zum Hauptinhalt
Das Ehepaar Saskia und Veit Etzold. Sie ist Rechtsmedizinerin, er Thrillerautor.

© Mike Wolff

Saskia und Veit Etzold im Interview: „Beim Abendessen reden wir über Wasserleichen“

Sie hilft Gewaltopfern als Rechtsmedizinerin. Er erzählt in Thrillern von Serienkillern. Saskia und Veit Etzold über Fiktion, Realität und die Faszination des Todes.

Von

Frau Etzold, Herr Etzold, Sie haben als Rechtsmedizinerin und Thrillerautor von Berufs wegen ständig mit Schmerzen, Qualen und Blut zu tun. Was ist schwerer zu ertragen: die Fiktion oder die Realität?

Saskia Etzold: Für mich die Fiktion. Mit der Realität komme ich gut klar, das ist mein Job. Da kann ich Menschen helfen. In der Fiktion stehe ich dem Plot und damit dem Leid hilflos gegenüber.

Und dann haben Sie ausgerechnet einen Autor von Serienkiller-Romanen geheiratet?
Saskia: Das ist etwas anderes. Die Bücher lese ich ja beim Entstehen von einem technischen Standpunkt aus.

Veit Etzold: Es gibt von Mark Twain den schönen Spruch: „Der Unterschied zwischen Realität und Fiktion ist, dass Fiktion Sinn ergeben muss.“ Und die Realität ist teilweise derart pervers, absurd und brutal, dass man es in einem Thriller gar nicht schreiben kann. Ich habe zum Beispiel bei der Recherche zu meinem Buch „Seelenangst“ mit Aussteigern aus der Satanistenszene gesprochen, und die haben mir Dinge berichtet, die ich so gar nicht für mein Buch verwenden konnte. Es ist sicherlich besser für die Nachtruhe Ihrer Leser, wenn wir hier nicht auf Details eingehen.

Saskia und Veit Etzold empfangen am frühen Morgen in ihrer Berliner Dachgeschosswohnung. Aufgeräumt und hell ist es, weiße Sofas, gläserne Tische. So wohnt das Paar, dessen Vermählung im Jahr 2013 von einer Boulevardzeitung als „Berlins gruseligste Hochzeit“ bezeichnet wurde. Grund für die Schlagzeile waren die Lebensläufe der beiden.
Saskia und Veit Etzold empfangen am frühen Morgen in ihrer Berliner Dachgeschosswohnung. Aufgeräumt und hell ist es, weiße Sofas, gläserne Tische. So wohnt das Paar, dessen Vermählung im Jahr 2013 von einer Boulevardzeitung als „Berlins gruseligste Hochzeit“ bezeichnet wurde. Grund für die Schlagzeile waren die Lebensläufe der beiden.

© Mike Wolff

Dabei sind Sie kein Autor, der nur andeutet. In „Dark Web“ geht es um Frauen, die erst verstümmelt, dann als Sexsklavinnen missbraucht werden.
Veit: Das habe ich mir nicht ausgedacht. Es gibt im Darknet eine Seite, wo jemand über die sogenannten Dolls schreibt. Auch ein Video ist dort zu sehen. Meine Frau glaubt jedoch, dass das eine Computeranimation ist.

Die Nachrichten sind voll von Gräueltaten: IS, Bürgerkriege, verschwundene Kinder … Warum tut man sich dann auch noch in seiner Freizeit Thriller an?
Veit: Hirnforscher vermuten dahinter eine tiefsitzende Strategie des Gehirns zur Bewältigung von Angst. Demnach gibt uns das Betrachten von Gewalt subjektiv das Gefühl, wir wären besser auf kommende Gefahren und eventuelle Verletzungen vorbereitet.

Statt bei Hinrichtungen zuzuschauen, lesen wir heute also von Massenmördern?
Saskia: Ich gehe davon aus, dass die Faszination für Krimis genau daher rührt, dass wir den Tod und Krankheiten so stark aus dem Alltag verbannt haben. Die Generation, die gerade in Kriegen aufwächst, hat sicher kein Interesse an Büchern über Serienkiller. Bei uns jedoch stirbt heute kaum mehr einer zu Hause. Es gibt keine Totenwache. Die meisten Menschen haben noch nie eine Leiche gesehen. Und gleichzeitig kann doch niemand den Tod ignorieren. Am Ende sterben wir alle.

