zum Hauptinhalt
Am Samstag wurde Helmut Kohl in Speyer beigesetzt.

© imago/Revierfoto

Moritz Rinke sammelt Erinnerungen an die Vergangenheit: Meine 16 Jahre mit Helmut Kohl

Fast die Hälfte meines Lebens regierte ein Kanzler, der uns zur Herrschaft des Gewöhnlichen erziehen wollte. Warum mich sein Tod trotzdem traurig stimmt.

Offen gestanden überraschte mich meine Trauer. Ich schrieb sofort, als der Tod von Helmut Kohl gemeldet worden war, eine SMS an einen Freund. Ich schrieb nur: „Kohl!“ Er schrieb sofort zurück, seine Nachricht war noch kürzer. Und eindringlicher: „!“

Ich habe lange über dieses Ausrufezeichen nachgedacht. Der Freund und ich, wir sind beide unter Kohl herangewachsen. Fast die Hälfte unseres Lebens regierte Kohl. Mitten in der Pubertät kam er; als ich bereits einen Beruf hatte und längst in Berlin wohnte, ging er.

Die Künstler wählten alle Grün, die Bauern wählten alle Kohl

Meine Eltern lebten in Niedersachsen auf dem Land, in Worpswede, in der Künstlerkolonie, die auch aus Bauern und Kühen bestand. Die Künstler wählten alle Grün und nahmen uns Kinder mit zu Vernissagen und Anti-Atomkraft-Demos. Die Bauern standen um vier Uhr auf, verließen ihre Kühe nie und wählten alle Helmut Kohl.

Einige von ihnen sahen auch aus wie Kohl. Immer, wenn ich die Milch bei Bauer Kohlmeier holen musste (er hieß wirklich so), hatte ich das Gefühl, man könnte „meier“ auch streichen, denn Kohlmeier war ein Koloss wie Kohl. Ein Machtmensch, der Kinder, Hunde, Hühner und Kühe mit spärlichen Worten herumkommandierte und von dem sich sogar die Katzen etwas sagen ließen. Und der sich, wenn er geschrien hatte, auf einen Stuhl setzte und sitzen blieb.

Ich hatte immer das Gefühl, dass mir Kohlmeier die Kanne Milch mit einem herablassenden Blick überreichte, der verriet, für wessen Geistes Kind er mich hielt. Dass mit seiner Milch linke Kräfte heranwuchsen, gefiel ihm nicht.

Bei uns zu Hause, keine 100 Meter von Kohlmeier entfernt, liebte man Willy Brandt, trug Haare wie Günter Netzer, schwärmte für den jungen Joschka Fischer oder Nina Hagen. Doch wenn ich bei Kohlmeiers auf den Hof kam, lief ich mitten in die geistig-moralische Wende. Wenn ich Kohlmeier gesagt hätte, dass ich, wie der Künstler Christo den Reichstag, seinen ganzen Kohlmeier-Hof verhüllen will, hätte er mich weggejagt und mir nie wieder Milch gegeben.

Müssten wir uns heute nicht nach solchen Politikern sehnen?

Wir wuchsen mit einem Kanzler auf, der die Künstler, mit Ausnahme von Organisten, vermutlich auch ohne Milch vom Hof gejagt hätte, genauso wie nun die Witwe des Kanzlers dessen Sohn vor dem Bungalow in Ludwigshafen-Oggersheim verjagte, obwohl er nur von seinem Vater Abschied nehmen wollte.

Wir wuchsen mit einem Kanzler auf, der uns, die wir ganz anders sozialisiert worden waren, zu einer selbstbewussten Spießigkeit, zu einer beruhigenden Herrschaft des Gewöhnlichen erziehen wollte. 16 Jahre lang! Mit einer Auffassung von Freiheit, Kunst und Lockerheit, die ihm vermutlich schon mit der Einführung des Privatfernsehens ausreichend erfüllt war. Über „Tutti Frutti“ hätte man bestimmt auch mit Bauer Kohlmeier reden können, wenn es nicht immer so spät gesendet worden wäre.

Vielleicht war das per SMS gesendete Ausrufezeichen des Freundes das Zeichen dafür, dass diese 16 Jahre nun endgültig beendet sind und wir getrost Abschied nehmen können von der Herrschaft des Gewöhnlichen.

Oder vielleicht bedeutete es auch, dass sich mit Kohls Tod in der Wertung etwas verschieben (oder verkitschen) würde. Dass wir uns, retrospektiv, nach dieser beruhigenden Herrschaft des Gewöhnlichen sehnen könnten! Jetzt, wo Politiker in Erscheinung treten, die wir lieber geistig und moralisch in jene beruhigende Spießigkeit gewendet sähen. Und ich erinnerte mich sogar, dass Bauer Kohlmeier eine kranke Kuh umarmte und ihr sagte, dass alles wieder gut werden würde.

Zur Startseite