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Luisa Möckel liebt ihre Tatoos und kann sie gar nicht zählen.

© Thilo Rückeis

Neue Tattoo-Mode: Warum sich Menschen ihr Gesicht tätowieren lassen

Für Luisa Möckel gehört das Summen der Tattoo-Nadel zum Leben. Nun trägt sie das buddhistische Mantra der Erleuchtung – mitten im Gesicht. Eine Sitzung mit Folgen.

Von Ronja Ringelstein

Sie kennt den Schmerz gut, dieses Stechen. Das sonore Summen von der Maschine bedeutet, dass sie gleich die schnelle kleine präzise Nadel in der Haut spüren wird. Für Luisa Möckel, 31 Jahre, ist der Schmerz ein alter Bekannter. Sie trifft ihn häufig – im Tattoostudio.

Sssss ... Der erste Stich geht in die Haut am Kiefer. Rechte Seite. Sie hat schöne Haut. Kauert seitwärts auf der Liege. Ihre langen Beine, die eine Netzstrumpfhose bedeckt, hat sie zum Bauch gezogen. Der erste Stich ist schnell vorbei, doch tausende folgen.

Es ist vielleicht ihr 25. Tattoo? Ach, immer würden alle nach der Anzahl fragen. „Aber die ist nicht wichtig“, sagt Luisa Möckel. Sie kann sie nicht zählen. Manchmal geht ein Tattoo auf ihrem Körper in ein anderes über. An ihrem linken Unterarm sind die Rose, die mexikanische Totenmaske und der Totenschädel auf der Hand kaum mehr exakt auseinanderzuhalten. Andere sind noch nicht fertig.

Wie das auf ihrem Oberschenkel, das große. „BDSM-Szene“, erklärt sie. Es zeigt bislang nur das Gesicht einer Frau mit einem Knebel. Eine Erweiterung hat Luisa Möckel schon geplant. Das soll der Papa aber nicht sehen, hat sie gesagt, als sie noch draußen vor dem Tattoostudio „Autark Digital Tattooing“ in Charlottenburg stand. Dann hat sie ein bisschen verschmitzt gegrinst, denn für den Papa werde sie ja immer die kleine Prinzessin sein. Das Tattoo, das sich Luisa Möckel heute von Tätowierer Carlos stechen lässt, wird der Papa sehen. Es wird mitten in ihrem Gesicht sein, sich vom Kiefer hoch bis zur Stirn schlängeln.

Das Tattoo ist heute Teil des Mainstreams geworden

Jeder Achte in Deutschland ist tätowiert, das besagt eine Allensbach-Studie aus dem Jahr 2014. Während Tattoos vielleicht früher Erkennungszeichen für die Angehörigkeit einer Subkultur waren, deren Anhänger nichts dagegen hatten, aus der Gesellschaft ausgestoßen zu werden, ist das Tattoo heute selbst Teil des Mainstreams geworden. Wer wirklich schocken will, kann eigentlich nur eins tun: sich Hals, Hände und Gesicht tätowieren.

Und das tun immer mehr, wie Del Keens, Chef der Berliner Agentur Misfit Models, beobachtet hat. „Es nimmt zu“, sagt er. „Langsam, aber stetig.“ Vor allem junge Frauen ließen sich Motive ins Gesicht stechen, wobei deren traditionelle Bedeutung kaum eine Rolle spiele. Welcher Hipster wisse heute, dass eine tätowierte Träne auf der Wange ursprünglich ein Zeichen dafür war, dass man einen Menschen umgebracht hatte?

Es gehört zu ihrer Geschichte

An Luisa Möckels Hals prangt ein Anker mit einem „A“ in der Mitte. Den hat sie sich 2011 mit einer Freundin stechen lassen. Die Freundin, Anfangsbuchstabe A, bekam ein „L“. Freundinnen sind A und L heute nicht mehr. Kein Groll, es sei eben auseinandergegangen, erzählt Luisa Möckel. Deshalb bereue sie auch das Tattoo nicht. Es gehöre zu ihrer Geschichte. „Die meisten Tattoos sind nicht monatelang überdacht, eher so spontan aus dem Leben heraus“, sagt sie. Und keines würde sie wieder loswerden wollen.

Die Stirn geboten. Bevor es losgeht mit dem Tätowieren wird das Schriftzeichen im Gesicht vorgemalt.
Die Stirn geboten. Bevor es losgeht mit dem Tätowieren wird das Schriftzeichen im Gesicht vorgemalt.

© Thilo Rückeis

Auch ein Gesichtstattoo hat Möckel schon, aber „nur ein kleines“, und es soll sich einfügen in das, das sie sich heute machen lassen will. Ihre schwarzblau gefärbten, ohnehin kurzen Haare, musste Möckel eben an der Schläfe wegrasieren. Für ein buddhistisches Mantra, das „Om Mani Padme Hum“. Es ist das Mantra zur Erleuchtung, stammt von den Bodhisattva des Mitgefühls. „Schickst du mir noch mal die genaue Bedeutung?“, hat Luisa Carlos kurz vor der Session gefragt. Da saß sie mit den vorgemalten Schriftzeichen im Gesicht auf dem Hocker in dem Studio.