Veit: Der Thriller bietet darüber hinaus etwas, was die Wirklichkeit oft nicht kann: Ein Motiv für die Gräueltaten. Die Gewalt hat immer einen Grund. In der Realität gibt es häufig gar kein richtiges Motiv. Außerdem kommt in vielen Krimis der Killer selbst um. Das ist dann bestimmt eine Art Happy End für die Leserin, eine Bestrafung, die sie erwartet und auch erhofft.

Die Leserin?
Veit: Ich habe hauptsächlich Leserinnen. Ich glaube, Frauen interessieren sich bewusst oder unbewusst stärker dafür, was in Tätern vorgeht. Vielleicht, weil sie allgemein dazu neigen, sich um Menschen zu kümmern und diesen vielleicht zu helfen. Sie wollen sehen, was in so einer kranken Seele vor sich geht, das aber gleichzeitig in einer sicheren Umgebung tun. Womöglich hat das seinen Ursprung darin, dass Frauen Kinder gebären können.

Klingt das für eine Medizinerin plausibel?
Saskia: Auch ich glaube, dass, wer Leben schenken kann, es nicht so schnell auslöscht. Frauen verfügen statistisch tatsächlich über mehr Empathie als Männer, was sich auch darin spiegelt, dass es deutlich weniger Psychopathinnen als Psychopathen gibt. Wenn ich Menschen von meiner Arbeit in der Gewaltschutzambulanz erzähle, wo wir Opfer kostenlos betreuen und Verletzungen rechtsmedizinisch dokumentieren, höre ich oft: Ich könnte diesen Job nicht machen. Vor ein paar Tagen habe ich zum Beispiel eine Frau Mitte 80 untersucht, die ausgeraubt wurde und jetzt mit drei Knochenbrüchen im Krankenhaus liegt – für einen Beutewert von 50 Euro. Die Polizei war nicht erstaunt. Die sagten, sie hätten schon erlebt, dass jemand nur für fünf Euro so brutal zuschlägt.

"Jeder Thrillerautor ist ein verkappter Pädagoge"

Das Ehepaar Saskia und Veit Etzold. Sie ist Rechtsmedizinerin, er Thrillerautor.
Das Ehepaar Saskia und Veit Etzold. Sie ist Rechtsmedizinerin, er Thrillerautor.

© Mike Wolff

Ist Berlin da extrem?
Saskia: In absoluten Zahlen haben wir in Berlin deutschlandweit sicher die meisten Gewaltdelikte. Runtergerechnet auf die Bevölkerung ist das Leben im Ruhrpott gefährlicher. In Berlin liegen Leichen aber oft lange Zeit in ihren Wohnungen. Es gab Fälle, da haben Nachbarn Wälder von Duftbäumen gegen den Gestank im Treppenhaus aufgehängt. Geklingelt oder die Polizei gerufen hat keiner. Im bayerischen Kuhdorf kommen Sie hingegen einmal sonntags nicht zur Kirche, und am nächsten Tag steht einer bei Ihnen vor der Haustür.

Gibt es Milieus, die besonders auffällig sind?
Saskia: Problembezirke sind Wedding, Neukölln, Marzahn, Teile von Spandau. Aber die Kinder werden genauso in der Platte misshandelt wie in der Villa in Dahlem. Nur: Wenn der Sohn eines arbeitslosen Alkoholikers mit einem blauen Auge in die Schule kommt, wird man eher glauben, das Kind sei geschlagen worden, als wenn der Vater Rechtsanwalt ist und der Junge beim Hockeytraining war.

Reden wir zu wenig über Gewalt?
Saskia: Wir reden über die falschen Aspekte. Natürlich ist es richtig, zu schauen, was einen Täter zu dem gemacht hat, der er ist. Darüber haben wir jedoch lange Zeit die Opfer vergessen. Im Grundgesetz steht ganz klar drin, „jeder hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit“. Da steht nicht in Klammern: „es sei denn, es begegnet Ihnen jemand, der alkoholisiert ist, einer gewissen Religion angehört oder der vielleicht einen blöden Tag hatte“. Da steht auch nicht, „dieses Recht gilt für Sie erst, wenn Sie 18 Jahre alt werden“.

