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Napoleon Bonaparte.

© Mauritius

Napoleon Bonaparte: Die Flucht von Elba

Winter 1815, eine Insel im Mittelmeer, Napoleon sitzt in der Verbannung fest. Heimlich bereitet er seine Rückkehr vor. Seine Schiffe erreichen die Côte d’Azur, der Siegeszug endet in Waterloo.

Von Andreas Austilat

Sir Neil Campbell ahnt, dass etwas nicht stimmt. Soeben ist der britische Kommissar an Bord der „HMS Undaunted“ in den Hafen von Portoferraio eingelaufen, nun blafft er die Garde an: „Wo ist der Kaiser?“ – „Abgereist“, antwortet der Soldat nüchtern. „Und seine Truppe?“ – „Auch weg.“

Für Campbell ist das fatal. Schließlich war es seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Napoleon Bonaparte für immer auf der Insel bleibt, nie wieder nach Frankreich zurückkehrt.  Campbell ist zwei Tage fort gewesen, nur kurz nach Livorno ans italienische Festland gesegelt. Zu Napoleon Bonaparte hat der 39-Jährige in den vergangenen Monaten, so dachte er jedenfalls, eine Freundschaft aufgebaut. Der Mann, den ganz Europa für einen Despoten hält, hatte ihm sogar eine gute Reise gewünscht. Er freue sich auf ein Wiedersehen, hatte der Kaiser behauptet. Jetzt, am 28. Februar 1815, ist Napoleon weg.

Wie konnte das überhaupt passieren? Gut, Campbell war nicht ständig auf der Insel präsent. Genau genommen ließ er sich nur alle sechs Wochen für wenige Tage blicken. Auch die Spione, die nach Napoleons Kapitulation im März 1814 und seiner Verbannung nach Elba auf der kleinen Insel postiert worden waren, bekamen die Flucht nicht mit. Eine grobe Fahrlässigkeit, die noch Zehntausenden das Leben kosten wird.

Kein ganzes Jahr hat Napoleon mit seinem Fluchtversuch gewartet. Wenn es wirklich stimmt, denkt Campbell, dass der Kaiser nach Frankreich segelt, dann müssen Paris und der Kongress in Wien davon erfahren. Bevor Napoleon neuen Schaden anrichtet.

Gerade 12 000 Menschen leben zu dieser Zeit auf Elba. Bei seiner Ankunft hat Napoleon fast nichts vorgefunden, musste seine Residenz erst selbst bauen lassen. Die Villa San Martino ist eher Bauernhof als Palast für einen Kaiser. Nicht einmal seine Ehefrau Marie-Louise, die Tochter von Kaiser Franz von Österreich, und seinen Sohn durfte er mitnehmen. Die Alliierten gewährten ihm allerdings eine Truppe von 2000 Soldaten.

Anfangs ließ er Straßen und Krankenhäuser bauen, Maulbeerbäume pflanzen, Steuern eintreiben. Er reformierte auch die Verwaltung. Dann blieben ihm nur noch Spazierfahrten mit einer seiner 27 Kutschen, Treffen mit seiner Mätresse, Gräfin Maria Walewska, und die Nöte der unzähligen streunenden Hunde der Insel. Napoleon leidet an Hautausschlag und Erbrechen. Und er will weg. Er will zurück auf den Thron.

Seine Feldzüge und Steuererhebungen waren nach der Niederlage von Leipzig im Oktober 1813 zu viel für die kriegsmüden Franzosen gewesen. Auf Elba, dessen Souverän er offiziell ist, hält er heimlich Kontakt zur Heimat. Der frühere Eroberer gibt sich geläutert, ist charmant. So fällt nicht auf, dass ihn seine Agenten nachts in der Bibliothek aufsuchen. Der 44-Jährige weiß: Die Macht des Bourbonenkönigs Ludwig XVIII., der nach Napoleons Sturz durch die Alliierten und der Restauration der Monarchie wieder regieren konnte, bröckelt zunehmend. Hunderte frustrierte Bittbriefe von Offizieren erreichen Napoleon täglich. Die Soldaten wollen bei ihm anheuern. Trotzdem muss er vorsichtig sein. Ihm ist klar, nicht bei allen Franzosen ist er derart beliebt. Als die Briten ihn im April 1814 ins Exil begleiteten, glich die Strecke bis Lyon für Napoleon einem Triumphzug. Im Süden war man weniger freundlich. In Orange wurde er mit Steinen beworfen. In Avignon versuchte ein wütender Mob, ihn zu lynchen.

Die Österreicher wollen Elba einnehmen

Napoleon Bonaparte.
Napoleon Bonaparte.

© Mauritius

Seit Oktober ist Napoleon gewarnt. In der Zeitung „Journal des débats“ hat er gelesen, dass die Österreicher Elba einnehmen und den Verbannten auf ein abgelegenes Eiland im Südatlantik schaffen wollen. Ein anderes Gerücht besagt, die Bourbonen wollten ihn töten. Außerdem hat Napoleon Schulden. Elba wirft nicht genügend Geld ab, und Ludwig XVIII. weigert sich, die vereinbarte jährliche Apanage von zwei Millionen Franc zu zahlen. Immer wieder hatte Napoleon Briefe mit der Forderung nach Zahlung der Apanage nach Wien geschickt, erfolglos. Man will ihn ausbluten lassen. Später wird er den Alliierten Vertragsbruch vorwerfen, es ist seine Rechtfertigung für die Flucht.

