Sind wir naiv oder paranoid?

Das Bild, das wir von Geheimdiensten haben, ist immer verzerrt. Sie können sich ja häufig nicht verteidigen, weil Informationen und Informanten geschützt werden müssen. Viele glauben, weil es die Möglichkeit gibt, uns im Geheimen zu überwachen, werde das auch ständig gemacht. Spionage aber muss man sich so vorstellen, als würde man die Welt durch einen Strohhalm betrachten. Man kann nicht überall gleichzeitig hingucken. Trotzdem gilt natürlich, was Henry Kissinger gesagt hat: „Selbst ein Paranoider kann Feinde haben.“

Sie sagen, Spionage führe oft zu nichts. Wieso?

Das ist die große Ironie des Geschäfts. Offensichtliches glaubt jeder, spektakuläre Enthüllungen aber machen skeptisch. In der Geschichte zeigt sich das immer wieder. Der Spion Richard Sorge warnte die Russen 1941 vor dem Überfall der Wehrmacht und wurde ignoriert. Washington hatte in den 1970ern alle Unterlagen für den ägyptischen Angriff im Jom-Kippur-Krieg. Keiner glaubte, dass sie echt waren. Dasselbe passierte später mit Al Qaida. Schon in den 1990ern gab es Warnungen. Vorsichtig macht ja auch, dass viele Hinweise nicht überprüft werden können und der ein oder andere Informant deshalb gerne mal etwas fabriziert. Man denke nur an den Iraker „Curveball“ und die Legende von Saddam Husseins Waffenlaboren.

Wenn echte Spionagefälle oft so ernüchternd enden, warum erregen sie trotzdem so?

Es ist die Jagd. Wenn jemand verraten oder überzeugt wird, ist das endlos faszinierend. Das spricht wohl ein grundlegendes menschliches Interesse an. Aber es stimmt, das Ende ist häufig eine Antiklimax. Ein Attentäter wird am Checkpoint aufgehalten und festgenommen. Das war es dann.

In der Fiktion ist alles viel dramatischer. Da sind Spione Superhelden. In dem jüngsten James-Bond- Roman „Der Finger Gottes“ fährt der Held Autorennen und prügelt sich auf U-Bahnen. Auch im Kino rettet er jetzt in „Spectre“ wieder die Welt.

Es liegt in der Natur von Filmen, zu verdichten. Aber natürlich gibt es Vorbilder. Der britische Agent Sidney Reilly beispielsweise soll Ian Fleming Pate gestanden haben für James Bond. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Reilly nach Russland geschickt, um dort auf eigene Faust gegen die Bolschewiken zu agieren. Reilly sprach zig Sprachen, ging als Tscheka-Offizier durch und als griechischer Geschäftsmann.

Außerdem hatte er zahlreiche Geliebte, war Spieler, konnte charmant und gnadenlos sein.

Hier liegt sicherlich ein Teil des Spionage-Mythos begründet. Der wurde dann verwoben mit den Einsätzen von Spezialkommandos. Das britische SAS hat im Zweiten Weltkrieg hinter den feindlichen Linien Brücken gesprengt, Leute gefangen genommen. Ian Fleming war damals an der Planung solcher Operationen beteiligt.

James Bonds gibt es also wirklich?

Nicht mehr wie Reilly. Diese Art Spion war schon kurze Zeit später überholt, als die Gegner begannen, aktive Gegenspionage zu betreiben. Die Geheimdienste sind dann zu einem neuen Modell übergegangen. Die Führungsoffiziere, also die Beamten bei den Geheimdiensten, spionieren nicht mehr selbst. Viele fühlen sich sogar beleidigt, wenn man sie Spione nennt, weil ein solcher ja per Definition ein Verräter ist. Ihr Job ist es, andere Leute zum Spionieren zu bewegen.

Leute wie den Amerikaner Arthur Nicholson, der 1985 in Ludwigslust erschossen wurde, als er bei den Russen Panzer ausspionieren wollte.