Was Sie alltäglich erleben, haben Sie in dem Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ sehr offensiv geschildert.
Saskia: Das Buch haben wir ganz bewusst so verfasst, denn die Leute schauen gerne weg. Als vor ein paar Jahren in Hamburg das kleine Mädchen Yagmur verstorben ist, nachdem es zu seiner Familie zurückkam, wurde lediglich ein paar Tage berichtet. Dann hatte Michael Schumacher seinen Skiunfall, und das war Thema über Monate. Wenn wir aber vor der realen Gewalt die Augen verschließen, schützen wir nur einen: den Täter.

Alle Eltern kennen Situationen, in denen man vor Geschrei und Schlafmangel kurz vor dem Durchdrehen steht. Doch nur dir wenigsten tun ihren Kindern wirklich etwas an.
Saskia: Michael Tsokos, mein Chef in der Rechtsmedizin, sagt immer: Es ist normal, dass Sie Ihr Kind an die Wand klatschen wollen. Es ist nicht normal, wenn Sie es tun. Ein Kind zu schütteln ist ein Ohnmachtsversagen, eine Überforderung. Wenn Sie auf Ihrem Kind hingegen Zigarettenkippen ausdrücken oder es in die Waschmaschine stecken, sind wir an einem anderen Punkt. Da werden Sie sicher psychopathologische Strukturen sehen. Niemand füllt im Affekt eine Wanne mit kochendem Wasser und setzt sein Kind hinein.

Ist es fahrlässig, dass jeder Kinder bekommen darf?
Saskia: Ich denke schon, dass jeder dazu das Recht haben sollte. Im Einzelfall muss man sicher fragen, ob Menschen in der Lage sind, sich adäquat um ihren Nachwuchs zu kümmern. Da muss der Staat mehr in die Prävention gehen.

In Ihrem neuen, im September erscheinenden Buch „Tränenbringer“, Herr Etzold, wird ein Kind in die Mikrowelle gesteckt. Ist das die Fortsetzung der Arbeit Ihrer Frau mit literarischen Mitteln?
Veit: Von der Szene spricht allerdings nur ein Ermittler, sie wird nicht detailliert beschrieben. Warum thematisieren wir so etwas? Ich würde behaupten, jeder Thrillerautor ist auch ein verkappter Pädagoge. Und jeder Thriller ist eine Anklageschrift: Schaut, wie böse die Welt ist, da müsst ihr was gegen tun.

Wie arbeiten Sie ganz praktisch zusammen?
Veit: Meist habe ich eine Grundidee für ein Buch und erzähle meiner Frau davon, die Ideen beisteuert und mir mit Fachwissen aushilft, wenn ich zum Beispiel wissen will, welche Farbe eine Leiche nach so und so vielen Tagen in der Badewanne hat.

Greifen Sie ein, Frau Etzold, wenn die Fantasie mit Ihrem Mann durchgeht?
Saskia: Das passiert fast bei jedem Manuskript. Manchmal zanken wir uns einen halben Tag. Veit wollte zum Beispiel, dass „Der Totenzeichner“ Stücke aus den Herzen seiner Opfer beißt. Ich habe ihm erklärt, dass er aus so einem starken Muskel mit seinen bloßen Zähnen gar nichts herausreißen könnte, weil ihm dazu das Raubtiergebiss fehlt. Der Mensch musste genau deshalb das Feuer entdecken, weil er die Reißzähne nicht hatte.

Veit: Gelegentlich muss man aber übertreiben. Die Leute erwarten eben, dass der Kiefer einer Leiche beim Öffnen knirscht, auch wenn er das in Wirklichkeit nicht tut. So wie Tote in Horrorfilmen immer weißlich-grau sind. Echte Leichen haben eine gummiartig-orange Farbe. Gerät die Fiktion zu real, wird sie für das Publikum wieder unglaubwürdig.

Sie diskutieren also wirklich beim Morgenkaffee über abgetrennte Gliedmaßen und Wasserleichen?
Veit: Saskia trinkt keinen Kaffee, was ich nicht verstehe. Wir diskutieren gern beim Abendessen. Die meisten Kellner in unseren Stammlokalen haben sich inzwischen daran gewöhnt.

Wiegt die Seele wirklich 21 Gramm?