"Es geht um Liebe, Glück und Familie"

Im Charlottenburger Studio „Autark Digital Tattooing“ verhilft Carlos seiner 31-jährigen Kundin zu einem neuen, permanenten Kunstwerk.
Im Charlottenburger Studio „Autark Digital Tattooing“ verhilft Carlos seiner 31-jährigen Kundin zu einem neuen, permanenten Kunstwerk.

© Thilo Rückeis

Durch ein Deckenfenster scheint die Sonne. Jeder der drei Tätowierer hat seinen eigenen Raum. Und wie in einem Jugendzimmer des Elternhauses, hat jeder seine Wände dekoriert. Allerdings mit eigenen Zeichnungen und Entwürfen vergangener Jobs. Bei Carlos finden sich auch Totenschädel, ein Skelett und ein dicker Bildband von Gustave Doré. Ein Hauch Düsternis in dem modernen Tattoostudio in Charlottenburg.

„Mach ich“, sagt Carlos. Luisa und er sprechen Englisch miteinander. Erst mal das Tattoo stechen lassen, danach die Bedeutung? „Ich weiß es schon ungefähr. Es ist ein Mantra für soziales Verhalten. Es geht um Liebe, Glück und Familie.“

In anderen Kulturkreisen haben Gesichtstattoos tiefgehende Bedeutung. Bei den Ureinwohnern Neuseelands ist der Kopf der heiligste Teil des Körpers, das beliebteste Maori-Tattoo das Gesichtstattoo. Es zeigt die Stellung des Trägers innerhalb der Gesellschaft an, als ein Zeugnis von Macht. In der westlichen Welt lassen sich Popsänger wie Justin Bieber auch mal ein Minikreuz unters Auge stechen. Die verstorbene Sängerin Amy Winehouse trug eine Träne im Gesicht, mutmaßlich zur Erinnerung an ihren im Gefängnis sitzenden Exmann.

Religiös ist Luisa Möckel nicht. Sie glaubt daran, dass ihr Tattoo Glück bringen werde und dass man das, was man gebe, auch zurückbekomme. „Von Menschen wie mir erwartet das keiner, aber ich bin die Erste, die in der U-Bahn jemandem den Platz anbietet.“

In Berlin wurde sie für ihre Tattoos nie angefeindet

In ihrer Heimatstadt Chemnitz wollten sich die alten Damen beim Bäcker, wo Luisa Möckel hinter der Theke stand, nicht von ihr bedienen lassen. Nicht mal mit Handschuhen. Das erzählt Möckel, ein paar Tage vor dem Termin im Studio. Sie hat ein Café in der Nähe vom Rosenthaler Platz für ein erstes Treffen ausgewählt. „Meine Gegend“, sagt sie. Jetzt ist sie Berlinerin, seit etwa eineinhalb Jahren. In Berlin wurde sie für ihre Tattoos nie angefeindet, eher bewundert.

Neben ihrem Job als Kassiererin in einem Bekleidungsgeschäft arbeitet sie als Fetisch-Model. Lief bei der „Alternative Fashion Week“ im März über den Laufsteg. In Ganzkörper-Latex.

Mit dem Tätowieren wird sie niemals fertig sein. Da ist sie sicher. Ob das ein Fluch oder ein Segen ist? Sie zuckt mit den Schultern. „Mein ganzer Körper ist immer eine Baustelle.“ Wenn sie sich selbst beschreibt, sagt Möckel, sie sei „außergewöhnlich, bunt, verrückt“. Das soll die Welt auf den ersten Blick sehen.

Sie wollen etwas Besonderes bleiben

Tattoos auf Fingern, Hals und Gesicht nennt Oliver Bidlo, Soziologe aus Essen und Tattoo-Forscher, „eine Gegenbewegung in der Gegenbewegung“. Mit dem Aufkommen des Tattoos in der breiteren Bevölkerungsschicht hätten sich die Leute, für die Tätowiertsein eine Lebensform ist, etwas Krasseres suchen müssen, auffälligere Stellen, sagt Bidlo, damit sie trotz aller Bewegung hin zum Mainstream etwas Besonderes blieben. „So können sie nicht mehr ohne Weiteres bei einer Bank, Versicherung oder Unternehmensberatung arbeiten. Da beschneidet man sich bestimmter gesellschaftlicher Felder, und zwar ganz bewusst.“

Luisa Möckel macht sich keine Sorgen. Mit Menschen, die das nicht akzeptieren, will sie eh nichts zu tun haben. Und in einer Bank wollte sie in diesem Leben auch nicht mehr arbeiten.