So kann es enden. Aber das geteilte Deutschland hatte zu Zeiten des Kalten Krieges einen Sonderstatus. Es war deshalb ein so guter Ort für paramilitärische Abenteuer, weil die Agenten hier tatsächlich Zutritt zum Territorium des Gegners hatten.

Warum "Sexspionage" oft ein Akt der Verzweiflung ist

Der damalige amerikanische Spionagechef in West-Berlin, Stuart Herrington, fand, es gäbe keinen schöneren Arbeitsplatz für einen Geheimagenten.

Die Mauerstadt war so etwas wie die Spionageschule. Hier konnte man jeden Fehler machen, den man wollte. Es war egal.

Wieso das denn?

Weil alle wussten, dass der Gegner spioniert. Meistens endete eine Gefangennahme nur mit einem Rauswurf. So ein direkter Zugang fehlt heute häufig. Beispiel Irak: Nachdem die UN-Inspektoren, die fast alle Spione waren, rausgeworfen worden waren, ging nichts mehr. Solche Quellen kann man nicht über Nacht neu schaffen. Das dauert, und es bedarf einiger Verführungskraft.

Apropos Verführung. Bond gelangt häufig durch Sex an seine Informationen, und im aktuellen Buch beschreiben Sie Mitarbeiter der Metropolitan Police, die sogar Kinder mit Zielpersonen zeugen sollten.

Sex wurde schon immer als Werkzeug eingesetzt. Der KGB hatte Schulen für „Sexspionage“, die Stasi ist berühmt für ihre „Romeos“, doch das Ausmaß wird sicher übertrieben. Es ist ein Akt der Verzweiflung, wenn man zu diesem Mittel greifen muss. Denn man verliert die Kontrolle. Menschen die miteinander schlafen, entwickeln Gefühle. Um Agenten zu führen, braucht man aber Distanz.

Was die Kontrolle angeht: Wäre Bond heute nicht allein aufgrund seines heftigen Alkoholkonsums ein Sicherheitsrisiko?

Na ja, er scheint das im Griff zu haben. Und überhaupt: Die CIA beschäftigt zahlreiche Mormonen, die nicht trinken. Die Arbeit hat sich dadurch meines Wissens nicht spürbar verbessert.

Was ist mit Bonds berühmten Gadgets. Gibt es die?

Natürlich gibt es tote Briefkästen, Peilsender für Waffen und dergleichen. Der IRA-Informant „Steak Knife“ bekam Tabletten ausgehändigt, die schweren Durchfall auslösen konnten. Wäre er in die Verlegenheit gekommen, sich an einer Exekution zu beteiligen, hätte er sich damit aus der Affäre ziehen können. Wichtig für die Geheimdienste sind solche Dinge aber vor allem, weil sie Agenten glauben machen, sie seien wirklich James Bond. Das motiviert ungemein. Die wirklichen Arbeitswerkzeuge sind häufig ganz banale Dinge.

Welche denn?

Was hatte der CIA-Agent Ryan Fogle im Gepäck, als er 2013 in Moskau aufflog? Geld, zwei Perücken, eine Straßenkarte und einen Brief, in dem er jemanden auffordert, ein Konto bei Google-Mail zu eröffnen … Wer braucht eine Minikamera oder ein Ortungsgerät, wenn er ein Smartphone hat? Doch die Menschen wollen den Traum. Auch wenn sie dann enttäuscht sind, weil es in Wahrheit nicht so aufregend ist.

Sind ehemalige britische Geheimdienstler wie Frederick Forsyth, Graham Greene, John le Carré oder Ian Fleming also aus Enttäuschung zu Schriftstellern geworden?

Fiktion macht einfach viel mehr Spaß. Man muss keine Fakten überprüfen und kann Geheimnisse ausplaudern, indem man sie einfach ein bisschen verändert. Die Autoren unterscheiden sich jedoch enorm. Bei Fleming geht es oft nicht um Spionage, worunter man eigentlich nur die Beschaffung geheimer Informationen versteht, sondern um Kommandooperationen. Die gibt es, jedoch nicht mal annähernd in dem Umfang, wie man sich das vorstellt. Le Carré hingegen ist so gut, weil er sich weniger mit Action beschäftigt, sondern mit der Loyalität zwischen Menschen und warum sie kaputtgeht.

