zum Hauptinhalt
Foto: Martina van Kann

© Martina van Kann

Sophie Rosentreter im Interview: „Ich wollte, dass Omi so ist wie vorher“

Sophie Rosentreter flirtete mit Ethan Hawke und flog mit Bon Jovi im Privatjet.Als ihre Großmutter erkrankte, tauschte sie die Fernsehstudios gegen Altersheime

Von

Sophie Rosentreter, 39, wurde als Model bekannt, moderierte die erste Staffel von „Big Brother“ und bei MTV. 2010 gründete Rosentreter die Firma „Ilses weite Welt“, die Angehörige von Demenzkranken unterstützt und Filme speziell für die Patienten produziert. Sie lebt mit Mann und Tochter in Hamburg

Frau Rosentreter, Sie haben auf der ganzen Welt gemodelt, für MTV Superstars getroffen. Seit fünf Jahren arbeiten Sie mit Demenzkranken. Was haben Sie über die Krankheit gelernt?
Sie ist genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich übersetzt bedeutet.
Ohne Geist.
Das stimmt einfach nicht! Die Menschen sind bis zum Ende da, auch wenn sie nicht mehr sprechen können. Sie haben andere Möglichkeiten, mit uns zu kommunizieren. Eine Handberührung, ein Augenaufschlag. Wir Gesunde müssen lernen, voll über das Gefühl zu gehen. Ist natürlich schwierig, weil wir eine verkopfte Gesellschaft sind.
In Deutschland haben 1,5 Millionen Menschen Demenz, die Dunkelziffer ist weit höher.
Ein Arzt hat mal gesagt: Jede Gesellschaft bekommt die Krankheit, die sie verdient. Wir Deutschen sind als Fortschrittsgesellschaft auf den Job fixiert. Höher, schneller, weiter. Alter, Krankheit und Tod werden ausgegrenzt. Als würden wir, sobald wir darüber reden, selbst alt, krank und tot.
Auch Sie haben so gedacht, bis Ihre Oma „merkwürdig“ wurde, wie Sie sagen: den Griesbrei versalzen, den Hausschlüssel verlegt hat. Nach ihrem Tod haben Sie eine Firma gegründet, um Angehörige und Pflegende über die Krankheit aufzuklären.
Ich war eine unangenehme Angehörige im Pflegeheim, weil ich mich ständig beschwert habe: Wo ist die weiße Bluse, wo die Handtasche? Und wieso wird meine Oma schon wieder nicht beschäftigt? Mittlerweile kenne ich die andere Seite. Ich weiß, dass Mitarbeiter sie fünf Minuten vorher gefragt haben: Frau Bischoff, möchten Sie mit zur Musiktherapie oder zum Malkurs? Und dass meine Großmutter nein gesagt hat. Dass Handtaschen im Fünf-Minuten-Takt verschwinden bei demenziell veränderten Menschen, dass man sich andauernd an weißen Blusen in fremden Schränken bedient. Ich berate darüber auch Bankangestellte.
Was bringen Sie denen bei?
Wieso die Erkrankten alle paar Minuten wieder am Schalter stehen. Das ist ein Automatismus: Bei der Bank oder beim Bäcker fühlen sie sich sicher. Manche gehen fünf Mal am Tag zum Friseur, weil sie vergessen haben, dass sie schon dort waren.
Wie soll der Friseur reagieren?
Eine Möglichkeit ist das Validieren. Ein Fachwort, es heißt Spiegeln. Das musste ich auch lernen. Eines Tages war ich in einem Heim, da saß eine Frau, die schlug auf den Tisch und schrie: Ihr habt keine Ahnung, alles Idioten! Ich dachte, dich nehme ich jetzt zur Übung. Hilfe, hatte ich eine Angst, dass sie mir gleich eine ballert. Ich setzte mich zu ihr und schrie: Sie haben recht, hier hat niemand eine Ahnung! Sie guckte mich ganz groß an, wir haben eine Minute lang zusammen gemeckert, dann wurde sie abgelenkt von dem Armband, das ich trug. Ich habe sie gespiegelt, ihre Wahrheit angenommen, nicht versucht, sie in die Realität zu holen. Der Friseur kann doch sagen: „Frau Müller, wie toll sehen Ihre Haare eigentlich aus! Ich würde Ihnen empfehlen, die so zu lassen.“