"Ich bin ein Magnet für schlimme Sachen"

Luisa ist vom Ergebnis überzeugt: „Wunderschön.“
Luisa ist vom Ergebnis überzeugt: „Wunderschön.“

© Thilo Rückeis

Sssss ... Die Maschine surrt jetzt sehr leise, Carlos tupft mit der Nadel in Möckels Haut, spreizt die Flächen mit zwei Fingern der linken Hand, schmiert zwischendurch Melkfett an die Stelle, die er gleich tätowiert. Luisa Möckel liegt in Embryonalstellung auf der Liege in Carlos’ Zimmer, die Augen geschlossen, ihre Wimpern zucken. Sie verschränkt die Arme vor der Brust. Am Kiefer tut es besonders weh. Die Augenbrauen ziehen sich zusammen. „Ich spüre den Nerv. Ich muss die ganze Zeit grinsen“, sagt Luisa Möckel, während Carlos kurz innehält. Er fragt, ob sie sehen will, wie es inzwischen aussieht. „Nein, ist o. k. Ich möchte nicht so viele Pausen. Ich vertraue dir.“

Dieses Tattoo sei das größte, das er je jemandem ins Gesicht gestochen habe, erzählt Carlos. Er ist 41, kommt aus Madrid. Seit zwei Jahren arbeitet er für Florian, den Eigentümer vom Autark-Studio. Auch die beiden haben festgestellt, dass immer mehr Menschen sich sichtbare Stellen tätowieren lassen. „Manchmal sieht man Jungs, beide Arme und den Hals voll tätowiert, dann ziehen die im Schwimmbad das T-Shirt aus, und da ist dann nichts“, sagt Florian. Albern findet er das.

Luisa Möckel hat sich mit 14 das erste stechen lassen, damals in Chemnitz. Ein Freund ritzte ihr mit einem Fineliner und einer Nadel eine Rose in die Haut. Ein halbes Jahr konnte sie es immerhin vor den Eltern verstecken, dann gab’s Krach. Und mit 20 erst das nächste Tattoo. Seitdem jedes Jahr mehrere. Luisa Möckel sagt, damit verarbeite sie die Dinge, die ihr passieren. Trennungen zum Beispiel. Sie sei ein Magnet für schlimme Sachen. Die möchte sie aber nicht in der Zeitung lesen. Auf ihrem Bauch steht „Never give up“.

Der Soziologe Bidlo drückt das so aus: „Das Tattoo ist ein Verweis, den ich selbst bestimmen kann, indem ich es so gestalte, wie ich will. Ich erlange dadurch die Deutungshoheit zurück über das, was mir passiert ist.“

Sie leidet, kneift ihre Lippen zusammen und stöhnt

Luisa Möckel hat das schon immer so gemacht. Ihr rechter Unterarm ist kaum tätowiert, dafür sind dort viele kleine kreuz und quer liegende Narben zu sehen. Eine Zeit lang hat sie sich geritzt, wenn es ihr nicht gut ging. Heute nicht mehr. Aber auch das gehöre immer noch zu ihr, sagt sie. Da soll nur ein feines Tattoo drüber, die Narben sollen bleiben. Den Rest ihres Körpers hat sie schon für weitere Bilder verplant. Der Rücken ist zwar noch frei, aber er ist als Nächstes dran. Ja, sie kenne den Schmerz gut, „aber ich mag ihn nicht. Er gehört halt dazu.“

Ssssss ... Es ist nicht mehr viel. Carlos ist bei der Stirn angekommen. Luisa fühlt sich benebelt. „Krass, ich kann den Knochen spüren!“, sagt Carlos. Man sieht, dass sie leidet, sie kneift ihre Lippen zusammen, stöhnt. Dann ist Carlos fertig. Die Augen gehen auf, sie legt sich auf den Rücken und fragt sofort nach einem Spiegel. „Wunderschön“, sagt sie zu ihrem Spiegelbild.

"Wirke ich echt so krass?"

Vier Wochen später erzählt Möckel am Telefon, dass sie Besuch von ihrer Mutter hatte. Zu dem Tattoo im Gesicht ihrer Tochter habe sie gar nichts gesagt. „Meiner Mama ist das total egal. Die sieht nur ihr Kind.“ Dem Papa hat sie es aber noch nicht gezeigt.

Fährt man mit Luisa Möckel U-Bahn, kann man Leute beobachten, die sie beobachten. Verstohlene Blicke. Wie von den zwei Jungen, vielleicht 15 Jahre alt. Sie gucken, erst nur ab und zu. Dann starren sie regelrecht. Der eine flüstert etwas zum anderen. „Die denken, ich merke das nicht, aber ich merke das“, sagt sie leise. Es macht sie stolz. Wenn jemand sich extra von ihr wegsetzt, wie das Pärchen neulich – sie mit einem Kopftuch, er mit dunklen Haaren –, macht sie das trotzig.

Das war im Wedding, in der U 8. „Wirke ich echt so krass?“, fragt sich Möckel dann. Das kann sie gar nicht glauben. Sie habe schon wieder vergessen, dass sie ein Gesichtstattoo habe. Das nächste kommt auf den Hals.

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