Die großen Autoren des Genres sind alle Männer, genau wie ihre Protagonisten. Zufall?

Das Bild, das von Spionage vermittelt wird, ist tatsächlich eins, das wohl eher Männer anspricht. Viele Frauen rollen ja die Augen, wenn sie diesen Bond-Zirkus sehen. Agentinnen gab es trotzdem immer. Etliche Sekretärinnen der Kommunistischen Partei Großbritanniens haben für den Inlandsgeheimdienst MI5 gearbeitet. Doch beim Spionieren geht es eben um Zugang zu Informationen, und den haben in einer männerdominierten Welt Männer schlicht häufiger.

Wie Spionage sich verändert hat und was Informanten verdienen

Abwehrchef Herrington verglich das Spionagegeschäft mit Schach. Ist Spionage ein Spiel für Jungs?

Für viele ist es ein Spiel, von dem sie viel mehr fasziniert sind als von dem, was tatsächlich erreicht wird. Der Reiz liegt häufig in den Manövern, dem Austricksen, dem Nervenkitzel.

Ist das eine größere Motivation als Geld?

Mit Geld kann man viel erreichen. Aber es gibt bessere Methoden. Das ist eine Lektion, die ich in Berlin gelernt habe, als ich in den 1990er Jahren mit ehemaligen Stasi-Rekrutierern gesprochen habe. Die erzählten, dass es der beste Weg sei, menschliche Bindungen aufzubauen. Vermeintliche Freundschaft ist eine der mächtigsten Waffen, jemanden für das Geschäft anzuwerben.

Ein anderes Motiv scheint ein verletztes Ego zu sein. Der Soldat James Hall war so wütend darüber, dass er beim Deutsch-Amerikanischen Volksfest Eis verkaufen musste, dass er Informant der Russen wurde.

Ein verletztes Ego hat ja auch den Vorteil, dass man die Ursache mitunter verifizieren kann: eine Degradierung, ein verlorener Posten ... Im Kalten Krieg waren freiwillige Überläufer häufig die einzigen Quellen. Doch schon in Irland haben die Briten den IRA-Informanten, die sich freiwillig anboten, nicht vertraut.

Wie hat sich die Aufgabe der Geheimdienste nach dem Kalten Krieg verändert?

Viele Dienste mussten sich neu organisieren. Der Gegner war weg, und es galt, die Budgets zu rechtfertigen. Erst kam die organisierte Kriminalität ins Visier. Dann kam 9/11. Plötzlich sah man sich mit dem internationalen Terrorismus konfrontiert. Deshalb übernehmen Geheimdienste heute immer mehr Aufgaben der Verbrechensbekämpfung. Terrorismus ist ja nichts anderes als politische Kriminalität über Ländergrenzen hinweg, und andere effektive globale Organisationen zur Verbrechensbekämpfung gibt es ja nicht.

Zumindest da spiegeln die Bond-Filme die Realität wider. 1963 in „Liebesgrüße aus Moskau“ war der KGB der Gegner, in „In Lizenz zum Töten“ von 1989 ein Drogenbaron, 2006 in „Casino Royal“ der Finanzier von Terroristen.

Nur sieht man dort nicht, wie sich das Handwerk durch die chaotischen Terrornetzwerke verändert hat. Es ist nicht mehr so wie bei der IRA, dass man sich seinen Weg nach oben erarbeiten kann. Die heutigen Spionagemissionen sind im Vergleich zu früher viel kurzfristiger angelegt. Im Kalten Krieg musste man die Bewegungen sowjetischer Diplomaten über Monate beobachten, um abschätzen zu können, ob man sie umdrehen kann. Heute sieht eine typische Mission so aus: Identifiziere eine Gruppe, höre ihre Telefone ab. Wer ist der Typ, der Zweifel hat, vielleicht eine geheime Freundin anruft? Ziehe ihn für zwölf Stunden aus dem Verkehr, rekrutiere ihn, schick ihn zurück in die Zelle. Er verrät den Plan. Die Ausführung wird gestoppt. Der Informant bekommt eine neue Identität und eine halbe Millionen Pfund.