Eben nicht: „Sie waren doch gerade hier!“
Ich habe zu meiner Großmutter ständig gesagt, weil ich es nicht besser wusste: Omi, denk doch mal nach! Ich wollte, dass sie so ist wie vorher.
Ein verständlicher Wunsch.
Ja, klar, Familienoberhaupt, Omi, die Tolle. Die alles konnte. Ich wollte das nicht wahrhaben.
Was hat sie zur Super-Oma gemacht?
Sie wohnte während meiner ganzen Kindheit in der Eppendorfer Landstraße im zweiten Stock über uns. Oft holte sie mich hoch, steckte mir heimlich Zuckerbrot zu und sagte: Ich liebe dich. Sie hockte mit mir auf dem Boden, flocht einen Kranz aus Gänseblümchen, veranstaltete Schneckenrennen, zeigte mir, wie Waldmeister aussieht und wie man Marmelade macht.
Rituale, die Sie geprägt haben.

"Mein wildes kleines Rockerherz freut sich noch heute"

Foto: Martina van Kann
Sophie Rosentreter

© Martina van Kann

Jeden Mittag haben meine Mutter, meine Oma und ich zusammen gegessen und gelacht, bis die Tränen rollten. Danach haben wir drei Frauen Mittagsschlaf gehalten in einem 90 Zentimeter breiten Bett, ich in der Mitte. Eine Selbstverständlichkeit.
Sie wurden mit 15 Sechste bei einem Modelwettbewerb, bei dem Heidi Klum gewonnen hat. War Ihre Oma einverstanden, als Sie die Schule schmissen?
Meine Großmutter hatte meiner Mutter verwehrt, Sängerin zu werden. Das hat sie später bereut. Deshalb haben beide gesagt: Zieh los, sei vogelfrei! Ich habe das erste Jahr viel Katalogarbeit gemacht, bin in Länder mit gutem Wetter geflogen, Tunesien, USA, immer allein. Paris, Athen, London, da habe ich überall für ein paar Monate gewohnt.
Für MTV haben Sie Jürgen Vogel in der Sauna interviewt, mit Ethan Hawke geflirtet. Was bleibt davon?
Wenig. Aber in dem Alter war das genau richtig. Es ging nie in die Tiefe, trotzdem möchte ich nicht missen, dass ich mal mit Bon Jovi im Privatjet geflogen bin. Mein wildes kleines Rockerherz freut sich noch heute, dass ich mit den Red Hot Chili Peppers auf dem Roten Platz stehen durfte.
Parallel kümmerte sich Ihre Mutter schon um Ihre Großmutter.
Deshalb ist meine Mama auch zwei Jahre nach meiner Omi an Krebs verstorben. Es war grausam: Sie musste ihrer eigenen Mutter den Eintritt verwehren. Meine Oma hatte das Nacht-Tag-Gefühl verloren und stand um vier Uhr morgens vor der Tür. Es hätte nichts genutzt, sie nach oben zu bringen. Fünf Minuten später hätte sie wieder geläutet. Damit meine Mutter Schlaf bekam, musste sie die Klingel abstellen. Mit diesem schlechten Gewissen einzuschlafen, macht was mit dem Körper.
Sie reden von demenziell veränderten Personen.
Das geht natürlich schwieriger von der Zunge als Demenzkranker. Ich habe mit Erkrankten darüber geredet, wie sie angesprochen werden wollen. Zum Beispiel mit Helga Rohra, sie ist mit 53 Jahren diagnostiziert worden.
Normalerweise bricht Demenz später aus.
Helga macht sich sichtbar, ich wünschte, das könnten alle. Im Supermarkt sagt sie: Ich habe Demenz, wenn Sie jedes Mal die Äpfel umräumen, finde ich die nicht wieder.
Wenn Sie Ihre früheren Kollegen heute sehen, kommt Ihnen je der Gedanke: „Ich könnte jetzt an der Stelle von Nora Tschirner stehen“?
Niemals! Weil sie tausend Mal besser ist als ich. Ich bin keine One-Woman-Show. Wo ich jetzt bin, passe ich besser hin. Obwohl es nicht einfach war, als Quereinsteiger eine Firma aufzubauen und Investoren zu finden. Natürlich sagten manche aus der Demenzszene: Was will die von MTV hier?
Sie produzieren Filme für Demenzkranke, das gab es bislang nicht: wenige Schnitte, langsame Kamerafahrten, kaum Inhalt. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Das lag an meiner anderen Oma, die auch dement war. Sie saß im Heim vor dem Fernseher und rief immerzu „Krombacher“. Ich dachte: Kann doch nicht wahr sein, will die jetzt ein Bier? Irgendwann begriff ich, die will an diesen See, der in der Werbung zu sehen ist. Krombacher war ihr Lösungswort für: Verdammt, holt mich hier raus!