Heute arbeiten Sie, Frau Etzold, fast nur noch mit Lebenden. War der Wechsel vom Sektionssaal zur Gewaltschutzambulanz ein Schritt weg vom Tod?
Saskia: So kann man das sehen. In beiden Bereichen gibt es aber auch lustige Momente, das wird oft vergessen. Neulich ist mir zum Beispiel ein Mädchen vorgestellt worden, von dem hieß es, die Mutter habe es verbrüht. Es war wirklich feuerrot. Aber es ist nicht misshandelt worden. Die Mutter war vom Typ „keine Chemie auf mein Kind“ und hatte es gegen Sonnenbrand mit frischer Aloe Vera eingerieben. Leider reagierte die Tochter darauf hochgradig allergisch.

Kennengelernt haben Sie sich bei einer Sektion. Für Sie, Herr Etzold, war es die erste und eine dementsprechend mulmige Erfahrung. Sie erzählten aber mal, Saskia habe das ganz charmant gemacht. Wie bitte sägt man charmant einen Schädel auf?
Veit: Indem man sich dabei freundlich unterhält. Ich habe damals mit Saskias Chef Michael Tsokos an einem Buch gearbeitet. Wir haben sehr nett über Schuhe und Handtaschen geplaudert, was dazu führte, dass sie zuerst dachte, ich sei schwul.

Tsokos schrieb mal: Die Toten lehren die Lebenden. Was denn?
Saskia: Bei der Sektion eines Kindes beispielsweise stellen Sie fest, wie biegsam der Schädelknochen noch ist. Wenn Sie später hören, ein Kind sei mit dem Kopf gegen die Wickelkommode gestoßen und das soll jetzt den großen Schädelbruch erklären, wissen Sie einfach: Das kann nicht sein.

Wie läuft so eine Sektion ab?
Saskia: Es ist gesetzlich vorgeschrieben, immer alle drei Körperhöhlen zu öffnen: den Schädel, den Brustkorb, den Bauch. In Berlin machen wir einen Schnitt vom Kinn runter bis zum Schambein. Dann seziert man alle Organe einzeln nacheinander. Bei Tötungsdelikten auch die Arme, die Beine, den Rücken. Falls jemand eine Lungenembolie hatte, schaut man, wo das ursprüngliche Blutgerinnsel herkam. Da sezieren Sie also auch die Beine, obwohl es sich um einen natürlichen Tod handelt. Denn von dort stammen meistens die Gerinnsel. Am Ende diktieren Sie das Sektionsgutachten.

Hat die Beschäftigung mit dem Tod Sie religiös gemacht?
Saskia: Ich bin nicht sehr religiös. Ich glaube trotzdem, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Leiche, die auf dem Tisch liegt, und dem, was die Person vorher gewesen ist. In dem Moment, in dem Menschen sterben, weicht die Farbe aus ihnen, weil keine Durchblutung mehr stattfindet. Religiöse Menschen können das als den Moment interpretieren, in dem die Seele den Körper verlässt.

Wiegt die Seele wirklich 21 Gramm? So viel verliert der Mensch angeblich im Moment seines Todes.
Saskia: So etwas kann man gar nicht wirklich wissenschaftlich erfassen. Bei vielen, die sterben, erschlafft die Blasen- und Enddarmmuskulatur, sie nässen und koten sich ein, da haben sie bereits Gewichtsverlust. Das mit den 21 Gramm ist ein Mythos, so wie der, dass bei Toten noch die Haare und Nägel wachsen. Das wirkt nur so, weil der Körper austrocknet.

Ihr Lieblingsorgan?
Saskia: Wenn Sie sich mal ein Herz angucken, wie die kleinen Papillarmuskeln ganz dünn in die Sehnenfäden übergehen, die Klappenfunktion: wunderschön.

Essen Sie deshalb kein Fleisch mehr?
Saskia: Ich bin Vegetarierin, seit ich mit 15 mein Schulpraktikum in der Pathologie gemacht habe. Dort haben wir tagsüber die abgenommenen Brüste aus der Klinik auf die Ausdehnung des Krebses untersucht. An einem Abend gehe ich essen, bestelle ein hausgemachtes Putensauerfleisch, und dann kommt da diese Fleischkuppel mit einer halben Cocktailtomate oben drauf. Danach war das Thema durch. Fleisch ist Arbeit, keine Nahrung.

Zur Startseite