Das ist der Preis?

Für das Stoppen eines Terroranschlags? Klar. Auch mal eine Million Pfund.

In den vergangenen Jahren haben wir eine Technisierung und Automatisierung von Spionage gesehen. Welche Folgen hat das?

Problematisch ist das, weil Politiker und auch die Öffentlichkeit einen fast blinden Glauben an die Informationen haben, die mittels Computern erhoben werden. Doch nicht immer zeichnen diese Daten ein korrektes Bild.

Sie spielen auf Zabet Amanullah an, der 2010 in Afghanistan fälschlicherweise als Taliban exekutiert wurde.

Hätte man Agenten auf der Straße gehabt, hätten die sofort sagen können, dass dieser Mann kein Terrorist ist. Noch viel erschreckender ist: Selbst als klar war, dass sie den falschen Mann umgebracht hatten, wollten die Verantwortlichen es nicht glauben. Wir geben Milliarden Dollar dafür aus, um mit Algorithmen die nächste Bedrohung aus dem Äther zu filtern. Das funktioniert nicht. Dafür muss ich mir nur die Empfehlungen anschauen, die Amazon mir schickt.

Was also sollte getan werden?

Wir können uns nicht nur um Al Qaida und nun den IS kümmern. Was heute bei den muslimischen Uiguren im Westen Chinas passiert, kann morgen Auswirkung in London haben. Was wir brauchen, sind Menschen, die die Welt verstehen. Nicht nur Spione, sondern auch Diplomaten, Professoren, Journalisten. Leider hat die Vormachtstellung westlicher Kultur auch dazu geführt, dass das Interesse des Westens an der Welt deutlich abgenommen hat. Korrespondenten verschwinden, selbst Diplomaten sind heute oft nur noch reine Sprachrohre ihrer Regierungen.

Stattdessen steigt das Interesse der Geheimdienste an ihren eigenen Bürgern.

Ich sehe das ehrlich gesagt nicht. Die meisten Geheimdienste arbeiten doch sehr fokussiert. Wir sollten uns da nicht verrückt machen lassen.

Das setzt aber eine Menge Vertrauen voraus. Sie selbst haben gezeigt, wie die CIA mit ihren Entführungen immer wieder geltendes Recht bricht.

Natürlich wurde das Vertrauen schon verletzt. Manche der Dinge, die Edward Snowden aufgedeckt hat, zeigen, dass im Verborgenen moralisch falsche Entscheidungen getroffen wurden. Dass das britische GCHQ und die NSA zusammen die Standards der globalen Verschlüsselung geknackt haben, ist ziemlich erschreckend. Datenspionage ist solch ein feindlicher Akt, dass er in Friedenszeiten sehr schwerwiegende Auswirkungen hat. Das sieht man ja an Deutschland.

Ändern Skandale um Anwerbungsversuche von BND-Mitarbeitern durch US-Dienste oder Merkels Handy wirklich das Verhältnis zwischen Staaten?

Da gibt es in der Tat eine gewisse Heuchelei. Dass Freunde abgehört werden, ist absolute Routine. Es ist okay, solange es nicht rauskommt. Der Ärger in Deutschland rührt deshalb wohl auch daher, dass BND und NSA so enge Partner waren. Da fühlt man sich schnell persönlich verraten.

Wenn sie so viel kaputt machen kann und so selten etwas bringt, wann ist Spionage überhaupt sinnvoll?

Man kann das mit einer Infektion vergleichen. Spionage ist ein Antibiotikum, kein Ersatz für eine Impfung. Sie funktioniert, wenn es ein konkretes Ziel gibt, gegen eine unüberschaubare Anzahl an Akteuren muss sie scheitern. Spionage ist oft eine große Verschwendung von Ressourcen.

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