Demenz ist eine Marktlücke, sagen Sie. Was ist Ihr Verkaufsschlager?
Das Fünfer-Set mit Filmen wie „Ein Tag im Tierpark“ oder dem, den wir in Lüneburg im 60er- Jahre-Museum gedreht haben: Eine Mutter weckt morgens ihren Sohn, schickt ihn zur Schule, macht den Haushalt, abends kommt der Mann, und alle spielen zusammen „Mensch ärgere dich nicht“.
„Ilses weite Welt“, der Firmenname ist eine Erinnerung an Ihre Oma, verkauft auch Kuscheltiere. Was soll das?
Es ist ein Trigger – ich setze einen Reiz und bekomme Emotionen. Ich kann den Film über den Wald sehen und parallel ein Reh streicheln.
Ähnlich wie die Roboterrobbe aus Japan, die auf Streicheleinheiten reagiert ...
... und 5000 Euro kostet. Das war ein Riesenaufschrei vor ein paar Jahren. Es gab Bedenken, dass Roboter bald kranke Menschen pflegen. Ein Stück weit werden wir dem nicht entgehen können.
So wie Fernseher in Heimen zu Babysittern werden.
Wir brauchen ein geführtes Medienverhalten. Wir achten doch bei unseren Kindern auch darauf, was sie schauen. Einmal war ich dabei, als im Heim die Nachrichten liefen. Im Fernsehen explodierte eine Bombe, eine Dame schnellte hoch und schrie: Dies ist keine Übung! Sie wollte in den Bunker.
Was können wir tun?
Es gibt kleine Projekte wie „Generationsbrücke Deutschland“. Wo Kinder aus Kindergärten Patenschaften übernehmen zu demenziell Veränderten aus Altersheimen. Die Kinder haben einen neuen Freund, lernen mit Alter oder Tod umzugehen. Für die Alten ist das ein Jungelixier.

"Ganz sanft sagte er: Wollen wir ein bisschen ficken"

Foto: Martina van Kann
Sophie Rosentreter

© Martina van Kann

In manchen Ländern werden Kindergärten und Altersheime gleich zusammengelegt.
Das ist die Zukunft. Es wird weniger Kinder geben, wir werden immer älter. Auf diese Wellen müssen wir uns auch architektonisch vorbereiten. Ich fände gut, wenn noch ein Friseur mit im Heim sitzt, ein Café, wenn man Menschen nicht ausgrenzt am Rande der Stadt, wo sie verdorren. In den USA haben Nonnen eingewilligt, dass ihnen nach dem Tod das Gehirn aufgeschnitten wird, um zu sehen, ob da Anzeichen von Plaques sind.
... Amyloid-Plaques, die schwarzen Löcher, die die Forschung für Demenz verantwortlich macht ...
... und eine dieser Nonnen, die mit über 100 verstorben ist, hatte an dem Tag noch den Chor geleitet, im Garten gearbeitet. Laut Befund hätte sie überhaupt nicht mehr sprechen können, geschweige denn sich bewegen. Man hat ihr das nicht ansatzweise angemerkt. Die hat in einem sozialen Gefüge gelebt, hatte ganz klar ihren Platz, ihre Anerkennung. Das wirft die Frage auf: Was ist Demenz tatsächlich?
Man muss den Leuten eine Aufgabe geben.
Irgendwann kommen die Erkrankten an die gnädige Grenze. Den Moment, in dem sie vergessen, dass sie krank sind und in der Erinnerung zwischen 5 und 25 leben. Selbst wenn sie ihren Namen nicht mehr wissen, können sie noch acht Strophen von „Hoch auf dem gelben Wagen“ mitsingen. Die Person empfindet dann Stolz: Boah, ich kann noch was! Wenn eine Frau gut gekocht hat, soll sie in der Küche helfen, Kartoffeln schälen. Wenn ein Mann gern Dinge repariert hat, soll er einen Werkzeugkasten bekommen. Ich habe mal eine Frau beobachtet, die haute ständig mit der Faust auf den Tisch. Die hat früher bei der Post gearbeitet. Gebt ihr was zu stempeln!
Sie schlagen einen „Ich-Pass“ für jeden vor.
Wir müssten jetzt aufschreiben, was uns als junge Menschen bewegt hat. Musik, Reisen. Was habe ich gern gerochen, wer war meine große Liebe?
Was würde bei Ihnen drinstehen?
Sardinienurlaube mit meinen Eltern. Musik von Pearl Jam. „Singles“, der Film mit Bridget Fonda. „Bambi“, der Zitronenkuchen meiner Omi.
Apropos: Welche Rolle spielt Essen?
Man sollte das Essen zum gemeinsamen Event machen. Soziale Kontakte geben Halt in der Demenz. Aber der Geschmackssinn verändert sich stark. Irgendwann nehmen die Menschen nur noch das Süße wahr, streuen sich Zucker über den Fisch. Demenziell Veränderte laufen den ganzen Tag, weil sie etwas zu tun haben wollen, wenn sie sich verloren fühlen. Dabei verbrennen sie viele Kalorien. Man muss ihnen öfter Fingerfood reichen.