Die Vorbereitungen zur Abreise, die Napoleon später detailliert in seinen Memoiren beschreiben wird, beginnen am 14. Februar. Seinen Generälen sagt er, dass er mit seiner Armee in Frankreich anlanden möchte. Nicht einmal die Kaiserinmutter und seine Schwester Pauline werden eingeweiht. Napoleon weiß nicht, wem er vertrauen kann.

Als Erstes braucht er Schiffe. Dazu lässt er sein Privatschiff, die Brigantine „L’Inconstant“, reparieren und nachts im Stil eines Handelsboots anmalen. Zudem hat er zwei Schoner und eine Bombarde sowie drei kleine Frachter ankaufen lassen.

In den Kellern des Hafenviertels werden heimlich Lebensmittel für drei Wochen gehortet. Napoleon kann sie nicht einfach an Bord bringen lassen, in der kleinen Marina, in der nur zwei Dutzend Schiffe Platz finden, würde jede größere Aktion auffallen. Deshalb lässt er Reis, gesalzenes Fleisch, Gebäck, Schnaps und Wasser in Weinfässer füllen. Die sind für die Hafenarbeiter ein gewohnter Anblick, Wein ist Exportgut des Fürstentums Elba.

160 Seemeilen liegen zwischen Insel und Côte d'Azur. Das Gebiet gilt als eines der meistbefahrenen Gewässer des Mittelmeers. Erst wenn die Briten wieder unterwegs sind und das Wetter für ein Übersetzen innerhalb von 24 Stunden passt, kann es losgehen.

Am 26. Februar, einem Sonntag, ist es so weit. Campbell sticht morgens Richtung Livorno in See. Napoleons Offiziere geben grünes Licht: kein Wintersturm droht. Der Kaiser steht auf seiner Terrasse, beobachtet durch ein Fernrohr das Ablegen der Briten.

Als die Undaunted gegen 13 Uhr nur noch ein weißer Punkt am Horizont ist, gibt Napoleon den Embargo-Befehl: Damit niemand Alarm schlagen kann, darf ab sofort kein Boot mehr die Insel verlassen. Innerhalb von zwei Stunden werden hastig 34 Pferde, vier Geschütze und der gesamte Proviant geladen. Um fünf Uhr nachmittags wird die Truppe alarmiert, Napoleon befiehlt: „Halbe Stunde Zeit zum Tornisterpacken!“ Die 1520 Soldaten wissen nicht, wo es hingehen soll.

Um die Spione zu täuschen, verbringt der Kaiser die letzten Stunden mit seinen Höflingen auf einem Faschingstanz im Theater dei Vigilanti im Stadtzentrum. Gegen 9 Uhr abends geht er mit seinen Generälen, darunter der 59-jährige vollkommen taube Jean Boinod, an Bord der L’Inconstant. Kapitän Jean François Chautard, der die Brigantine des Kaisers befehligt, gibt das Startsignal. Ein Schuss aus einem der Kanonenrohre. Getrennt verlassen die Schiffe den Hafen. Einzeln werden sie der Royal Navy weniger auffallen, hofft Napoleon.

Als Napoleon am nächsten Morgen in seiner Kabine aufwacht und an Deck tritt, erschrickt er: kein Wind! Die weiße Flagge mit den goldenen Bienen hängt schlaff am Mast. In der ersten Nacht sei man nur sechs Meilen vorangekommen, stammelt Kapitän Chautard. Hinter Kap St. André sei der Wind dann wie von Geisterhand abgeflaut.

Ein weiteres Problem zeichnet sich am Horizont ab: Vor der nahen Küste Korsikas kreuzen zwei schwer bewaffnete französische Fregatten. Gegen die hätte die L’Inconstant in einem Gefecht keine Chance. Die Mannschaft drängt Napoleon zum Umkehren, der bleibt jedoch stur. Die hektischen Szenen an Bord wird Alexandre Dumas detailliert in seiner Napoleon-Biografie festhalten.

Schafft er es bis nach Paris?

Napoleon Bonaparte.
Napoleon Bonaparte.

© Mauritius

Gegen 11 Uhr blähen sich dann endlich die großen weißen Hauptsegel im Wind auf. Die Crew ist erleichtert. In den nächsten Stunden fährt die L’Inconstant zügig weiter gen Westen. In der Dämmerung schlägt plötzlich der Ausguck Alarm: In fünf Meilen Entfernung steuere ein Schiff mit großer Geschwindigkeit direkt auf die Brigantine zu. Napoleon befiehlt, im Schutze der Dunkelheit zu entkommen. Sollte ein Zusammenstoß unvermeidlich sein, wolle er kämpfen und den feindlichen Kreuzer entern. Er befiehlt, die Luken für die Kanonen zu öffnen. Doch als das andere Schiff in Reichweite des Sprachrohrs ist, tauschen die Kapitäne nur Grüße aus. Beide Schiffe setzen ihre Reise fort.