Sie haben einen Muff entwickelt, mit Reißverschluss und bunten Fäden. Wofür?
In den Heimen sieht man oft Leute, die an der Kleidung nesteln. Oder mit dem Oberkörper wanken. Wenn ich mich haue, spüre ich mich. Der Muff ist für die Hände, die immer auf der Suche sind.
Was man auch kennt: Demenzkranke machen Fremden sexuelle Avancen.
In einem Heim kam einmal ein Mann auf mich zu, Mitte 60, er litt unter Korsakow, eine Form der Demenz, wenn man zu viel getrunken hat. Ganz sanft sagte er: Wollen wir ein bisschen ficken?
Sie wurden rot?
Es war ein Flehen in seiner Stimme: Ich habe eine Not, bitte nimm sie mir ab. Ich habe ihm erklärt, dass ich einen Freund zu Hause habe, der das nicht so gut fände. Ich kenne eine andere Geschichte von einem erfolgreichen Geschäftsmann, der im Büro immer Haltung bewahrte. Einmal stand er in seiner Demenzgruppe auf, ging in die Mitte und ließ seine Hose herunter. Zum Glück hat eine andere Dame sehr schlau reagiert. Sie hat seinen Schniedel angeguckt und gesagt: Donnerwetter, Sie haben Ihre Frau bestimmt glücklich gemacht! Stolz zog er seine Hose hoch und setzte sich wieder hin.
Ist Sex im Heim vorgesehen?

Es gibt erste Einrichtungen, die Frauen anstellen, um den Männern ihre Lust abzunehmen. Ich kenne auch ein Altenheim, das hat Vibratoren. Wenn ich in dem Alter noch Lust auf Sex habe, wünsche ich mir, dass mir der ermöglicht wird.
2007 haben Sie Ihre Großmutter ins Heim gegeben.
Das war der schlimmste Moment. Wir dachten, wir sind schlechte Menschen und haben versagt.
Sie konnten nicht mehr.
Sie ist wiederholt gestürzt, hatte sich an einer Tischkante den Kopf aufgehauen und lag blutend auf dem Boden. Meine Mutter dachte: Wenn das so weitergeht, bin ich schuld, dass sie stirbt.

Sie haben Ihre Oma bis zum Schluss begleitet.
Ich bin unglaublich dankbar, dass ich ihr Sterben erlebt habe. Es nimmt mir die Angst vorm Tod. Vier Mal hat sie sich geschüttelt, bis sie endlich gehen konnte.
Nun haben Sie öfter mit dem Tod zu tun. Wann hat Ihre Arbeit Sie zuletzt glücklich gemacht?
Ich war kürzlich in einem Heim, da saß eine alte Frau, die aussah wie die böse Hexe aus einem Disney-Film. Graue Haare, keine Zähne, Speichel lief ihr aus dem Mund. Sie roch widerlich, weil sie sich wahrscheinlich in die Hose gemacht hatte. Ich habe meine Hand auf den Tisch gelegt, an dem sie allein saß, sie hat ganz stark geweint und gesagt: Wissen Sie eigentlich, wie sich das anfühlt, ohne Zähne zu sein? Nach zehn Minuten habe ich zum Abschied eine Umarmung bekommen, die so was von herzlich war. In solchen Momenten merke ich: Ich habe das Richtige gemacht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false