Am 1. März geht Napoleon schließlich zwischen Cannes und Antibes in der einsamen Bucht von Golfe-Juan an Land. Sämtliche Schiffe haben die Fahrt unbeschadet überstanden. In einem Olivenhain hinter den Dünen lässt der Kaiser Zelte aufbauen und Biwakfeuer entzünden. Als Nächstes will er Paris erobern, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern. Er schickt 25 Mann nach Antibes, um die dortige Garnison zum Überlaufen zu bewegen. Doch seine Gesandten werden festgenommen. Ein Rückschlag. Zu Fuß marschiert Napoleons Kolonne Richtung Nordwesten. In Grasse an der Gabelung Avignon-Grenoble gibt er Befehl, den beschwerlichen Weg über die Seealpen nach Grenoble zu nehmen. Dort will er Truppen und Material übernehmen und weiter über Lyon und Auxerre nach Paris ziehen. Spätestens jetzt begreift auch der letzte Kadett, warum der Kaiser noch vor zwei Wochen neue Stiefel verteilt hatte. Der Trupp schleppt sich mühsam über holprige Straßen und zerklüftete Pfade. Bis zum 7. März gibt es keinen Feindkontakt. Erst im Bergdorf Laffrey, 25 Kilometer südlich von Grenoble, versperrt Kavallerie den Weg. Sie soll den Kaiser verhaften, im Eisenkäfig nach Paris schaffen. Napoleon eilt mit der Tricolore, die er seit der Landung wieder hisst, allein auf Pistolenschussweite heran. „Feuer“, befiehlt der überforderte Offizier hastig. Nichts passiert. Die verunsicherten Soldaten zögern. „Soldaten, erkennt ihr mich“, fragt Napoleon mit fester Stimme, „tötet euren Kaiser; ihr könnt es!“ Die Soldaten werfen ihre Gewehre weg und schließen sich Napoleon an. Am Abend zieht der Trupp kampflos in Grenoble ein. Kommandant Charles La Bédoyère, der schon 1806 in Jena für Napoleon gekämpft hatte, warnt vor neuem Hochmut: „Kein Ehrgeiz mehr, wir wollen frei sein. Sie müssen den Eroberungen abschwören.“ Von da an fallen Napoleon alle Städte auf dem Weg ohne Gegenwehr in die Hände, am 20. März auch die Hauptstadt.

Es beginnt die Herrschaft der „Hundert Tage“. Schnell werden alle Spuren der Bourbonen beseitigt. Erst neun Tage nach dem Ablegen in Elba erfährt Wien von der Flucht. „Er will also den Abenteurer spielen“, poltert Kaiser Franz. Die Alliierten reagieren panisch. Sofort werden Truppen mobilisiert. Jetzt rächt sich, dass sie Napoleon nicht schon 1814 endgültig ausgeschaltet haben. Der polnische Historiker Adam Zamoyski macht vor allem Zar Alexander für die Flucht Napoleons verantwortlich. Dieser habe Elba schließlich selbst ausgesucht und Napoleon sogar eine Truppe versprochen. Der Franzose Thierry Lentz urteilt 2014 in seiner Analyse des Wiener Kongresses: „In Wien gab es keinen, der hellsichtig genug war zu erkennen, dass eine kurzsichtige Politik diesen verzweifelten Mann zu einer fatalen Reaktion treiben würde.“ Die Großmächte hätten zwar geahnt, wie gefährlich Napoleon für sie werden könne, hätten sich aber nicht zu einem gemeinsamen, entschiedenen Durchgreifen durchringen können.

Die Flucht Napoleons hat aber auch ihr Gutes. Endlich bemühen sich die Großmächte auf dem Wiener Kongress tatkräftig um eine Friedensordnung für ein neues Europa nach Napoleon.

Auf das Hurra-Gefühl der Landung folgt für Napoleon der ernüchternde Alltag der Politik. Die Alliierten sind entschlossen, ihn endgültig zu vernichten. Verzweifelt versucht Napoleon, eine schlagkräftige Armee aufzustellen. Am 18. Juni 1815 stellt er sich beim Dörfchen Waterloo in Belgien zur Entscheidungsschlacht. Nach der schweren Niederlage – mehr als 30 000 Franzosen werden getötet oder verwundet – wird Napoleon kein Pardon mehr gegeben. So hoffnungsvoll, wie er auf Elba die L’Inconstant bestiegen hatte, so geschlagen geht er jetzt in Rochefort an Bord der „HMS Bellerophon“. Die Briten deportieren ihn diesmal in den Südatlantik, auf das 9000 Kilometer entfernte Eiland St. Helena.

Colonel Sir Neil Campbell wird nicht mehr mit der Bewachung betraut. In Longwood House passt jetzt Gouverneur Hudson Lowe auf. Der verhindert noch sechs Jahre lang mit allen Schikanen, wie Maschendrahtzäunen, nächtlichen Wachposten und peniblen Regeln, den Ausbruch seines alternden Gefangenen.

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